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Ein neues Band wird geschlungen,
Ein altes reißt entzwei!
Wo immer die Freude erklungen,
Da ist auch der Schmerz dabei.
Unaufhaltsam waren die Ereignisse vorgeschritten; trotz der endlosen Beratungen im Großen Hauptquartier, welches drei Herrscher vereinte, die sich niemals einigen konnten, waren in vierzehn Tagen fünf große Siege erfochten worden. Aber trotzdem war der letzte Schlag noch nicht geführt; immer noch gebot Napoleon über ein großes Heer, und immer noch war er der kriegsgewaltige Held, dessen Generale wohl geschlagen worden waren, der persönlich aber, wie bei Dresden, auch jetzt noch den Sieg an seine Fahnen gefesselt hatte. Nun aber zog sich das Verhängnis enger und enger um ihn zusammen; selbst in den Seelen der meisten Rheinbundsfürsten ging endlich die Erkenntnis auf, daß es eine Schmach für deutsche Männer sei, an der Seite des Todfeindes gegen deutsche Heere und deutsche Ehre zu kämpfen; sie verließen den »großen Alliierten« und schlossen sich den verbündeten Armeen an. So sammelten sich um die Mitte des Oktober ungeheure Scharen in der weiten Ebene um Leipzig; wie einst auf den katalaunischen Gefilden standen von hüben und drüben die Völker der halben Welt zum blutigen Entscheidungskampfe gegeneinander. Mehrere Tage lang dauerte das furchtbare Ringen; endlich, am Abend des achtzehnten Oktober, war der Sturz des Gewaltigen entschieden. Als das Dunkel hereinbrach, saß der besiegte Imperator, vor dem Millionen so lange gezittert, der halb Europa zu seinen Füßen gesehen hatte, in seinem Biwak auf einem hölzernen Stuhl, in den unruhigen Schlummer völliger Erschöpfung versunken; er glich in diesem Augenblicke jedem anderen Menschenkinde, das unter der Wucht des Mißgeschickes erliegt. Auf der Anhöhe aber, von der aus das Große Hauptquartier den Gang der Schlacht verfolgt hatte, sanken bei der Siegesbotschaft die drei verbündeten Monarchen auf die Knie und dankten dem Herrn, der den Tag der Befreiung von einem unerträglichen Joch gesendet hatte. Und wohl mochten sie danken; denn wäre nicht Gottes Hand sichtbar mit den vereinten Heeren gewesen, hätte Er nicht ihre Fehler zum besten gewendet, nie hätten sie diesen Tag gesehen! Durch ganz Deutschland ging der Jubel des großen Sieges, und mit Recht durfte Arndt von dieser Schlacht singen:
Wo kommst du her in dem roten Kleid
Und färbst das Gras auf dem grünen Plan?
»Ich komme her aus dem Männerstreit,
Ich komme rot von der Ehrenbahn:
Wir haben die blutige Schlacht geschlagen,
Drob müssen die Mütter und Bräute klagen,
Da ward ich so rot.«
Nimm Gottes Lohn, habe Dank, Gesell!
Das war ein Klang, der das Herz erfreut!
Das klang wie himmlische Zimbeln hell,
Hab' Dank der Müh' von dem blutigen Streit!
Laßt Witwen und Bräute die Toten klagen,
Wir singen noch fröhlich in späten Tagen
Die Leipziger Schlacht!
In Zittern und Zagen, in Gebet und Hoffnung hatten die einsamen Frauen in Scharfeneck diese große Zeit durchlebt; alle drei standen mit ganzem Herzen auf der Seite des Vaterlandes, und jede von ihnen hatte ein geliebtes Wesen, für das sie insonderheit zitterte, für das sie ihre heißesten Bitten zum Himmel sendete. Mehr als einmal hatte der Lärm des Krieges sie ganz nahe berührt; schon im Frühjahr, als Napoleon mit seinem Heer von Frankfurt über Thüringen nach Leipzig zog, hatten sie manchen unliebsamen Besuch erhalten und waren mit Fuhren und Lieferungen hart in Anspruch genommen worden; doch hatten die Berge und Schluchten, welche den Ort schützend umgaben, den großen Strom der Armee immer auf andere Wege geleitet. Gerüchte von dem Riesenkampf, der sich um Leipzig vorbereitete, hatten sich schon bis nach Scharfeneck verirrt und Erwartung, Hoffnung und Sorge aufs höchste gesteigert, zu hoch für die körperlichen Kräfte der alten Freifrau, welche unter der langen Anspannung erlagen. Eines Tages brach sie zusammen; in großer Angst brachten die beiden Mädchen sie zu Bette. Sie litt keine Schmerzen, sie fühlte sich nur unsäglich schwach und matt und verlangte sehnlich nach Ruhe und Frieden.
Es war gegen Abend des 22. Oktober, als ein Wagen über den Hof rollte und vor dem Herrenhause stillhielt. Thea, die sich gerade im Nebenzimmer befand, während Lotte am Bett der Kranken saß, eilte geräuschlos hinab, um zu sehen, wer gekommen sei: als sie im Halbdunkel schnell die Tür nach der Halle öffnete, lief sie geradeswegs in die Arme eines eben eintretenden Herrn. »Meine Thea!« hörte sie eine wohlbekannte Stimme flüstern, bei deren Klang ihr Herz beinahe zu schlagen aufhörte. Sie blickte in freudigem Schrecken zu dem Sprechenden auf: »Dr. Hans!« stammelte sie unter Lachen und Weinen; »o lieber Gott, sind Sie es wirklich? gesund und unversehrt?«
»Nur ein klein wenig invalide, aber das heilt wohl bald«, erwiderte er heiter, ohne sie freizulassen.
»Und Maltus – ist er auch da?«
»Gewiß, da ist er in ganzer Person,« rief die frohe Stimme des Bruders, »er zog sich nur zartfühlend zurück, um das Wiedersehen nicht zu stören; auch füllt ihr beide die Tür so völlig aus, daß es ihm schwer fallen würde, ins Zimmer vorzudringen.«
Verwirrt und erglühend machte Thea sich los und fiel Maltus um den Hals. »O Gott, die Freude, die himmlische Wonne, euch – – dich wiederzuhaben! Sie wird Großmama ganz gesund machen – warte einen Augenblick, ich muß sie vorbereiten, sie ist etwas schwach heute.« Damit war sie hinweggehuscht und den Blicken der beiden Männer entschwunden.
Der alte Franz brachte Licht, er küßte seinem jungen Herrn in tiefer Rührung die Hände; ehe er vor Tränen sprechen konnte, kam Lotte herein. »Willkommen, willkommen!« rief sie froh; »Gott sei Dank für den unverhofften Anblick! Aber was hast du, Onkel Hans, bist du verwundet?« Sie sah, daß er am Arm eine Binde trug und sehr blaß aussah.
»Um meinetwillen!« sagte Maltus, indem er zärtlich den Arm um den Hals des Freundes schlang; »ohne seine Aufopferung wäre ich jetzt nicht hier.«
»Und du bist heil davongekommen?« fragte sie schnell.
»Ein wenig zerschlagen und zerquetscht, Lottchen; ein toter Gaul, der auf einem liegt, ist gerade kein leichtes, weiches Kissen, – aber davon werden ein paar Tage Ruhe bei euch mich befreien. Du verstehst ja das Pflegen so gut, Lotte! Ja, ja, Hartenstein lebt und ist gesund und strahlend froh,« fügte er lachend hinzu, als er die unausgesprochene Frage in ihren Augen las, »ich sprach ihn am Tage nach dem großen Siege, und er drückte meine arme, schmerzende Hand so kräftig, daß ich es jetzt noch spüre. Die eine Hälfte sollte gewiß an deine Adresse gehen.«
»Spötter!« sagte sie errötend und gab ihm einen leichten Schlag auf die Schulter, – »also Sieg! wirklich Sieg?! und Hartenstein war gesund und froh? o mein Gott, ich danke dir – – aber was stehe ich da und schwatze, statt für euch zu sorgen, ihr müßt ja todmüde und hungrig sein – – wartet nur, ihr sollt gleich das Beste haben, was Küche und Keller vermögen!« Sie lief hinaus, zugleich kam eine Botschaft von der Freifrau, die den jungen Herrn zu sehen wünschte, und Maltus folgte augenblicklich.
Die frohe Kunde hatte wunderbar belebend auf die Greisin gewirkt; sie hatte sich im Bett aufrichten lassen und streckte dem Enkel beide Arme entgegen. »Mein Sohn! mein Liebling! mein Maltus!« rief sie unter Tränen; »welche Freude schenkt mir mein Gott! Ich wagte kaum zu hoffen, daß meine alten, müden Augen dich noch einmal sehen sollten!«
Er kniete an ihrer Seite nieder und küßte ihr Mund und Hände. »Liebe, geliebte Großmutter,« sagte er, und ihm bebte die Stimme vor tiefinnerlicher Bewegung, »meine Ahnung hat sich herrlich erfüllt! Ich selbst darf dir die große Siegesbotschaft bringen: Napoleon ist völlig geschlagen, sein Heer ist seit drei Tagen auf der Flucht, Deutschland ist frei!«
Frau v. Fiedler hatte die Hände auf die Brust gelegt, sie sah wie verklärt zum Himmel auf. »Großer, barmherziger Gott, ich danke dir!« sagte sie mit tiefer Inbrunst; »o mein Gatte, mein Gerhard, wie werdet ihr euch freuen, wenn ich euch die Kunde mitbringe! Und Maltus lebt! du, mein Gott, hast ihn behütet; ob Tausend fielen zu seiner Seite und Zehntausend zu seiner Rechten, ihn hat es nicht getroffen!« Sie wurde plötzlich totenbleich und neigte ihr Haupt zur Seite; behend sprang Thea herzu, stützte die Sinkende und badete ihre Stirn mit stärkenden Essenzen.
»Ist sie so krank?« fragte Maltus, unendlich erschrocken. »Thea, sie wird doch nicht sterben, jetzt, wo alle Sehnsucht erfüllt ist, wo wir so glücklich sein könnten!«
Aber schon nach wenigen Minuten erholte die alte Dame sich wieder und lächelte die Geschwister freundlich an. »Lege mich nieder, mein Kind,« sagte sie mit schwacher Stimme, »dann werde ich kräftiger sein. Und du, mein geliebter Knabe, reiche mir deine Hand, damit ich sicher weiß, daß ich dich bei mir habe, und erzähle mir von euren glorreichen Siegen. Ich möchte alles hören und habe keine Zeit zu verlieren.«
Maltus berichtete in großen Zügen von seinen Erlebnissen bei der schlesischen Armee, besonders von dem herrlichen Siege an der Katzbach, und gab dann ein Bild der Völkerschlacht, soweit er sie hatte übersehen können. »Wie das Knattern der Gewehre, ohne Pausen, rollte vom frühen Morgen des achtzehnten an der Donner der schweren Geschütze«, erzählte er. »Es war schon am Nachmittag, als wir zu einem Reiterangriff kommandiert wurden. Wie eine Windsbraut stürmten wir dahin – da traf eine Kugel mein Pferd, es überschlug sich und begrub mich unter sich. Neben mir, über mich hin flogen die Kameraden, nur die tote Masse meines Gaules schützte mich vor den Hufen der anderen. Endlich ward es stiller um mich; ich versuchte, mich hervorzuarbeiten, aber ich hatte nicht die Kraft dazu, ich war wie gelähmt, befahl meine Seele Gott und fühlte meine Sinne schwinden. Wie lange ich dagelegen, weiß ich nicht; endlich hörte ich Stimmen, der furchtbare Druck, der auf mir lag, wurde abgewälzt, man hob mich auf und trug mich fort. Als ich zu mir kam, lag ich auf Stroh gebettet an einem Wachtfeuer, neben mir saß mein lieber Freund, Hans Ebner, und mein treuer Bursche, der mir erzählte, Hans habe mich mit eigener Gefahr auf dem Schlachtfelde aufgesucht, unbekümmert um die Kugeln, die ihn umpfiffen und ihm den Arm zerrissen. Am folgenden Tage folgten wir den Unsrigen nach Leipzig; furchtbar war der Kampf um die Stadt, entsetzlich die Verwirrung gewesen – mit Mühe hatten die französischen Garden für ihren Kaiser noch einen Weg zur Flucht gebahnt. Mit schrecklichem Getöse flog die Elsterbrücke in die Luft, viel zu früh für die Fliehenden, welche in großer Zahl in die Fluten stürzten und ertranken. Mittags zog unser König mit dem Zaren Alexander in die Stadt ein, vom Jubel der Einwohner empfangen. Laß mich schweigen von all dem Jammer der vielen tausend Verwundeten – wo wären Hände genug zur Pflege für so unermeßliche Not zu finden? Wir beide, Hans und ich, waren froh, der schrecklichen Luft eines überfüllten Lazarettes zu entfliehen; nachdem man ihn verbunden, mich für heil an allen Gliedern erklärt hatte, bekamen wir leicht Urlaub, ich einen kurzen, er einen unbegrenzten, um uns daheim auszukurieren. Und da sind wir nun, um uns mit euch des großen Sieges und der schwer errungenen Freiheit zu freuen!«
»Der Herr hat Großes an uns getan, des sind wir fröhlich!« sagte Frau v. Fiedler, welche mit Auge und Ohr dem Erzähler gefolgt war, während Thea mit hochklopfendem Herzen und gefalteten Händen danebensaß, leuchtend vor stolzer, seliger Freude. »Geh hin, mein Kind,« fuhr die Freifrau fort, »rufe mir Dr. Hans, damit wir ihm für seine Treue danken.«
Thea gehorchte; sie wagte nichts für sich zu hoffen und zu wünschen; sie wollte nur an den geliebten Bruder und seinen hochherzigen Retter denken. Dr. Ebner war inzwischen mit Lotte im Eßzimmer geblieben und hatte ihr Bericht erstattet; er wurde dabei immer blasser und lehnte sich müde in seinen Stuhl zurück; als aber Thea vor ihm stand und ihn bat, zu ihrer Großmutter zu kommen, flog ein lebhaftes Rot über seine Wangen, und er folgte ihr ohne Zögern. Auf der Treppe ergriff sie seine Hand, zog sie an ihre Lippen und drückte einen Kuß darauf. »Was tun Sie, Thea?« rief er unwillig und zog hastig die Hand fort.
»O, lassen Sie mich die liebe, treue Hand küssen, die meinen Bruder gerettet hat!« sagte sie und hob ihre tränenden Augen zu ihm auf; »mein Herz ist so übervoll von Freude, Dank und unfaßbarem Bangen – es will einen Ausdruck haben, sonst muß es zerspringen!«
Sie traten in das Krankenzimmer ein; Frau v. Fiedler winkte Ebner an ihre Seite; die Geschwister zogen sich ins Nebenzimmer zurück. »Nehmen Sie den innigen Dank einer alten Frau, der Sie ihr Liebstes vom Tode errettet haben,« sagte die Greisin warm; »ich weiß es, daß ich ohne Ihre Liebe und Aufopferung meinen Maltus heute wohl nicht mehr vor mir sähe. Das Vaterland ist frei, Sie haben redlich das Ihrige, dazu getan – haben Sie heute eine Bitte an mich zu richten, so soll sie Ihnen gewährt sein.«
»Sie schlagen mein Verdienst um Maltus viel zu hoch an, gnädige Frau,« erwiderte Dr. Hans nach kurzem Bedenken; »was ich tat, war einfache Freundes- und Christenpflicht, welche keines Lohnes bedarf. Der Wunsch, der mein ganzes Herz erfüllt, ist Ihnen bekannt; aber ich möchte mein höchstes Glück nicht als einen Preis für meine Freundschaft empfangen, wenn Sie nicht zugleich das Vertrauen in mich setzen, daß ich Ihrer Enkelin wert bin, daß ihre zarte Seele, ihr ganzes holdes Sein und Wesen nirgend besser aufgehoben sein kann als in meinen Händen.«
»Sie sprechen sehr selbstbewußt!« sagte die Freifrau herbe. »Ich wundere mich, daß Sie Bedingungen stellen, statt mit beiden Händen zuzugreifen, wenn Ihnen ein solcher Schatz geboten wird.«
»Ich kann nicht anders,« versetzte er mit ernster Festigkeit, »ich könnte mich selbst nicht mehr achten, wenn ich von Ihrer Dankbarkeit erschleichen wollte, was Ihr Stolz mir versagt.«
Ein paar Sekunden vergingen in tiefem Schweigen, dann sah die alte Dame ihn mit einem unendlich gütigen Blicke an. »Sie sind ein ganzer, rechter Mann, Hans Ebner,« sagte sie herzlich, »einem besseren könnte ich mein kleines Mädchen nicht anvertrauen. Jetzt wollen wir Thea selbst entscheiden lassen.«
Mit zögerndem Schritt trat die Gerufene an das Bett. »Er liebt dich von ganzem Herzen, mein Kind,« sprach die Großmutter, »und er hat ein großes, starkes Herz. Willst du ohne Bedauern allen Vorzügen eines höheren Standes entsagen, willst du die Seine sein und ihm eine treue, liebevolle Gehilfin werden?«
Thea hatte das Köpfchen tief gesenkt, glühendes Rot bedeckte ihre Wangen. »Ich will es!« flüsterte sie ganz leise, aber Dr. Hans hatte es doch gehört, er legte seinen gesunden Arm um ihre Schultern, zog sie fest an sich und drückte den Verlobungskuß auf ihre Stirn. Als Lotte heraufkam, konnte sie ein Brautpaar begrüßen, und sie tat es mit überströmender Freude, denn sie wußte um alles, was in Theas Herzen vorgegangen war; sie gönnte der treuen Schwester dasselbe Glück, das sie genoß, und schätzte Onkel Hans so hoch, daß sie ihren Liebling bei ihm sicher geborgen wußte.
Frau v. Fiedler war fieberhaft erregt, sie fühlte keine Schwäche mehr, ahnte aber wohl, daß diese Kraft eine trügerische sei und nicht lange vorhalten werde. Deshalb war sie bestrebt, noch viele Dinge zu ordnen; sie gab Lotte genau Anweisung, daß morgen ein vierspänniger Wagen mit Wäsche, Betten, Wein und Lebensmitteln bepackt und nach Leipzig geschickt werden sollte; sie hatte eine lange Unterredung mit Maltus über die Verwaltung der Güter und ihre letztwilligen Verfügungen; sie sprach aufs zärtlichste mit Thea und behandelte Hans Ebner wie einen lieben Sohn. Dann trieb sie alle früh zur Ruhe, deren ein jeder für Leib und Seele bedurfte. Aber in ihre Augen kam kein Schlaf; sie fühlte plötzlich mit unwiderstehlicher Sicherheit, daß der Engel, der ihre Seele heimholen sollte, schon an die Tür klopfe. Sie war von Herzen bereit, ihm zu folgen, denn sie hatte ihre Rechnung mit dem Leben abgeschlossen und sich längst zum Abschied vorbereitet; das einzige Verlangen, das sie noch an diese Erde gebunden hatte, das nach der Befreiung ihres Vaterlandes, war erfüllt; nun konnte sie heimgehen – o wie gerne! Wie oft hatte sie voll Sehnsucht hinübergeblickt, dahin, wo so viele ihrer Lieben sie an Gottes Thron erwarteten!
Mitten in der Nacht rief sie Lotte zu sich. »Mein gutes, treues Kind,« sagte sie mit matter, aber deutlicher Stimme, »du bist meinem Herzen immer eine rechte Tochter gewesen, und du sollst auch nach meinem Tode wie eine solche gehalten werden. Ich fürchte, Gabriele wird nie wieder auf die Dauer hierher zurückkehren, und ich möchte nicht, daß mein Scharfeneck öde und verwaist dastünde; daher wäre es mir ein tröstlicher Gedanke, wenn ihr beide, du und Hartenstein, hier euer Heim aufschlüget. Selbst wenn Maltus sich verheiratet, wird das liebe, alte Haus Platz für zwei junge Paare haben. Aber was wird aus dir und unserer kleinen Thea bis zu eurer Verheiratung? Was sollt ihr beiden schutzlosen Mädchen hier anfangen, wenn ich von euch gehe?«
»O Mutter, wir lassen Sie nicht von uns! Gott wird Erbarmen haben und Ihr teures Leben noch einige Jahre fristen«, sagte Lotte unter mühsam bekämpftem Schluchzen.
»Nein, nein, es geht schnell zu Ende: ich muß eilen, um mein Haus zu bestellen.« Sie lag in tiefem Sinnen da, dann ging plötzlich ein heller Strahl über ihr Gesicht. »Ich habe es gefunden, Lotte; Gott hat mir einen guten Gedanken eingegeben! Wenn Hans Ebner mit seinem verwundeten Arm doch nicht mehr dem Heere folgen kann, so muß er hier bleiben und euch beschützen – als Theas Gatte. Sobald der Morgen graut, schicke ihn zu mir, daß ich alles mit ihm überlege.«
Der Plan erschien so kühn, die Schwierigkeiten so groß, daß jeder ihn im ersten Augenblick für unausführbar hielt, wenigstens in der übereilten Schnelligkeit, welche die Freifrau wünschte. Aber sie verfolgte ihn mit einer Ausdauer, welche man ihrem schwachen, müden Körper gar nicht mehr zugetraut hätte; sie verhandelte selbst mit dem Pfarrer von Tannenrode und wußte ihn zu überzeugen, daß in Notfällen wie dieser alle sonstigen Rücksichten schweigen müßten. Ein einmaliges Aufgebot am morgenden Sonntagvormittag, ein paar Stunden danach die Trauung – alle weiteren Förmlichkeiten müßten nachträglich erfüllt werden. Thea ging umher wie im Traum; so schnell sollte ihre Brautzeit enden, die kaum begonnen hatte! Aber die Gewohnheit kindlichen Gehorsams und selbstloser Hingabe kam ihr zur Hilfe; still und demütig fügte sie sich in alles, was über sie beschlossen wurde, und das Zartgefühl ihres Verlobten nahm jedes peinliche Gefühl von ihrer Seele.
Die Sonntagmittagsstunde kam; im Arbeitszimmer ihres seligen Gatten war nach dem Willen der Freifrau ein Altar errichtet worden, den Lotte mit den letzten Blumen des Herbstes festlich geschmückt hatte. Noch einmal hatte die Greisin sich von ihrem Lager erhoben und ankleiden lassen; bleich und schwach lag sie im Lehnstuhl, aber ihr Antlitz strahlte von stiller Befriedigung. Eine kleine Gemeinde umgab den Altar, nur die Bewohner der beiden Häuser von Scharfeneck sollten Zeugen der Trauung sein. Der blasse Bräutigam in der ernsten, schwarzen Amtstracht, mit dem Arm in der Binde, die liebliche, junge Braut im schlichten, weißen Mädchenkleide, mit dem alten Schleier der Großmutter über dem jungfräulichen Myrtenkranz – das war ein Anblick, der den meisten Anwesenden Tränen in die Augen trieb. Der Geistliche segnete das Paar mit tiefempfundenen Worten ein; nach Beendigung der heiligen Handlung knieten die Neuvermählten vor der Großmutter nieder, um ihren Segen zu empfangen.
»Der Herr segne – und behüte euch – der Herr – erhebe – sein Angesicht ...« immer leiser und langsamer kamen die Worte hervor, dann stockten sie ganz; die segnenden Hände ruhten schwer auf den gesenkten Häuptern – – die alte Freifrau war heimgegangen.