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V.

Während der Baronet und Elisabeth eifrig bemüht waren, ihr Glück bei den vornehmen Basen zu machen, erneuerte Anna eine Bekanntschaft ganz andrer Art.

Sie hatte ihre ehemalige Lehrerin besucht, und von ihr erfahren, daß eine ihrer alten Mitschülerinnen in Bath wohnte, die zwei mächtige Ansprüche auf ihre Aufmerksamkeit hatte; früher geleistete freundschaftliche Dienste und gegenwärtige Leiden. Frau Smith, die Anna als Fräulein Hamilton gekannt hatte, war zu einer Zeit, wo Freundlichkeit am meisten werth ist, gütig gegen sie gewesen. Anna war bald nach dem Tode ihrer geliebten Mutter mit trauerndem Herzen in die Kostschule gekommen, wo sie sich schmerzlich nach Hause zurück sehnte, und so viel litt, als ein Mädchen von vierzehn Jahren mit sehr reizbarem Gefühle und nicht sehr aufgeräumtem Geiste in diesem Lebensalter leiden mußte. Fräulein Hamilton, drei Jahre älter als sie, blieb ein Jahr länger in der Schule, weil sie keine nahen Verwandten und keine bestimmte Heimath hatte, und wußte auf die Mitschülerinn so günstig zu wirken, daß Anna bald heiterer wurde und nie gleichgiltig an die Teilnahme ihrer Freundinn denken konnte.

Bald nach dem Abschiede von der Schule hatte sich Fräulein Hamilton verheirathet, und daß sie sich mit einem reichen Mann vermählt hatte, war Alles, was Anna von ihr erfuhr, bis die ehemalige Lehrerinn ihr von der Lage der Jugendfreundinn ganz unerwartete Nachrichten mittheilte. Frau Smith war Witwe und arm. Ihr Mann war ein Verschwender gewesen, und bei seinem Tode, ungefähr zwei Jahre früher, fanden sich seine Angelegenheiten in der furchtbarsten Verwirrung. Sie hatte mit Schwierigkeiten aller Art zu kämpfen, und um das Maaß ihres Unglücks voll zu machen, ward sie von einem heftigen Flußfieber So bezeichnete man seinerzeit rheumatisches Fieber (griech. ñåéí: fließen, Fluß, Gliederreißen), das durch Erkältung und besonders durch feuchte Zugluft entstandene Krankheiten begleitet; vor allem Entzündungen der Schleimhäute der Atmungs- und Verdauungsorgane, der Gelenke und rheumatische Muskelentzündungen. [ Anm.d.Hrsg.] befallen, das sich zuletzt auf die Beine geworfen, und sie für jetzt verkrüppelt hatte. Sie war nach Bath gekommen, um Heilung zu suchen, wohnte unweit der warmen Bäder in einer sehr dürftigen Lage, ohne Magd, und, wie begreiflich, fast ohne allen Umgang.

Die gemeinschaftliche Freundinn versicherte, Frau Smith würde über einen Besuch von Fräulein Elliot sehr erfreut sein, und Anna eilte alsbald zu ihr. Sie sagte zu Hause nicht, was sie gehört hatte, und was ihre Absicht war, weil sie wohl wußte, daß eine solche Mittheilung wenig Theilnahme erwecken würde. Frau Russel, welche sie zu ihrer Vertrauten machte, billigte ihre Gesinnungen und brachte sie an das West-Ende, den unansehnlichen Stadttheil, wo die Unglückliche wohnte.

Der Besuch erneuerte die Bekanntschaft, und die Neigung, welche Beide früher zu einander gezogen hatte wurde wärmer als je. In den ersten zehn Minuten waren sie verlegen und bewegt. In zwölf Jahren hatten sie sich nicht gesehen, und jede fand die Jugendfreundinn dem entworfenen Bilde nicht ganz ähnlich. Zwölf Jahre hatten das blühende, stille, noch wenig ausgebildete Mädchen von funfzehn Jahren zu der siebenundzwanzigjährigen Jungfrau gemacht, die jede Schönheit, Jugendblüte ausgenommen, besaß, und deren Benehmen so selbstbewußt gut, als unwandelbar freundlich war; und zwölf Jahre hatten die schöne, wohlgebildete Hamilton, die in voller Blüte der Gesundheit und in dem Bewußtsein ihrer Ueberlegenheit stand, in eine arme, kranke, hilflose Witwe umgewandelt, die den Besuch ihres ehemaligen Schützlings als eine Gunst empfing. Bald aber war alles Unerfreuliche der Zusammenkunft verschwunden, und es blieb nur der anziehende Reiz, sich ehemahliger Zuneigung zu erinnern und von alten Zeiten zu reden.

Anna fand in Frau Smith den Verstand und das gefällige Benehmen, worauf sie ziemlich sicher gerechnet hatte, aber es war überraschend für sie, auch Neigung zur Unterhaltung und Fröhlichkeit zu finden. Weder die Zerstreuungen der Welt, unter welchen sie lange gelebt hatte, noch ihre beschränkte Lage, weder Krankheit noch Kummer, schienen ihr Herz verschlossen, oder ihre Seelenstimmung verstört zu haben.

Bei Anna's zweitem Besuche sprach Frau Smith sehr offen, und das Erstaunen ihrer Freundinn stieg. Anna konnte sich kaum eine freudenlosere Lage denken. Frau Smith hatte ihren Mann geliebt, und ihn verloren; sie war an Reichthum gewöhnt gewesen, und hatte ihn verschwinden gesehen; sie hatte kein Kind, das sie wieder an das Leben und an Lebensglück hätte knüpfen können, keine Verwandten, die ihr bei der Anordnung ihrer verwickelten häuslichen Angelegenheiten behilflich gewesen wären, und keine Gesundheit, die alles andere erträglich gemacht haben würde. Zu ihrer häuslichen Einrichtung gehörte ein geräuschvolles Wohnzimmer mit einer anstoßenden finstern Schlafkammer, aber ohne Beistand konnte sich die Kranke nicht aus dem einen Gemache in das andre bewegen, und nur ein Dienstbote war im Hause, der hilfreiche Hand leisten konnte, und Frau Smith verließ das Haus nie anders, als um in die warmen Bäder sich bringen zu lassen. Und trotz allen diesen Umständen hatte Frau Smith, wie Anna zu bemerken glaubte, nur Augenblicke, wo der Kummer sie überwältigte, gegen ganze Stunden von Beschäftigung und Genuß. Wie konnte das sein! Anna beobachtete, erwog, und befestigte sich endlich in der Meinung, daß hier nicht Seelenstärke und Ergebung allein wirkten. Ein ergebenes Gemüth konnte geduldig sein, ein kräftiger Verstand mußte Entschlossenheit geben, aber hier war etwas mehr; hier war jene Schnellkraft des Gemüthes, jene Neigung zu erquickender Tröstung, jene Gewalt, sich schnell vom Schlimmen zum Guten abzuwenden und eine Beschäftigung zu suchen, die sie aus sich selber hinaus führte. Dieß war Naturgabe, des Himmels köstlichste Gabe, und Anna sah in ihrer Freundinn eines jener seltenen Wesen, in welchen dieses Geschenk, nach einer milden Fügung der Vorsehung, fast für jeden andern Mangel entschädigen zu sollen scheint.

Frau Smith sagte ihr, es wäre eine Zeit gewesen, wo sie beinahe den Muth hätte sinken lassen. Sie war in der ersten Zeit ihres Aufenthalts in Bath in einer weit traurigern Lage gewesen. Nach einer Erkältung, die sie sich unterwegs zugezogen hatte, mußte sie gleich nach ihrer Ankunft das Bett hüten, und eine Wärterinn annehmen, obgleich ihre Vermögensumstände gerade zu jener Zeit jede außerordentliche Ausgabe drückend machten. Diese bedrängte Lage war jedoch glücklich überstanden worden; sie hatte sogar guten Einfluß auf ihre Stimmung gehabt, und Zufriedenheit in ihr erweckt, da sie die Ueberzeugung erhalten hatte, daß sie in guten Händen war. Bei ihrer Weltkenntniß erwartete sie nirgend seine plötzliche, oder uneigennützige Zuneigung, aber während ihrer Krankheit hatte sie sich überzeugt, daß ihre Wirthinn etwas auf guten Ruf hielt, und sie nie schlecht behandeln werde. Sie war überdieß so glücklich gewesen, in der Schwester ihrer Wirthinn eine treffliche Wärterinn zu finden.

»Diese gute Frau ist für mich eine schätzbare Bekanntschaft geworden,« setzte Frau Smith hinzu. »Sobald ich wieder den freien Gebrauch meiner Hände hatte, lehrte sie mich stricken, was mir viel Vergnügen gewährt hat und unter ihrer Anleitung lernte ich diese Zwirnkästchen, Nadelkissen und andre Kleinigkeiten machen, womit Sie mich immer beschäftigt sehen. Ich finde darin ein Mittel, einige sehr arme Familien in meiner Nachbarschaft zu unterstützen. Meine Wärtertinn hat durch ihr Gewerbe eine sehr ausgebreitete Bekanntschaft unter Leuten erlangt, die kaufen können, und sie setzt meine Waare ab. Sie weiß immer den rechten Augenblick für ihr Geschäft abzupassen. Das Herz ist offen, wie sie wissen, wenn man eben einen großen Schmerz überstanden, oder den Seegen der Gesundheit wieder erlangt hat, und meine gute Rook versteht sich vortrefflich darauf, den rechten Augenblick zu finden, wo es Zeit zum Reden ist. Sie kennt das menschliche Herz, und hat so viel gesunden Menschenverstand und einen so richtig beobachtenden Blick, daß sie eine weit bessere Gesellschafterinn ist, als Tausende, welche ›die beste Erziehung von der Welt‹ erhalten haben, und doch nichts wissen, was des Anhörens werth wäre. Nennen Sie's meinetwegen Geklatsch; aber wenn Frau Rook mir eine halbe Stunde widmen kann, so hat sie mir gewiß etwas Unterhaltendes und Nützliches zu erzählen, etwas, das die Menschenkenntniß vermehrt. Man hört doch gern, was vorgeht, und will gern wissen, wie die Leute nach der neusten Mode läppisch und albern sind. Für mich, da ich so einsam lebe, ist die Unterhaltung mit ihr wahrhaftig ein Fest.«

Anna wollte über dieses Vergnügen nicht streiten und antwortete: »Das will ich gern glauben. Weiber dieser Art haben viele Gelegenheiten und wenn sie verständig sind, mögen sie wohl des Anhörens werth sein. Wie viele Abarten der Menschennatur haben sie immer vor Augen! Und nicht bloß in den Thorheiten der Menschen sind sie wohl bewandert, sie sehen die Menschen zuweilen unter Umständen, die im höchsten Grade anziehend und rührend sein können. Wie viele Beispiele von warmer, uneigennütziger, selbstverläugnender Zuneigung, von Heldenmuth, Seelenstärke, Geduld, Ergebung, von allen Kämpfen, allen Aufopferungen, die uns am höchsten adeln! Eine Krankenstube kann uns oft mehr Belehrung geben, als wer weiß wie viele Bücher.«

»O ja,« erwiederte Frau Smith minder zuversichtlich, »zuweilen wohl, aber ich fürchte, solche Lehren sind nicht oft von der erhabenen Art, die Sie schildern. Hier und da mag die menschliche Natur in Zeiten der Prüfung groß erscheinen, im Allgemeinen aber: sieht man ihre Schwäche und nicht ihre Stärke in einer Krankenstube, und man hört mehr von Selbstsucht und Ungeduld, als von Edelmuth und Standhaftigkeit. Es giebt so wenig wahre Freundschaft in der Welt! Und leider!« – setzte sie mit leiser und zitternder Stimme hinzu – »giebt es so viele Menschen, die nicht eher ernstlich nachdenken, bis es beinahe zu spät ist.«

Anna sah, wie elend solche Gefühle machen. Der Mann ihrer Freundinn war nicht gewesen, was er hätte sein sollen, und seine Frau war unter Menschen gerathen, welche ihr eine schlimmere Meinung von der Welt erweckt hatten, als diese, nach Anna's Glauben, verdiente. Es war indeß nur eine flüchtige Regung in ihrer Freundinn, die sich bald davon frei machte, und in anderm Tone hinzu setzte:

»Ich glaube indeß nicht, daß meine gute Rook jetzt in einer Lage ist, wo sie etwas finden könnte, das anziehend oder erbaulich für mich wäre. Sie hat jetzt keine Kranke zu warten, als die Frau des Obersten Wallis, die weiter nichts, als eine hübsche, thörige, verschwenderische, modesüchtige Frau ist, wie ich glaube. Höchstens konnte sie mir daher Nachrichten von Spitzen und Putz mittheilen. Aber Frau Wallis soll mir auch schon Nutzen bringen. Sie hat viel Geld, und ich denke, sie soll alle die theuer bezahlten Dinge kaufen, die ich jetzt vorräthig habe.«

Anna hatte ihre Freundinn mehrmahl besucht, ehe man in ihres Vaters Hause von dem Dasein einen solchen Frau etwas erfuhr. Endlich mußte Anna von ihr sprechen. Ihr Vater, Elisabeth und Frau Clay kamen eines Morgens mit einer unerwarteten Einladung auf denselben Abend von Lady Dalrymple zurück, und Anna hatte bereits versprochen, diesen Abend bei ihrer Freundinn im West-Ende zuzubringen. Es that ihr nicht leid, daß sie eine Entschuldigung hatte. Sie wußte ja wohl, daß ihre Angehörigen nur darum eingeladen waren, weil Lady Dalrymple, die wegen einer starten Erkältung das Zimmer hüten mußte, froh war, die ihr aufgedrungene Verwandtschaft benutzen zur können. Sie lehnte daher für sich die Einladung sehr gern mit der Bemerkung ab, sie hätte einer alten Schulfreundinn ihren Besuch zugesagt. Man nahm zwar an allen Angelegenheiten Anna's nicht viel Antheil; es wurden aber doch so viele Fragen gethan, daß man erfuhr, wer die Schulfreundinn war. Elisabeth's Blicke sprachen Verachtung; ihr Vater wurde sehr ernst.

»Im West-Ende?« sprach er. »Und wen kann meine Tochter im West-Ende besuchen? Eine Frau Smith! Die Witwe eines Herrn Smith. Und wer war denn der Mann? Einer von den fünftausend Herrn Smith, die man überall findet. und wag kann zu ihr ziehen? Sie ist alt und kränklich. Wahrlich, meine Tochter, Du hast einen sehr sonderbaren Geschmack. Alles, was andre Menschen empört, gemeine Gesellschaft, armselige Zimmer, unreine Luft, und was sich sonst noch Widriges damit verbindet, ist für dich einladend. Aber Du wirst doch wohl die alte Frau bis morgen können warten lassen? Sie ist ihrem Ende vermuthlich nicht so nahe, daß sie nicht noch einen Tag erleben könnte. Wie alt ist sie? Vierzig?«

»Nein, Vater, noch nicht ein und dreißig; aber ich werde meine Zusage wohl nicht zurück nehmen können, weil es auf einige Zeit hinaus der einzige Abend ist, der für sie und für mich paßt. Sie geht morgen in's warme Bad; und für die übrigen Tage der Woche sind wir, wie Sie wissen, versagt.«

»Aber was sagt Frau Russel zu dieser Bekanntschaft?« fragte Elisabeth.

»Sie findet nichts dabei zu tadeln,« erwiederte Anna, »im Gegentheile billigt sie, was ich thue. Sie hohlt mich gewöhnlich in ihrem Wagen ab, wenn ich Frau Smith besuche.«

»Da muß man sich im West-Ende sehr wundern, einen Wagen in der Nähe zu sehen,« bemerkte der Baronet. »Die Witwe des Herrn Russel hat freilich kein ausgezeichnetes Wappen, aber es ist doch ein hübscher Wagen, und man wird ohne Zweifel wissen, daß eine Elliot darin fährt. Eine Witwe Smith, die im West-Ende wohnt! Eine arme Witwe, die kaum zu leben hat – zwischen dreißig und vierzig Jahren – nichts als Frau Smith schlechtweg – eine ganz alltägliche Frau Smith – und sie unter allen andern Leuten und allen andern Nahmen in der Welt die erwählte Freundinn von Anna Elliot, welche diese Frau ihren eigenen Verwandten unter dem hohen Adel von England und Ireland vorzieht! Frau Smith – was für ein Nahme!«

Frau Clay, welche während dieses Auftrittes zugegen gewesen war, hielt es für rathsam, hinaus zu gehen, und Anna hätte viel sagen können und gern etwas sagen mögen, um zu zeigen, daß ihre Freundinn ziemlich eben so viel Ansprüche machen konnte, als die Hausfreundinn, aber ihre Achtung gegen den Vater hielt sie davon ab. Sie gab keine Antwort, und überließ es ihm selber, sich zu erinnern, daß Frau Smith nicht die einzige Witwe von dreißig bis vierzig Jahren in Bath war, die zu leben und keinen Adelsnahmen hatte.

Anna hielt ihr Wort; die Andern folgten gleich falls der Einladung, und wußten, wie sich von selbst versteht, am nächsten Morgen den angenehmen Abend nicht genug zu rühmen. Niemand von der Familienbekanntschaft hatte gefehlt, als allein Anna. Ihr Vater und ihre Schwester hatten nicht nur der hochadeligen Base selber aufgewartet, sondern auch mit Vergnügen den Auftrag ausgerichtet, Andre zu versammeln, und sowohl Frau Russel als den Vetter Elliot einzuladen sich bemüht. Anna erfuhr alles, was sich von einem solchen Abend erzählen ließ, von Frau Russel. Für sie mußte das Anziehendste sein, daß ihre Freundin viel mit Elliot gesprochen daß man nach ihr selber gefragt, nach ihr verlangt, und sie zugleich wegen der Ursache des Wegbleibens gerühmt hatte. Ihre freundlichen, theilnehmenden Besuche bei der kranken, dürftigen Schulfreundinn schienen den Vetter Elliot ganz entzückt zu haben. Er hielt sie für ein Mädchen von den seltensten Vorzügen, in Seelenstimmung, Benehmen, Gemüthsart, ein Muster weiblicher Trefflichkeit. Er sprach lange mit Frau Russel über die Vorzüge ihrer Freundinn, und jene verrieth so viel von dem Inhalte der Unterredung, daß die hohe Meinung, die ein so verständiger Mann von ihr hegte, fast so viele angenehme Empfindungen in Anna aufregte, als Frau Russel gern erwecken wollte.

Frau Russel war nun in ihrer Meinung über Elliot völlig mit sich einig. Sie hielt sich überzeugt, daß er die Absicht hatte, um Anna zu seiner Zeit anzuhalten, und daß er ihrer würdig war, und schon überrechnete sie, in wie vielen Wochen er von allem Zwange der Witwertrauer erlöset, und frei alles aufzubieten würde, um ihr zu gefallen. Sie mochte gegen ihre Freundinn nicht mit halb so viel Gewißheit sich äußern, als sie über diese Sache fühlte; sie wagte nicht viel mehr als Winke über dasjenige, was etwa später sich ereignen könnte, über eine, möglicher Weise entstehende Zuneigung von seiner Seite und über das Wünschenswerthe einer solchen Verbindung, wenn Zuneigung entstehen und erwiedert werden sollte. Anna hörte ihr ruhig zu. Sie lächelte, erröthete und schüttelte freundlich den Kopf.

»Sie wissen wohl, ich bin keine Heirathstifterinn,« sprach Frau Russel, »weil ich zu gut weiß, wie ungewiß alle menschlichen Begebenheiten und Berechnungen sind. Ich meine nur, wenn Herr Elliot künftig sich um Ihre Hand bewerben sollte, und Sie geneigt wären, ihn anzunehmen, so würden Sie wahrscheinlich glücklich mit ihm sein. Jedermann müßte es eine sehr passende Verbindung nennen, ich aber glaube sie für eine sehr glückliche halten zu können.«

»Herr Elliot ist ein sehr angenehmer Mann,« erwiederte Anna, »und in vielen Hinsichten achte ich ihn sehr hoch, aber wir würden nicht für einander passen.«

Frau Russel ließ es hingehen, und erwiederte bloß: »Ich gestehe Ihnen, es würde mir das größte Vergnügen machen, wenn ich Sie als die künftige Gebieterinn von Kellynch betrachten, wenn ich Sie in der Zukunft auf dem Platze ihrer lieben Mutter sehen könnte, wo Sie in allen Rechten, in der öffentlichen Gunst und in allen Tugenden, die Nachfolgerinn ihrer Mutter sein würden. Sie sind ganz das Ebenbild ihrer Mutter in ihren Zügen, wie in ihrer Gemüthstimmung – und wie glücklich, wenn ich mir denken dürfte, daß Sie auch in äußerer Lage, in Nahmen und Heimath ihr gleichen, daß Sie auf demselben Platze walten und beglücken sollten, und nur darin ihr unähnlich wären, daß Sie mehr Werthschätzung fänden. Meine theuerste Anna, es würde mir mehr Freude machen, als man oft in meiner Lebenszeit fühlt.«

Anna mußte sich wegwenden, aufstehen und an einen entfernten Tisch treten, wo sie, unter dem Vorwande eines Geschäftes, sich aufstützte, um die Gefühle zu bemeistern, welche jene Schilderung ihrer Freundinn aufgeregt hatte. Auf einen Augenblick war ihre ganze Seele bezaubert. Der Gedanke, zu werden, was ihre Mutter gewesen war, und den geliebten Nahmen »Frau Elliot« in sich wieder aufleben zu sehen, nach Kellynch zurückzukehren, es ihre Heimath, ihre Heimath für immer zu nennen – dieser Zauber war so mächtig, daß sie nicht sogleich widerstehen konnte. Frau Russel sprach nichts weiter, um den aufgeregten Gedanken selbst wirken zu lassen, und bei solchem Glauben hätte ja Elliot selber in diesem Augenblicke nicht besser für sich sprechen können. Aber was sie glaubte, war keineswegs Anna's Glauben. Derselbe Gedanke an den, für sich selber sprechenden Elliot gab unsrer Anna ihre Fassung wieder, und der Zauber, den »Kellynch« und der Nahme: » Frau Elliot« erweckt hatten, verschwand. Sie wollte ihn nie nehmen; nicht nur, weil ihre Gefühle noch immer nur einem Mann geweiht waren, auch ihr Urtheil sprach, bei ernstlicher Erwägung der Möglichkeiten eines solchen Falles, gegen Elliot.

Sie war nun schon einen Monat mit ihm bekannt gewesen, und durfte doch nicht glauben, seine Gemüthsart genau zu kennen. Daß er ein verständiger Mann, ein angenehmer Mann war, daß er gut sprach, gute Ansichten darlegte, treffend und als ein Mann von Grundsätzen zu urtheilen schien, so viel war klar genug. Er wußte gewiß, was recht war, und sie wußte keine sittliche Pflicht, die er offenbar überschritten hätte, bestimmt anzugeben, und dennoch würde sie Bedenken getragen haben, für sein Betragen zu bürgen. Sie hatte Mißtrauen gegen sein früheres, wo nicht gegen sein jetziges, Betragen. Die Nahmen früherer Gesellschafter, die Anspielungen auf frühere Gewohnheiten und Bestrebungen, wovon er zuweilen etwas verlauten ließ, gaben zu nicht günstigen Vermuthungen über seine ehemaligen Verhältnisse Anlaß. Sie sah, daß er böse Gewohnheiten gehabt hatte, dass Reisen an Sonntagen Dies wird als eine Störung der Sonntagsfeier angesehen, die in England sehr geachtet wird. [ Anm.d.Übers.] etwas Gewöhnliches gewesen waren, daß es einen, wahrscheinlich nicht kurzen Abschnitt seines Lebens gegeben, wo er sich gegen alle ernstliche Angelegenheiten wenigstens sorglos gezeigt hatte, und wenn er auch nun ganz anders denken mochte, wer konnte für die wahren Gesinnungen eines gewandten und behutsamen Mannes bürgen, der alt genug geworden war, um eine gute Gemüthsart würdigen zu können! Wie ließ sich's je ausmitteln, ob sein Gemüth wahrhaft gereinigt war?

Elliot war verständig, besonnen, gebildet, aber nicht offen. Nie hörte man einen Ausbruch des Gefühles, nie sah man eine Aufwallung von Unwillen, oder Freude über Böses und Gutes bei Andern. Dieß war für Anna eine offenbare Unvollkommenheit. Sie konnte sich von den früher erhaltenen Eindrücken nicht mehr losmachen. Das aufrichtige, offene, muntere Gemüth schätzte sie vor allen; Wärme und Begeisterung fesselten sie noch immer. Sie fühlte, daß sie mehr auf die Aufrichtigkeit derjenigen rechnen könnte, die zuweilen ein unbehutsames, oder übereiltes Wort sprachen, als der Menschen von unveränderlicher Geistesgegenwart, deren Zunge sich nie verschnappt.

Herr Elliot war zu allbeliebt. Er gefiel Allen in ihres Vaters Hause, wo doch die Gemüthstimmungen so verschieden waren. Er war zu nachgiebig gegen Jedermann, stand zu gut mit Jedermann. Er hatte ziemlich offen mit Anna über Frau Clay gesprochen, er schien sehr gut einzusehen, was Frau Clay im Schilde führte, und sie zu verachten, und doch pries Frau Clay so laut, als Jedermann, ihm angenehm.

Frau Russel sah entweder weniger, oder mehr, als ihre junge Freundinn, da sie nichts sah, was Mißtrauen hätte erwecken können. Sie fand in ihm einen Mann, wie er sein sollte, und es gab für sie kein süßeres Gefühl, als die Hoffnung, ihn im nächsten Herbste mit ihrer geliebten Anna in der Kirche zu Kellynch verbunden zu sehen.



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