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Kritische Glossen zu Max v. Boehns »Puppen und Puppenspiele«
Max von Boehn, Puppen und Puppenspiele. 2 Bde. München: F. Bruckmann (1929). 293 S., 292 S.
Max v. Boehns Bücher gehören zu denen, die man gern und glücklich als »Fundgruben« bezeichnet. Gewiß nicht in dem großen, originären Sinne, in dem die Werke eines Görres, Bastian oder selbst Borinski es sind, die zum Teil noch aus erster Hand schöpfen. Aber auch Boehn hat die Fülle des Materials, die manchmal willkürlich scheinende Verwirrung, die Vorliebe für das Entlegene und Unbekannte, die mit ihrem nackten stofflichen Reiz das Wesen des wissenschaftlichen Schmökers ausmacht, auf den nur Pedanten herabsehen werden. Kommt nun, wie in den weit verbreiteten Modenbüchern des Autors so auch in diesem, eine leuchtende Bilderfolge hinzu, so ist man schnell zum Lesen und Betrachten gestimmt. Und man wird sich diese Stimmung auch durch einige kritische Reflexionen nicht verderben lassen, die einem der Text, manchmal etwas aufdringlich, nahelegt.
Die erste betrifft die Darstellung und könnte die oberflächlichste scheinen. Und doch ist die Fragwürdigkeit großer Partien des Buches mit ihr schon hinlänglich gekennzeichnet. Diese monotone Folge von Hauptsätzen (man zählt Seiten, wo deren sieben, ja zehn hintereinander stehen) bildet sprachlich die Geste ab, mit der ein Fremdenführer eher als ein Besitzer die Kostbarkeiten einer Raritätenkammer, die für ihn selber nichts Geheimnisvolles mehr besitzen, dem Publikum vorweist. Gewiß ist die Durchdringung dieses ungeheuer ausgedehnten Stoffes nichts Leichtes; und die Flut schwillt hier um so bedrohlicher, als sich wissenschaftliche Auswahlprinzipien mit dem Charakter der Boehnschen Bücher nun einmal schwer vertragen. Dennoch aber (oder vielleicht eben darum; denn Vollständigkeit konnte hier nicht verlangt werden) verursacht es ein leises Mißbehagen in den Teilen, die von der Gegenwart handeln, die artistische kunstgewerbliche, an Namen gebundene Produktion so überhell auf Kosten der heute noch lebendigen volkstümlichen belichtet zu sehen. Nicht nur Käte Kruse, Lotte Pritzel (die sehr gut charakterisiert ist), Marion Kaulitz, sondern auch Zweifelhaftere fallen auf. Und wenn wir da zehn Nymphenburger Porzellanpuppen reproduziert sehen, so fragen wir, wo bleiben die außerordentlichen Tonpuppen, die aus keiner staatlichen Manufaktur, sondern aus den Händen der Bauern des Gouvernements Wjatka kommen? Statt der nichtsnutzigen lustigen Grammophonstoffpuppen sähen wir gern die aus Papier geklebten Schornsteinfeger, Marktweiber, Herrschaftskutscher, Bäcker und Schulmädchen, die man in Riga für wenige Santimes in Spielwarengeschäften und Papierläden kauft. Mehr als die hysterische Exotik der Relly Mailänder Puppen geht uns denn doch die unscheinbare der barcelonischen an, die statt des Herzens eine Zuckerkugel im Innern tragen.
Nah genug streift ja der Verfasser die Pole des Puppenerdballs: Liebe und Spiel. Aber steuerlos, ohne Kompaß und Erdkarte. Vom Geist des Spiels weiß er wenig, und was er von der andern Halbkugel heimgebracht hat, ist spärlich; unterm Kennwort »Puppenfetischismus« nachzulesen. Das große, das kanonische Geständnis, das heiße Lippen in die Puppenohren stammeln, hat er nie gehört. »Wenn ich dich liebe, was geht's dich an.« Wer will uns denn weismachen, es sei die Demut des Liebhabers, die das flüstert. Es ist der Wunsch, der tollgewordene Wunsch selber, und sein Wunschbild die Puppe. Oder muß es heißen: die Leiche? Denn daß nur dies: das zu Tod gehetzte Liebesbild selber für das Lieben ein Ziel macht, das gibt dem starren oder ausgeleierten Balg, dessen Blick nicht stumpf ist sondern gebrochen, den unerschöpflichen Magnetismus. Hoffmanns Olympia hat sie und Kubins Madame Lampenbogen; und ich kannte einen, der auf einen rauhen, unbemalten Rücken, wie ihn die Holzpuppen in Neapel haben, die Worte von Baudelaire schrieb: »Que m'importe que tu sois sage« »Was ist an Deinen Sitten mir gelegen.« und sie verschenkte, um seine Ruhe wiederzufinden. Der Eros, der da geschunden wieder in die Puppe zurückflattert, ist doch derselbe, der sich in den warmen Kinderhänden einst aus ihr löste, weswegen der schrullenhafteste Sammler und Liebhaber hier dem Kinde noch näher ist als der treuherzige Pädagog, der sich einfühlt. Denn Kind und Sammler, ja selbst Kind und Fetischist – sie stehen auf gleichem Boden, freilich auf verschiedenen Seiten des schroffen, zerrissenen Massivs sexueller Erfahrung.
Des Autors verbissene Neigung fürs Juste milieu, die dieser spannungsreichen Welt der Puppen nie ganz gerecht werden kann, verrät sich überdeutlich in der Diskussion, die er, ein wenig unvorsichtig, über Kleists Marionettenaufsatz eröffnet Er will da auf nichts geringeres hinaus als diese Seiten, die allen philosophischen Freunden der Marionetten (und welcher Marionettenfreund wäre nicht Philosoph) für den Schlüssel zu ihrer Erkenntnis galten, aus der Diskussion dieser Frage ein für allemal auszuschalten. Mit welchen Gründen? Kleist habe hier gleichnisweise, um vor der Zensur sie sicherzustellen, politische Gedankengänge entwickelt. Welche, erklärt Boehn nicht. Mir aber war es der gewünschteste Anlaß, zum vierten oder fünftenmal diesen Essay vorzunehmen, von dem da behauptet wird, nur Leute, die ihn nie gelesen hätten, könnten, in diesem Zusammenhang, so viel Aufhebens davon machen. Wie hier die Marionette mit dem Gotte konfrontiert wird, der Mensch in seinen reflexiven Schranken hilflos zwischen beiden hängt, das ist freilich ein so unvergeßliches Bild, daß es schon mancherlei Unausgesprochenes decken könnte. Allein davon wissen wir nichts. Und hätte der Verfasser schlicht und recht sich hier ans Ausgesprochene gehalten, so wäre der gedankenreiche Elan, mit dem sich die Romantik vor hundert Jahren seines Themas bemächtigt hat, ihm nicht verloren gewesen.
Gleich hinter dieser zweifelhaften Kleist-Exegese aber hat man die Freude, auf die »Verwandlungspuppen oder Metamorphosen« zu stoßen. Boehn nennt als ihren Erfinder Franz Genesius. Sie spielten eine Hauptrolle in dem Puppentheater von Schwiegerling, gewiß eines der größten Puppenspieler aller Zeiten. Heute scheint es schon schwer geworden zu sein, Material über sein Theater zu finden, und darum will ich hier mitteilen, was ich noch von der Vorstellung, die das Schwiegerlingsche Marionettentheater 1918 in Bern gab, erinnere. Dies Marionettentheater war eigentlich mehr eine Zauberbude. Es gab nur ein Theaterstück jeden Abend. Vorher aber produzierten sich seine Kunstpuppen. Zwei Nummern stehen mir noch deutlich vor Augen. Kasperl kommt tanzend mit einer schönen Dame herein. Plötzlich, wie die Musik gerade am süßesten spielt, klappt die Dame ein, verwandelt sich in einen Luftballon, der Kasperl, weil er ihn aus Liebe festhält, in den Himmel entführt. Eine Minute bleibt die Bühne ganz leer, dann kommt Kasperl mit einem furchtbaren Krach heruntergefallen. Die andere Nummer war traurig. Auf einem Leierkasten spielt ein Mädchen, das aussieht, als wäre es eine verwunschene Prinzessin, eine traurige Melodie. Auf einmal klappt der Leierkasten ein. Zwölf zuckerwinzige Tauben fliegen heraus. Die Prinzessin aber versinkt mit hochgehobenen Armen stumm in der Erde. Und eben, wie ich dies schreibe, kommt mir noch eine andere Erinnerung von damals. Ein langer Clown steht auf der Bühne, verbeugt sich, beginnt zu tanzen. Während des Tanzens schüttelt er einen kleinen Zwergclown aus dem Ärmel, der genau so rotgelb geblümt gekleidet ist wie er; und so bei jedem zwölften Walzertakt einen neuen. Bis schließlich zwölf ganz gleiche Zwergen- oder Babyclowns um ihn im Kreise herumtanzen.
Unleugbar, ganz besonders hier beim Puppenspiele, wird es manchen verdrießen, wie dies beharrliche Befaßtsein mit dem Sonderbaren, dies unermüdliche Kramen im Kuriositätenschatze des Daseins, so gänzlich ohne Leidenschaft (ohne ordnende versteht sich, aber ach auch ohne verwühlende) so kühl und so emsig vonstatten geht. Welcher Sympathie wäre nicht der Verfasser gewiß, wenn er nur einmal über einer Puppe oder Marionette sein Thema und sein Manuskript, den Verleger und das Publikum, sein Tempo und vor allem sich selber vergäße. Wie wäre ihm nicht die Haltung des Sammlers zustatten gekommen, die ihm leider (und unbeschadet der Frage ob er es ist oder nicht) völlig fernliegt. Und diese Genauigkeit, dieses Aufhaspeln des Stoffes, dieses vollständige Inventar aller Daten wäre nicht Sammlerart? In der Tat nicht. Die wahre, sehr verkannte Leidenschaft des Sammlers ist immer anarchistisch, destruktiv. Denn dies ist ihre Dialektik: Mit der Treue zum Ding, zum Einzelnen, bei ihm Geborgenen, den eigensinnigen subversiven Protest gegen das Typische, Klassifizierbare zu verbinden. Das Besitzverhältnis setzt völlig irrationale Akzente. Dem Sammler ist in jedem seiner Gegenstände die Welt präsent. Und zwar geordnet. Geordnet aber nach einem überraschenden, ja dem Profanen unverständlichen Zusammenhange. Man erinnere doch nur, von welchem Belang für jeden Sammler nicht nur sein Objekt, sondern auch dessen ganze Vergangenheit ist, ebenso die zu dessen Entstehung und sachlichen Qualifizierung gehörige wie die Details aus dessen scheinbar äußerlicher Geschichte: Vorbesitzer, Erstehungspreis, Wert usw. Dies alles, die wissenschaftlichen Sachverhalte wie jene anderen, rücken für den wahren Sammler in jedem einzelnen seiner Besitztümer zu einer magischen Enzyklopädie, zu einer Weltordnung zusammen, deren Abriß das Schicksal seines Gegenstandes ist. Sammler sind Physiognomiker der Dingwelt. Man braucht nur einen zu beobachten, wie er die Gegenstände seiner Vitrine handhabt. Kaum hält er sie in Händen, scheint er inspiriert durch sie, scheint wie ein Magier durch sie hindurch in ihre Ferne zu schauen.
Nichts dergleichen bei Boehn. Und doch hätte man ein Recht, es zu erwarten. Denn der Autor hält ja im übrigen mit seiner Subjektivität so wenig zurück, daß uns aus manchen Stellen statt des süßen Lack- und Moderduftes neuer und alter Puppen der Bierdunst hitlerischer Versammlungslokale entgegenweht. »Wir wissen alle, an welchen tiefgehenden Schäden unser Volkstum leidet und wer die Schuldigen sind, die ein Interesse ..., das sich in Mark und Pfennigen ausdrücken läßt, daran haben, daß das deutsche Volk sich nicht auf sich selbst besinne und christliche und deutsche Belange nicht zu Worte kommen.« Man kennt diese Sprache, wüßte wo sie gesprochen wird, auch wenn einem der Verfasser »seine Unzufriedenheit« mit dem Reklamegeschrei und dem Mangel an Geschmack, der für alle Berliner Veranstaltungen so bezeichnend ist, vorenthielte. Im Grunde aber würden wir uns vielleicht gar nicht ungern einen alten, verraunzten Landadligen vorstellen, der uns in seine versponnensten Schatzkammern läßt, ein oder das andere der schönen Stücke heraushebt und zwischendurch auch seinen unmaßgeblichen Gefühlen freien Lauf läßt. Doch wo ist hier in einem Werk, das hundertfach dazu den Anlaß gäbe, das Liebenswürdige, Gewinnende, das uns dergleichen (freilich wohl kaum in der Sprache der Leitartikel) gern in Kauf nehmen ließe.
Soweit die Glossen. Schließlich wird man doch zu versöhnlicheren Betrachtungen zurückfinden, und der Stoff legt für seinen Autor Fürbitte ein. Nichts scheint ja kurzweiliger, unverbindlicher, leichter als ein Spiel mit Kuriositäten. Scheinbar im Machtbereich jedes Feuilletonisten ist es in Wahrheit doch allein das Genie, das diese Findlinge recht zu behandeln weiß. Keiner so wie Jean Paul, welcher sie seinem Zettelkasten entnahm, um sie als Gleichnisse tief in die epische Holzwolle seiner Romane hineinzusenken, und der Nachwelt unbeschädigt zu überliefern. Manchem Leser dieses Puppenbuchs könnte geschehen, daß er sich Jean Paulsche Texte ersinnt, um so allegorischen Sachverhalten ihr Recht werden zu lassen, wie der Marionette des Gehängten, der am Galgen in Stücken fault, die sich nachher wieder zusammensetzen. Oder Kasperles lebendigem Tier, in Wien ein Karnickel, in Hamburg eine Taube, in Lyon eine Katze. Die Goncourts, Bewohner des sittenlosen Paris, auf das Boehn schlecht zu sprechen ist, haben doch einmal prägnanter als jeder andere das ausgesprochen, worum es seinen Moden- und Puppenbüchern zu tun ist: »Geschichte aus dem Abfall von Geschichte machen.« Und das ist und bleibt etwas Rühmenswertes.