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V.

An dem Morgen, wo der Admiral und seine Gemahlinn das Landgut ansehen wollten, fand es Anna sehr natürlich, ihren gewöhnlichen Spaziergang zu Frau Russel zu machen, und aus dem Wege zu gehen, bis alles vorbei wäre, und als nun alles vorbei war, fand sie es auch sehr natürlich, zu bedauern, daß ihr die Gelegenheit entgangen war, die Fremden zu sehen.

Diese Zusammenkunft war für beide Theile höchst befriedigend, und brachte die Angelegenheit zum völligen Abschlusse. Beide Frauen waren vorher zu einer Uebereinkunft geneigt, und jede fand daher das Benehmen der Andern gut. Eben so ging es zwischen den beiden Männern. Der Admiral zeigte eine so herzliche Gutmüthigkeit und ein so offenes, edles Vertrauen, daß der Baronet nur günstig gestimmt werden konnte, da überdieß Shepherd's Versicherungen, daß der Admiral ihn durch den Ruf als ein Muster guter Lebensart kenne, in das höflichste Benehmen ihn hinein geschmeichelt hatten.

Haus, Hausgeräthe und Zubehörungen gefielen, die Miethleute gefielen, Bedingungen, Pachtzeit und Alles war recht, und Shepherd's Schreiber wurden alsbald in Thätigkeit gesetzt, ohne daß durch irgend eine vorläufige Schwierigkeit alles, was der Vertrag kund und zu wissen that, wäre geändert worden.

Der Baronet erklärte ohne Bedenken, er hätte nie einen so wohl aussehenden Seemann gefunden, als den Admiral, und er ging so weit, zu versichern, wenn nur sein Kammerdiener dem Seemanne das Haar in Ordnung brächte, so würde er sich nicht schämen, sich überall an der Seite des Mannes zu zeigen. Der Admiral sagte dagegen seiner Frau, als sie durch den Park zurück fuhren: »Ich dachte wohl, daß wir bald einig sein würden, trotz allem, was man uns auch in Taunton gesagt hatte. Der Baronet hat das Pulver nicht erfunden, aber er scheint sonst ohne Falsch zu sein.«

Der Admiral wollte zu Michael Besitz von dem Landgut nehmen; und da der Baronet sich vornahm, einen Monat vorher nach Bath abzureisen, so war keine Zeit zu verlieren, die nöthigen Vorbereitungen zu machen.

Frau Russel, die überzeugt war, daß man Anna nicht gestatten würde, bei der Wahl eines Wohnhauses in Bath sich nützlich zu zeigen, und sich nicht gern so schnell von ihrer Freundinn trennen wollte, wünschte, das Mädchen bei sich zu behalten, bis sie zu Weihnachten selber mit ihr nach Bath kommen könnte; aber genöthigt, sich auf mehre Wochen zu entfernen, konnte sie keine bestimmte Einladung machen, und so sehr Anna es bedauerte, den Genuß der Herbstmonate auf dem Lande entbehren zu müssen, glaubte sie doch, alles erwogen, keineswegs, daß sie wünschen könnte zu bleiben. Es schien am beßten und am Klügsten zu sein, und die wenigsten Leiden zu drohen, wenn sie mit den übrigen abreisete.

Ein neues Ereigniß aber schrieb ihr eine andre Pflicht vor. Marie, die oft unpäßlich war, und immer viel an ihre Leiden dachte, immer nach Schwester Anna verlangte, wenn ihr etwas fehlte, war nicht wohl, und besorgt, sie könnte den ganzen Herbst hindurch nicht einen gesunden Tag haben, bat oder verlangte sie vielmehr, Anna sollte zu ihr nach Uppercroß kommen, und ihr Gesellschaft leisten, so lange es nöthig wäre, statt nach Bath zu gehen.

»Ich kann's ohne Anna nicht aushalten,« meinte Marie, und Elisabeth antwortete: »Nun, dann bleibt Anna lieber da, denn in Bath wird Niemand sie brauchen.«

Als etwas Gutes, wenn auch auf unpassende Weise, in Anspruch genommen zu werden, ist wenigstens besser, als wie etwas Unnützes verworfen zu werden, und Anna freute sich, daß sie doch zu etwas nützlich geachtet, daß irgend etwas als eine Pflicht ihr aufgelegt wurde, und da es ihr gewiß nicht leid war, diese Pflicht in ihrer lieben Heimath erfüllen zu sollen, so willigte sie gern ein, zu bleiben. Diese Einladung von der Schwester beseitigte alle Schwierigkeiten, und es wurde verabredet, Anna sollte nicht eher nach Bath reisen, bis Frau Russel sie abholte, und die Zwischenzeit bald in Uppercroß, bald in Kellynch zubringen.

So weit war alles in Ordnung, aber Frau Russel war fast bestürzt, als sie vernahm, daß Frau Clay mit dem Baronet und Elisabeth nach Bath reisen wollte, um dem Fräulein ihren wichtigen und schätzbaren Beistand zu leisten. Frau Russel war sehr bekümmert, daß man überhaupt diesen Gedanken gefaßt hatte; sie war überrascht und besorgt, und die Beleidigung, welche für Anna darin lag, daß Frau Clay so nützlich gefunden wurde, während Anna gar nichts nützen konnte, machte den Umstand noch empfindlicher.

Anna selber war an solche Kränkungen gewöhnt; aber sie fühlte eben so sehr, als ihre Freundinn, wie unvorsichtig die getroffene Verabredung war. Ruhige Beobachtung und eine Kenntniß von ihres Vaters Gemüthsart, die genauer war, als sie es wünschte, hatten die Besorgniß in ihr erweckt, daß der Umgang mit jener Frau leicht sehr nachtheilige Folgen haben könnte. Sie glaubte nicht, daß ihr Vater in jenem Augenblicke einen Gedanken der Art hegte. Frau Clay hatte Leberflecke, einen vorstehenden Zahn und eine plumpe Hand; worüber er in ihrer Abwesenheit immer strenge Bemerkungen machte; aber sie war jung, hatte ein gesundes Aussehen, und besaß in einem scharfsinnigen Geiste und gefälligen Benehmen weit gefährlichere Reize, als blos eine anziehende Außenseite hätte geben können. Anna war so besorgt vor der Gefahr, daß sie sich's nicht versagen konnte, auch ihre Schwester aufmerksam darauf zu machen. Sie rechnete freilich nicht viel auf guten Erfolg; aber Elisabeth, welche, wenn das gefürchtete Ereigniß einträte, noch weit mehr als sie zu beklagen sein mußte, sollte nie den Vorwurf aussprechen können, daß Anna sie nicht gewarnt hätte.

Sie sprach und schien nur zu beleidigen. Elisabeth konnte nicht begreifen, wie ihre Schwester auf einen so abgeschmackten Verdacht käme, und äußerte mit Unwillen, daß beide Theile sehr wohl fühlten, welche Stellung sie einnähmen. »Frau Clay,« sprach sie lebhaft, »vergißt nie, wer sie ist, und da ich besser mit ihren Gesinnungen bekannt bin, als Du es sein kannst, so kann ich Dir versichern, daß sie über den Punkt der Ehe sehr zart denkt, und jede Ungleichheit des Standes und Ranges strenger tadelt, als die meisten andern Leute. Und daß der Vater jetzt in Verdacht kommen muß, hätte ich nicht gedacht, da er um unsertwillen so lange ledig geblieben ist. Wäre Frau Clay sehr schön, so könnte es unrecht sein, daß ich sie so viel um mich habe; nicht als ob sich der Vater je durch irgend etwas verleiten lassen könnte, eine unwürdige Verbindung einzugehen; aber er könnte unglücklich werden. Doch wer wird die gute Frau Clay, bei allen ihren Vorzügen, denn auch nur für leidlich hübsch halten! Ich glaube wirklich, die gute Frau kann ohne alle Gefahr hier bleiben. Du hast doch, wer weiß wie oft, den Vater von ihren unglücklichen Mängeln sprechen hören. Dieser Zahn – diese Leberflecke! Leberflecke sind mir nicht so zuwider, als ihm; ich habe ein Gesicht gesehen, das durch einige solche Fleckchen nicht sehr entstellt wurde. Du hast ja doch gehört, wie er von den Flecken spricht?«

»Es gibt schwerlich einen äußern Mangel, erwiederte Anna, »womit ein angenehmes Betragen nicht allmählig versöhnen könnte.«

»Ich bin ganz anderer Meinung,« sprach Elisabeth, kurz abbrechend. »Ein angenehmes Betragen kann hübsche Züge hervorheben, nie aber unbedeutende verändern. Doch – auf alle Fälle steht bei dieser Sache für mich mehr auf dem Spiele, als für sonst Jemand, und halte es daher für unnöthig, mich von Dir berathen zu lassen.«

Anna war fertig; erfreut, darüber hinweg zu sein, und nicht ganz ohne Hoffnung, daß es fruchten werde. War Elisabeth auch empfindlich über den erweckten Verdacht, so konnte sie doch dadurch zur Beobachtung gereizt werden.

Es war der letzte Dienst der vier Wagenpferde, den Baronet, Fräulein Elisabeth und Frau Clay nach Bath zu bringen. Sie traten die Reise mit frohem Muth an. Der Baronet grüßte mit Herablassung die betrübten Gutsunterthanen und Häusler, die einen Wink erhalten haben mochten, sich sehen zu lassen: Anna ging zu derselben Zeit in stiller Schwermuth zu der Wohnung ihrer Freundinn. wo sie eine Woche zubringen wollte.

Frau Russel war auch traurig. Die Trennung von ihren Nachbarn ging ihr sehr nahe. Der gute Ruf ihrer Freunde war ihr so werth, als der eigene, und ein täglicher Umgang war durch Gewohnheit schätzbar geworden. Es that ihr wehe, auf das verlassene Landgut zu sehen, und noch schmerzlicher war der Gedanke, daß es in fremde Hände kommen sollte. Sie faßte den Entschluß, dem traurigen Eindruck, den das einsam gewordene Dorf machte, zu entfliehen, und um bei der Ankunft des Admirals nicht in der Nähe zu sein, wollte sie selber abreisen, so bald Anna sich von ihr trennen mußte.

Beide brachen zugleich auf, und Frau Russel begleitete Anna bis Uppercroß, wo sie Abschied nahm, um ohne Aufenthalt ihre Reise fortzusetzen

Uppercroß war ein Dorf von mäßiger Größe, das wenige Jahre früher ein ganz alt englisches Ansehen, und nur zwei Häuser von besserer Bauart, als die Wohnungen der Landleute, gehabt hatte; das Haus des Gutsherrn, mit seinen hohen Mauern, großen Thorwegen und alten Bäumen, alles stark; alles ohne neue Zuthat, und dann das kleine nette Pfarrhaus, mit einem freundlichen Garten umschlossen, mit einem Weinstock und einem Birnbaume, die um die Fenster gezogen waren. Bei der Vermählung des ältesten Sohnes aber war eine Pachterwohnung für ihn zu einem Herrenhause erhoben und ausgeschmückt worden, die eben so gut des Reisenden Blicke auf sich ziehen konnte, als das ansehnlichere sogenannte große Haus, das einige hundert Schritte weiter lag.

Anna hatte hier oft gewohnt, und war in der Gegend von Uppercroß so gut bekannt, als in Kellynch. Die beiden Familien in Uppercroß waren so gewohnt, einander zu allen Stunden zu besuchen, daß Anna sich wunderte, ihre Schwester Marie allein zu finden; aber weil sie allein war, verstand es sich fast von selbst, daß sie sich unpäßlich und übel aufgelegt fühlte. Marie war zwar besser begabt, als ihre ältere Schwester, hatte aber doch nicht Anna's Verstand und Gemüth. Wenn sie wohl, glücklich und gut bedient war, zeigte sie die angenehmste und heiterste Stimmung; bei jeder Unpäßlichkeit aber sank ihr Muth gänzlich; sie hatte keine Hilfmittel für die Einsamkeit und da sie von dem, im Hause Elliot einheimischen Dünkel viel geerbt hatte, war sie sehr geneigt, ihre Leiden zu erhöhen durch die Einbildung, daß sie vernachläßigt und schlecht behandelt werde. Im Aeußern stand sie unter ihren beiden Schwestern, und hatte selbst in der Zeit ihrer Blüte nur den Ruhm erlangt, ein hübsches Mädchen zu sein. Sie lag nun auf dem abgenutzten Sofa in dem niedlichen kleinen Wohnzimmer, dessen einst zierliches Geräthe seit vier Sommern und bei zwei Kindern allmählig etwas schäbig geworden war.

»Nun, kommst du denn endlich?« redete sie ihre Schwester an. »Ich bin so krank, daß ich kaum reden kann. Ich habe den ganzen Morgen keine Seele gesehen.«

»Es thut mir leid, dich unwohl zu finden,« erwiederte Anna. »Du schicktest mir am Donnerstage so gute Nachrichten.«

»Ja, ich machte sie so gut als möglich, wie ich immer thue; aber ich war nichts weniger als wohl, und ich glaube, nie in meinem Leben bin ich so krank gewesen, als diesen Morgen; gewiß, ich sollte gar nicht allein gelassen werden. Denke nur, wenn mir plötzlich etwas zustieße, ich könnte ja nicht einmahl klingeln …; Nun, Frau Russel wollte also nicht aussteigen? Ich glaube, sie ist diesen Sommer nicht dreimahl hier gewesen.«

Anna gab eine passende Antwort und fragte nach dem Befinden ihres Schwagers.

»Er ist auf die Jagd gegangen,« antwortete Marie. »Seit sieben Uhr früh habe ich ihn nicht gesehen. Er wollte nicht bleiben, und ich sagte ihm doch, wie übel ich mich befände. Er versprach, bald wieder zu kommen, aber er ist noch nicht da, und es geht schon auf eins. Du kannst mir glauben, ich habe den ganzen Morgen nicht eine Seele gesehen.«

»Du hast doch die Kinder bei Dir gehabt?«

»Ja, so lange ich ihren Lärm aushalten konnte, aber es ist so schwer, mit ihnen auszukommen, daß sie mir mehr Plage, als Freude machen. Karlchen achtet nie auf ein Wort von mir, und Walter wird fast eben so unartig.«

»Nun, es wird bald schon besser mit Dir werden,« sprach Anna fröhlich. »Du weißt ja, ich mache Dich immer gesund, so bald ich komme. Wie geht's im großen Hause?«

»Ich kann Dir nichts davon sagen. Ich habe heute Niemand von daher gesehen, ausgenommen meinen Schwiegervater. Er hielt eben an, und sprach durch's Fenster, aber ohne vom Pferde zu steigen. Ich sagte ihm, wie schlecht mir wäre, und doch ist noch Niemand gekommen. Es mag wohl meinen Schwägerinnen nicht angestanden haben; sie gehen nie gern von ihrem Wege ab.«

»Vielleicht siehst Du sie noch; es ja noch nicht spät.«

»Ich sage Dir, es liegt mir nicht viel an ihnen. Sie schwatzen und lachen mir zu viel …; O Anna, ich leide so sehr. Es war recht unfreundlich von Dir, daß Du am Donnerstags nicht kamest.«

»Aber, liebe Marie, erinnere Dich doch, welche gute Nachrichten ich von Dir erhielt. Du schriebest so munter, und sagtest, Du wärest ganz wohl, und ich brauchte nicht zu eilen. Du kannst leicht denken, daß ich auf die Nachricht wünschte, bis zum letzten Augenblicke bei Frau Russel zu bleiben. Ich habe in der That auch so viel zu thun gehabt, daß ich Kellynch nicht eher verlassen konnte.«

»Aber lieber Himmel, was kannst Du denn zu thun haben?«

»Ich sage dir, sehr viel, und mehr, als mir in diesem Augenblicke einfallen will. Ich will dir nur etwas sagen. Ich habe eine Abschrift von den Verzeichnissen der Bücher und Gemählde des Vaters gemacht. Ich bin mehrmahl mit dem Gärtner im Garten gewesen, um zu sehen, welche von den Pflanzen unserer Schwester für Frau Russel bestimmt sind. Ich hatte viel damit zu thun, Bücher und Musik in Ordnung zu bringen und zu theilen, und mußte meine Koffer wieder auspacken, weil ich nicht früh genug wußte, was mit den Wagen fortgehen sollte. Und noch etwas hatte ich zu thun, Marie, das mir sehr nahe ging; ich mußte fast in jedes Haus im Kirchspiel gehen, um Abschied zu nehmen. Ich hörte, daß man's gern sähe. Alles dieß kostete mir viel Zeit.«

»Nun freilich! Aber« – fuhr sie nach einer Pause fort – »Du hast mich ja noch gar nicht gefragt, wie's gestern mit dem Mittagessen bei Pooles gewesen ist«

»Du warest da? Ich habe nicht gefragt, weil ich glaubte, Du hättest absagen lassen müssen.«

»O ja, ich war da. Gestern war mir ganz wohl. Erst heute morgen ward ich unpäßlich. Es wäre sonderbar gewesen, wenn ich nicht gegangen wäre.«

»Nun, es freut mich, daß Du wohl gewesen bist, Du hast wohl viel Vergnügen gehabt?«

»Nicht sonderlich. Man weiß ja immer voraus, wie's mit einem Mittagessen ist, und wen man da findet. Und es ist so sehr unangenehm, wenn man nicht seinen eigenen Wagen hat. Meine Schwiegerältern hohlten mich ab, und wir saßen so gedrängt; sie sind beide so breit und brauchen so viel Platz. Mein Schwiegervater sitzt immer vorne, und da mußte ich mich mit Henriette und Luise auf dem Rücksitze zusammendrängen. Ich glaube wohl, meine heutige Krankheit kommt bloß daher.«

Anna kam durch etwas mehr Geduld und erzwungene Munterkeit beinahe dahin, ihre Schwester zu heilen. Marie konnte bald aufrecht auf dem Sofa sitzen, und hoffte schon, sie werde zur Essenszeit es ganz verlassen können. Nach einigen Augenblicken vergaß sie, daran zu denken, und war am andern Ende des Zimmers, um einen Blumenstrauß zu verschönern; bald ging sie zu ihrem kalten Frühstück und endlich befand sie sich so wohl, daß sie einen Spaziergang vorschlug.

»Und wohin denn?« fragte sie, als Beide fertig waren. Im großen Hause wirst Du doch nicht einsprechen wollen, ehe man zu Dir gekommen ist?«

»Ich habe gar nichts dagegen einzuwenden,« erwiederte Anna. »Es wird mir nie einfallen, bei so guten Bekannten so viele Umstände zu machen.«

»Aber sie sollten so bald als möglich zu Dir kommen; sie sollten fühlen, was Dir gebührt als meiner Schwester. Indeß, wir können auch immer hingehen, und ein Weilchen bei ihnen bleiben, und wenn das vorbei ist, können wir unsern Spaziergang ruhig genießen.«

Anna hatte eine solche Umgangsweise immer für höchst unklug gehalten, aber längst es aufgegeben, der Unart Einhalt zu thun, weil sie glaubte, daß keine der beiden Familien, obgleich es immer auf beiden Seiten Gelegenheit zu Zwisten gab, doch ohne die andre leben könnte. Die beiden Schwestern gingen in's große Haus, um eine ganze halbe Stunde in dem altfränkischen Besuchzimmer zu sitzen, das einen kleinen Teppich und einen glänzenden Fußboden hatte, wo die jetzigen Töchter vom Hause allmählig durch ein großes Pianoforte, eine Harfe, Blumengefäße und überall umher stehende kleine Tische eine gehörige Verwirrung anzubringen gewußt hatten. O wenn doch die Urbilder der Bildnisse an der getafelten Wand, wenn die Herren in braunen Sammetkleidern, die Frauen in blauem Atlas gesehen hätten, was vorging, und eine solche Umkehrung aller Ordnung und Nettigkeit gewahr geworden wären! Die Bilder selbst schienen staunend hinab zu blicken.

Die beiden Familien waren, wie ihre Häuser, in einer Veränderung begriffen, die vielleicht eine Verbesserung war. Vater und Mutter lebten nach alt englischer, die jungen Leute nach neu englischer Weise. Dar alte Musgrove und seine Frau waren sehr gute Leute: gefällig, gastfreundlich, nicht allzu gebildet, und nichts weniger als von feinem Tone. Ihrer Kinder Gemüther und Benehmen waren mehr im Geiste der neuen Zeit. Die Familie war zahlreich, aber nur erst zwei Kinder, außer Karl, waren erwachsen; Henriette und Luise, neunzehn und zwanzig Jahre alt, die aus ihrer Kostschule die gewöhnlichen Vorräthe von Kenntnissen und Kunstfertigkeiten mitgebracht hatten, und nun, wie tausend andre Mädchen, ihr Leben zubrachten, modisch, glücklich und fröhlich zu sein. Ihr Anzug konnte nicht besser sein, ihre Gesichter waren ziemlich hübsch; sie zeigten sich immer sehr aufgeräumt; ihr Benehmen war ungezwungen und gefällig, und so galten sie viel im Hause und waren auswärts beliebt. Anna hatte sie immer als die glücklichsten Wesen im Kreise ihrer Bekanntschaft betrachtet; aber wie uns Alle ein gewisses behagliches Gefühl unsrer Ueberlegenheit abhält, die Möglichkeit eines Tausches zu wünschen, so hätte auch sie ihren feiner gebildeten Geist nicht für alle Genüsse ihrer Freundinnen aufgeben mögen, und sie beneidete dieselben um nichts anderes, als um jenes anscheinend gute Einverständniß unter einander, und jene herzliche gegenseitige Zuneigung, wovon sie im Umgange mit ihren Schwestern so wenig gekannt hatte.

Man empfing Anna und Marie sehr freundlich. Die Familie im großen Hause schien gar keinen Anlaß zu Beschwerden zu geben, und war auch, wie Anna wohl wußte, am wenigsten im Falle, Vorwürfe zu verdienen. Die halbe Stunde ward angenehm genug verschwatzt, und Anna war nicht verwundert, als sich endlich die beiden Fräulein, auf Mariens ausdrückliche Einladung, an sie schlossen, um sie auf dem Spaziergange zu begleiten.



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