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Siebentes Kapitel.
In Weimar

Ein kleines Städtchen, eng umfriedet,
Drin ein bescheidner Herrscherthron,
Doch um ihn schaffen, unermüdet,
Die ersten Geister der Nation.

Zu Weihnachten sollte in Berlin die Doppelhochzeit der beiden Prinzessinnen von Mecklenburg stattfinden, so berichtete Luise schon im September und knüpfte daran den lebhaften Wunsch, daß die Freundin ihren Ehrentag miterleben und ihrer Vermählung beiwohnen möchte. Gabriele las dies ihrer Mutter vor, ohne an die Möglichkeit einer Erfüllung zu denken, fand aber zu ihrer höchsten Überraschung, daß diese einer Reise keineswegs abgeneigt sei. Frau v. Fiedler hatte früher manchen Winter in Berlin verlebt, da ihr Gatte, als einstiger Offizier Friedrichs des Großen, mit unendlicher Liebe und Verehrung an seinem Könige hing und die Verbindung mit der Heimat eifrig festhielt, obgleich Scharfeneck im weimarischen Lande lag. Nach seinem Tode war sie nicht wieder in der Hauptstadt gewesen, doch besaß sie dort noch viele Freunde und Bekannte; auch fühlte sie sich in ihrem Herzen immer noch als Preußin und wollte die alten Beziehungen nicht untergehen lassen.

Man hatte in der nächsten Zeit viel zu tun, denn das Haus mußte für eine längere Zeit bestellt werden. Immer noch war es in Deutschland – und auch in den übrigen Ländern – sehr mühevoll, eine Reise zu unternehmen; es gab noch wenig Kunststraßen, obgleich der Alte Fritz in Preußen den Anfang damit gemacht hatte und einige andere Fürsten nicht zurückgeblieben waren. Aber noch geriet die Mehrzahl der Landstraßen nach jedem Regenguß in den trostlosesten Zustand, noch waren die Reisewagen von schwerfälliger Bauart und oft ohne Federn, um die furchtbaren Stöße auszuhalten, die ihnen fortwährend zugemutet wurden; noch gehörten zerbrochene Postkutschen und unvorbereitete Nachtlager, die jeder Bequemlichkeit entbehrten, zu den häufigen Abenteuern, und wer nicht kräftig und tapfer genug war, um all diesen Unbilden zu trotzen, der mochte lieber daheim hinter dem warmen Ofen bleiben.

Endlich war alles geordnet und alle Vorbereitungen für eine Abwesenheit von vielen Wochen getroffen. Der hochaufgepackte Reisewagen – ein ehemaliges Hochzeitsgeschenk des Großvaters Maltheim an Frau v. Fiedler –, mit vier kräftigen Pferden bespannt, hielt vor der Tür, die Damen nahmen die inneren Plätze ein, Franz und Fanny schwangen sich auf den hinteren Dienersitz, und fort ging es, die holperige Dorfstraße entlang, auf der barfüßige, leicht bekleidete Kinder mit Flachsköpfen und runden Augen das stattliche Fuhrwerk blöde anstarrten oder schreiend und jauchzend hinterdrein liefen.

Die erste längere Rast ward in Weimar gehalten, wo die Freifrau liebe Freunde besaß. Mit gespannter Erwartung sah Gabriele diesem Aufenthalt entgegen, denn die bescheidene Hauptstadt eines kleinen Fürstentums war zu dieser Zeit der leuchtende Mittelpunkt des geistigen Lebens in Deutschland, der Ort, welcher eine Menge hervorragender Männer in sich vereinte und die Augen der ganzen gebildeten Welt auf sich zog. Äußerlich sah man dem Städtchen, das kaum mehr als siebentausend Einwohner in einigen hundert Häusern umfaßte, seine Bedeutung freilich nicht an; die friedliche Ilm, welche an ihm vorüberfließt, trug statt beladener Schiffe nur harmlose Enten auf ihrem Rücken, und die altväterischen Straßen, welche durch Mauern, Tore und Fallgitter abgeschlossen wurden, zeigten weder ein geräuschvolles Treiben noch großartige Kirchen oder malerische, alte Gebäude. Nur der weit ausgedehnte Park, der in herbstlicher Farbenpracht prangte, gab der kleinen Residenz einen poetischen Reiz; meilenweit zog er sich hin, in freundlicher Abwechselung von Laubmassen und grünen Wiesenflächen; eine prachtvolle Doppelreihe schattiger Kastanien führte bis zum Lustschloß Belvedère, ein dichtes Gehölz verbarg das winzige Schlößchen Tiefurt, wo die Herzoginmutter den Sommer zu verbringen pflegte.

Der Wagen hielt vor einem apfelgrünen Hause mit spitz zulaufendem Dach und kleinen Fenstern, welches der verwitweten Rätin Violarius, einer entfernten Verwandten der Fiedlerschen Familie, gehörte. Die Reisenden wurden von einer freundlichen Magd empfangen, welche ihre Herrin entschuldigte; diese sei einige Zeit krank gewesen und dürfe ihr Zimmer noch nicht verlassen. Nachdem die beiden Damen den Staub der Reise abgeschüttelt hatten, wurden sie in das behagliche Zimmer geführt, wo ihre Gastfreundin sie am gedeckten Tische schon ungeduldig erwartete und mit wohltuender Herzlichkeit empfing. Die Reden der Rätin V. sind größtenteils den Briefen der Frau Rat Goethe entnommen. »Gottlob,« erwiderte sie auf die teilnehmende Frage nach ihrem Befinden mit einer frisch und heiter klingenden Stimme, die mit dem lebensfrohen Ausdruck ihres vollen Gesichtes harmonierte, »nun bin ich wieder mit mir zufrieden und kann mich auf einige Wochen hinaus leiden. Eine Weile bin ich völlig unleidlich gewesen und habe mich gegen den lieben Gott gewehrt wie ein kleines Kind, das nimmer weiß, was an der Zeit ist. Da konnte ich es endlich nicht länger mit ansehen und habe mich recht ausgescholten. Ei, schäm' dich, alte Rätin, habe ich zu mir gesagt, hast gute Tage genug gehabt in der Welt, mußt, wenn die schlechten kommen, auch vorliebnehmen und nicht so ungeduldig sein und böse Gesichter machen, wenn dir der liebe Gott ein Kreuz auflegt! Da ist es denn bald besser geworden, weil ich selbst nicht mehr so garstig war.«

»Ich sehe mit Freuden,« sagte Frau v. Fiedler, indem sie der alten Dame warm die Hand drückte, »daß weder die Jahre noch gelegentliche Leiden Ihren vortrefflichen Humor angetastet haben, der uns so oft erfreut und erquickt hat.«

»Nein, nein, den Kopf oben behalten und Gott vertrauen ist immer noch meine Losung, die ich jedem empfehlen kann. Und es ist recht und gut, daß Sie sich auch wieder einmal herausgemacht haben, meine beste Fiedlerin; es nützt nichts, sich mit seinem Kummer zu verschließen und nur zu weinen und zu klagen. Der liebe Gott hat's gewollt, dem können wir doch nimmermehr aus der Schule laufen! Welch einen Schatz haben Sie noch an diesem allerliebsten Töchterchen! Gelt, Kind, du wirst die alte Rätin auch ein wenig lieb haben wie weiland deine Mutter, als sie noch ein junges Ding war?«

Sie bot Gabrielen die Hand, in welche diese freudig einschlug; die alte Dame, die so grundverschieden von allen zu sein schien, die sie bisher kennen gelernt hatte, gewann in wenig Augenblicken ihr Herz. Man war bald in lebhafter Unterhaltung, von beiden Seiten gab es viel zu fragen und zu erzählen. »Ja, Kleine,« sagte die Rätin, »hier in Weimar gilt's, Augen und Ohren weit aufzusperren, denn hier wimmelt es von großen Leuten, und Geist und Witz sprühen nur so in der Luft umher. Da ist zuerst Herr v. Goethe, unser Minister und die rechte Hand unseres durchlauchtigen Herrn, von dem wirst du wohl schon manches gehört und gelesen haben. Der ist mein guter Freund und kommt hin und wieder, um ein Stündchen mit mir zu plaudern; er sagt, ich erinnere ihn so sehr an seine Mutter, und darauf bin ich ordentlich stolz. Dann ist da unser Generalsuperintendent v. Herder, das ist ein mächtig gelehrter und ernsthafter Herr, nur sind seine Predigten ein wenig zu hoch und schwer für uns ungelehrte Leute. Auch unser lieber Wieland ist nicht zu vergessen – ein prächtiger, alter Herr voll Leben und Humor und mit dem besten Herzen von der Welt. Freilich, für euch junges Volk wollen sich seine lustigen Sachen nicht alle schicken, aber uns Alte ergötzen sie weidlich, denn uns können sie nicht mehr schaden. Nun spricht man auch noch davon, den Professor Schiller aus Jena herzuziehen – na, es soll mich wundern, wie sich der Feuerkopf mit unserem Geheimrat vertragen wird! Aber ich langweile euch mit meinem endlosen Geschwätz,« unterbrach sie sich selbst, »haltet es der alten Frau zugute, sie sitzt oft einsam und allein da und muß alle ihre Weisheit für sich behalten!«

Gabriele sah fragend auf ihre Mutter, die etwas erschöpft aussah. »Mama ist von der weiten Reise ermüdet und muß früh zur Ruhe gehen,« sagte sie, »aber ich bin es nicht im mindesten, und wenn Sie mir erlauben, noch ein Stündchen bei Ihnen zu sitzen, dann höre ich Ihnen gar zu gern zu.«

Die Rätin strich liebkosend über ihre Wangen. »Deine Augen sehen freilich noch gar nicht schläfrig aus, Kleine, und wenn du Lust hast, erzähle ich dir noch manches von unserem guten Weimar. Habe ich doch über vierzig Jahre hier gelebt und viel gesehen – ich komme mir manchmal wie eine lebendige Chronik vor.«

Gabriele begleitete ihre Mutter in das Gastzimmer, überzeugte sich, daß es ihr an nichts fehle und die treue Fanny in der Nähe sei, und kehrte dann zurück; sie war sehr begierig, noch mehr von den Menschen und den Verhältnissen zu hören, für die sie schon lange ein lebhaftes Interesse fühlte. »Wenn ich nur einmal Herrn v. Goethe sehen könnte!« sagte sie mit Wärme. »Nur ganz von fern natürlich, ich möchte nur wissen, wie der Mann aussieht, der so himmlische Sachen wie den Egmont und die Iphigenie schreiben kann!«

»Nichts leichter als das, mein Kind; wir dürfen nur ins Theater gehen, wo er fast täglich ist, da kannst du ihn dir ganz ausführlich von hinten und von vorn beschauen. Ich hoffe nur, sie geben morgen etwas Lustiges, denn ich bin gern lustig und sehe die Leute um mich her auch lieber lachen als weinen. Also abgemacht, morgen gehen wir ins Schauspiel.«

»Sie sind sehr gütig,« sagte Gabriele hocherfreut, »ich habe noch nie eine Komödie gesehen, außer einem Puppenspiel auf dem Jahrmarkt in Eisenach. Aber sind Sie auch schon wohl genug, um auszugehen, Frau Rätin? Ich hoffe nur, Sie werden sich keinen Schaden tun, um mir einen Gefallen zu erweisen.«

»Sei ohne Sorgen, mein süßes Mädchen; das Sehen und Hören strengt mich gar nicht an. Theater und Musik sind immer mein Gaudium gewesen, ich weiß wenig anderes, was mich so froh macht. Und froh möchte ich sein, solange ich lebe! Siehst du, Kind, das ist die größte Gnade, die mir der liebe Gott verliehen hat: es ist noch keine Seele, wes Standes, Alters und Geschlechts sie auch sein mochte, mißvergnügt von mir gegangen, und das kommt daher, weil ich selbst immer von Herzen vergnügt bin.«

»Aber wie ist das möglich?« fragte Gabriele nachdenklich. »Mir scheint das Leben so viel Rätsel aufzugeben, an denen man sich vergeblich den Kopf zerbricht – wie kann man da immer sorglos und heiter sein?«

»Ach, Kind, spinne dich nur nicht in solche trübselige Gedanken ein! Ich kenne freilich viele Menschen, die gar nicht glücklich sind, und die sich das arme bißchen Leben blutsauer machen, aber an all dem Unmut trägt das Schicksal nur die geringste Schuld: in der Ungenügsamkeit liegt gewöhnlich der ganze Fehler! Man muß es nur verstehen, die kleinen Freuden zu genießen und keine großen zu verlangen. Ich für meine Person suche keine Dornen auf, sondern hasche nach jeder Blüte; sind die Türen niedrig, so bücke ich mich; kann ich den Stein nicht aus dem Wege räumen, so gehe ich um ihn herum, und so finde ich alle Tage etwas, das mich freut. Mach' es auch so, Kleine, es wird dich nicht gereuen!«

»Ich will es versuchen«, erwiderte Gabriele. Die heitere Lebensauffassung der alten Frau, die in ihrem langen Leben sicher manches Leid erfahren hatte, gefiel ihr, und es erschien ihr wohl der Mühe wert, in vorgerückten Jahren noch so fröhlich zu sein und so erfrischend auf andere zu wirken, wie ihre neue Freundin. »Aber sagen Sie mir, Frau Rätin,« fuhr sie, zu ihren vorigen Gedanken zurückkehrend, lebhaft fort, »waren Sie schon in Weimar, als der junge Herr Goethe hier einzog?«

»Ei freilich, ich erinnere mich noch wie heute des Aufsehens, das seine Erscheinung hervorrief. Wir hatten eben seinen Werther gelesen, über seine Leiden geweint und für die reizende Lotte geschwärmt – und nun ging er selbst über uns auf wie ein Stern, im Glanz seiner jugendlichen Schönheit. Ich sage dir, Kind, solch einen Mann haben meine Augen all mein Lebtag nicht zum zweitenmal gesehen! Die Leute meinten, es läge wohl an seinem aparten Anzug und ahmten ihn nach, aber es lag nicht an dem blauen Frack mit den goldenen Knöpfen, an den gelben Lederhosen und Stulpenstiefeln – die konnten sie alle anziehen, aber es sah keiner darin so prächtig aus wie er. Es konnte ihm auch keiner widerstehen, nicht Mann noch Frau; zuerst schüttelten sie wohl die Köpfe und meinten, solch ein Betragen sei bei Hofe noch nicht dagewesen, aber böse konnte ihm keiner sein, nicht einmal die Herzogin Amalie, die doch anfangs sehr erzürnt auf ihn war, weil er in einem übermütigen Büchelchen ihren lieben Wieland schlimm verspottet hatte. Und was für ein Leben brachte er in unsere stille Stadt! Da waren im Winter die Schlittschuhfeste auf dem Schwanenteich; ringsum war alles mit Lampen und Fackeln hell erleuchtet, die Musik spielte, die Raketen stiegen zum dunkeln Himmel auf, die Herzogin und ihre Damen, maskiert wie zur Faschingszeit, fuhren in Stuhlschlitten umher, die ganze vornehme Welt tummelte sich auf dem Eise; dazwischen aber flog der Goethe dahin wie ein junger Gott, und aller Blicke waren auf ihn gerichtet.« Nach Lewes: Goethes Leben.

»Ich hätte ihn sehen mögen«, sagte Gabriele mit glänzenden Augen.

»Ja, Kind, du hättest deine Freude daran gehabt wie wir alle«, versetzte die Rätin. »Und dann das Liebhabertheater, das er in Gang brachte! Solche Aufführungen sieht man nicht oft in der Welt, denn wenn sonst das leichte Völkchen der Komödianten nicht in besonderer Achtung steht, so waren hier die Schauspieler Herzöge, Prinzen und hochgestellte Damen und Herren, sogar die Herzoginmutter verschmähte es nicht, mitzuwirken. Manchmal habe ich ihnen zugesehen, denn sie spielten meist im Freien, bald in Ettersburg mitten im Walde, oder in Tiefurt, da, wo die Ilm die Krümmung macht, oder in Belvedère zwischen den hohen Hecken, welche die Kulissen vorstellten. Gott, was war es für ein Leben voll Übermut, voll Witz und Heiterkeit! Zuweilen trieben die beiden, Goethe und der junge Herzog Karl August, es freilich ein bißchen arg mit all der Genialität, aber dabei vergaßen sie das Land nicht, sondern erledigten alle Geschäfte pünktlich und sorgfältig, so daß die Lästerzungen ganz verstummen mußten.«

»Kennen Sie auch die beiden Fürstinnen?« fragte Gabriele, »Mama spricht davon, mich ihnen vorzustellen.«

»Ich kenne beide«, nickte die alte Dame. »Vor der Herzoginmutter darfst du dich nicht fürchten, die ist auch eine von denen, die gern vergnügt sind und lustige Gesichter um sich sehen mögen. Sie ist sehr klug und liebt die Unterhaltung mit gescheiten Männern über alles, aber dabei hat sie eine harmlose Freude an Spiel und Tanz und ist nicht ein bißchen steif und hochmütig. Einmal habe ich sie gesehen, wie sie mit sieben Freunden auf einem Leiterwagen aus Tiefurt kam; unterwegs hatte ein Regenguß sie überfallen, und sie hatte sich Wielands grünen Überrock angezogen. Das sah drollig genug aus, aber es störte sie gar nicht. Ganz anders ist die junge Herzogin Luise, die Gemahlin unseres regierenden Herrn; die ist ein wenig kalt und streng in ihrem Benehmen, aber eine wahrhaft große und gütige Seele, vor der jedermann nur Respekt haben muß. – Aber was höre ich? Da schlägt wahrhaftig schon die Bürgerstunde, und ich sitze und schwatze noch immer! Nun aber keine Silbe mehr – gute Nacht, Kleine, morgen ist auch noch ein Tag zum Plaudern!«

Die folgenden Tage verflossen den Reisenden bei verschiedenen Besuchen und bei Besichtigung der Weimarer Sehenswürdigkeiten, deren es freilich nicht allzuviele gab. Die Krone blieb immer der Park, in seinen Hauptteilen eine Schöpfung Goethes, welche schon allein genügt hätte, um ihm ein bleibendes Andenken bei seinen Mitbürgern zu sichern. Man machte die beiden Damen besonders auf das Borkenhäuschen aufmerksam, das an einer malerischen Stelle, unweit der rauschenden Ilm, unter einer Gruppe herrlicher Bäume steht; es war ursprünglich, nach Goethes Angaben, als Überraschung für die Herzogin errichtet, dann aber ein Lieblingswohnsitz ihres hohen Gemahls geworden. Von Holz erbaut, mit Baumrinde bedeckt, kaum zwanzig Fuß im Geviert, lehnt sich das Hüttchen an einen Felsen, rohe Holzstufen führen zu der Galerie hinauf, die es rings umgibt. In dem einzigen inneren Raum, der zugleich Schlaf- und Studierzimmer, Speise- und Konferenzsaal war, hatte der Herzog Karl August manchmal monatelang ganz allein gehaust, wenn er dem Zwang der Hofetikette entrinnen wollte; hier verhandelte er über die wichtigsten Angelegenheiten mit dem Kammerdirektor und verlebte köstliche Stunden mit dem Freund Goethe, den er aus seinem Gartenhause durch verabredete Zeichen herbeirufen konnte. Still und friedlich lag das Haus des großen Dichters dem kleinen Asyl seines fürstlichen Herrn gegenüber; die Stadt war durch dichte Bäume dem Blick entzogen und störte die beschauliche Einsamkeit nicht, in die das Geläute der Kirchenglocken, die Musik der Kasernen und der Schrei der Pfauen im Park nur gedämpft hineinklang. Hier hatte Goethe sieben Jahre lang Sommer und Winter hindurch gewohnt, und als ihm später der Herzog ein Haus am Frauenplan schenkte, zog er sich noch oft in sein geliebtes Gartenhaus zurück Nach Lewes. und verschloß, wenn er ganz ungestört sein wollte, sämtliche Türen und Brücken, die nach der Stadt hinführten, so daß seine Freunde klagten, sie könnten nur mit Hilfe von Dietrichen und Brechstangen zu ihm gelangen.

»Denkt euch meinen Ärger,« sagte die Rätin, als die beiden Damen das Mittagessen bei ihr einnahmen, »da läßt der Geheimrat heute mir zum Possen den Egmont aufführen!«

»O, das hat er gewiß mir zuliebe getan!« rief Gabriele fröhlich; »denn den Egmont zu sehen war gerade mein sehnlichster Wunsch! Aber warum sind Sie damit nicht zufrieden, liebe Frau Rätin? Finden Sie das Stück nicht auch ganz wundervoll?«

Die alte Dame hob in komischem Entsetzen die Hände auf. »Bleibt mir mit euern Tragödien vom Leibe,« sagte sie ganz entrüstet, »schön zu lesen mögen sie sein, aber soll ich dazu ins Theater gehen, um mir mit Fleiß das Herz zerreißen zu lassen? Ich, die ich nur den Frohsinn liebe und allem Traurigen so weit aus dem Wege gehe, wie ich kann? Ich will, wenn's sein muß, den Teufel verschlingen, ohne ihn lange zu begucken, aber ihn mir just aufsuchen und mich mit Gewalt traurig stimmen lassen – dafür danke ich! Morgen geben sie Figaros Hochzeit von Mozart; da will ich mit euch hingehen, das ist eine göttliche Musik, die einem das Herz erquickt.«

»Also Opern werden hier auch gegeben?« fragte Frau v. Fiedler. »Ich wußte gar nicht, daß die hiesige Bühne einen so umfassenden Spielplan hätte.«

»Ei gewiß! Unser Geheimrat ist ein Tausendsasa, und seit er vor drei Jahren die Leitung unseres neuen Theaters übernahm, hat er das Unmögliche möglich gemacht. Die Schauspieler müssen alle auch Sänger sein, den Chor stellt das Gymnasium in seinen größeren Schülern. Da gibt's denn freilich viel Zank und Streit, und die beiden Direktoren, der vom Theater und der von der Schule, liegen sich oft in den Haaren, weil der eine die jungen Leute zu Proben und Aufführungen, der andere zum Lernen und Studieren haben will. Aber der Goethe läßt nicht mit sich scherzen, der setzt immer sein Stück durch und kommandiert seine Leute wie ein General seine Soldaten. Ich sage euch, da darf keiner mucksen, und wer es versucht, dem bekommt es schlecht; die Männer schickt er auf die Wache, wenn sie widerspenstig sind, den Frauenzimmern gibt er Stubenarrest und stellt ihnen eine Schildwache vor die Tür.«

»Da mögen sie aber recht schlecht auf ihn zu sprechen sein und ihm sein Amt sehr schwer machen«, meinte Gabriele.

»Keineswegs,« versetzte die Rätin, »sie hängen doch an ihm wie an einem Vater, dessen schwere Hand man wohl manchmal fühlt, und den man doch von Herzen liebt und verehrt. Es laufen ihm auch die besten Talente zu, und man sagt, es wären viele unserer Schauspieler guter Leute Kinder, die unter einem anderen Namen auftreten, weil sie durch den Zauber des Namens Goethe unwiderstehlich gelockt werden.«

Die alte Dame ließ ihre Gäste wirklich allein ins Theater gehen, gab ihnen aber einen kundigen Begleiter mit, einen älteren Herrn, der ihnen über alle hervorragenden Persönlichkeiten Aufschluß geben sollte. Kraft ihres adeligen Namens erhielten sie Plätze im ersten Rang, den der Adel mit eifersüchtiger Strenge für seine Angehörigen allein beanspruchte. Es waren erst wenige Menschen in dem Musentempel versammelt, aber das war Gabrielen gerade recht; so hatte sie Muße, sich alles genau zu betrachten und die Ankommenden zu mustern. »Sehen Sie dort den Sessel im Parterre, mein Fräulein?« fragte der dienstfertige Begleiter. »Das ist der Sitz des Geheimrats v. Goethe, von dem aus er Bühne und Zuschauerraum mit seinem Jupiterblick beherrscht. Bitte, wenden Sie Ihre Augen rechts; dort, in der dritten Loge von hier, ist eben Frau v. Stein erschienen, die berühmte Freundin unseres großen Dichters. Und dort links treten gerade die fürstlichen Damen ein; die kleinere mit der edlen Haltung und dem freundlichen Gesicht ist die Herzoginmutter Amalie, das etwas verwachsene Dämchen hinter ihr ist Fräulein v. Göchhausen, ihre vertraute Hofdame, in jüngeren Jahren ein neckischer Kobold voll Witz und Laune und eine große Verehrerin Goethes. Kennen Sie den allerliebsten Scherz, den sich einst – es ist freilich lange her – Serenissimus und sein junger Freund mit ihr machten? Sie hatte eines Abends ihre Gebieterin verlassen und ging mit einem Lichte in der Land die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf; plötzlich verlischt das Licht, aber sie geht ruhig weiter, sie kennt ja die Örtlichkeit ganz genau. Sie erreicht den oberen Korridor und tastet an der Wand entlang, sie fühlt und sucht – vergebens, die Tür will sich nicht finden. Erschrocken, verwirrt, von unheimlicher Ahnung ergriffen, tappt sie wieder hinab, aber alles schläft bereits, niemand kommt ihr zu Hilfe. Wohl eine Stunde lang läuft sie auf dem Gange hin und her, halb tot vor Kälte und Angst – endlich klärt sich das Rätsel auf: der Herzog und Herr Goethe hatten heimlich die Tür ausnehmen und die Öffnung vermauern lassen!« Nach Lewes.

»Ein seltsamer Scherz«, meinte Gabriele kopfschüttelnd, »ich möchte lieber nicht der Gegenstand solcher Neckereien sein. Aber sehen Sie nur, was sind das für fragwürdige Gestalten, die dort in hellen Haufen ins Parterre eindringen? Wie wüst sehen sie aus! Ganz mit Staub bedeckt und mit solcher Fülle von Haar und Bart versehen, daß man glauben könnte, sie hätten ein Gelübde abgelegt, nie ein Schermesser an ihr Haupt zu bringen.«

»Das sind Studenten, die zu Fuß oder zu Pferde aus Jena herübergekommen sind, um der Theatervorstellung beizuwohnen.«

»Wirklich? Das sind künftige Gelehrte, Pastoren und hohe Beamte? Sie sehen mehr aus, als gehörten sie zu Schillers Räubern.«

»Der Most braust und schäumt und wirft seltsame Blasen auf, mein Fräulein, aber wenn die Gärung vorüber ist, wird ein klarer, stärkender Wein daraus. So werden aus wilden Jünglingen oft tüchtige Männer. Aber sehen Sie, da ist Herr v. Goethe, nun wird die Aufführung gleich beginnen.«

Mit tiefer Ehrfurcht betrachtete Gabriele den Mann, der durch seine Werke schon so oft ihr Herz gerührt, ihre Seele erhoben und mit Begeisterung erfüllt hatte. Sie sah eine stattliche Gestalt von aufrechter, etwas steifer Haltung vor sich, mit einem schönen Kopf, in dem die mächtige Stirn und die großen, strahlenden Augen sofort einen bedeutenden Eindruck machten. Alles grüßte ihn ehrerbietig, sogar die wilden Studenten, die sich gegen das übrige Publikum wenig höflich zu betragen schienen. Goethe dankte nur mit vornehmer Neigung des Kopfes, ließ einen Augenblick seinen Adlerblick prüfend im Hause umherschweifen und gab dann das Zeichen zum Beginn. Der Vorhang ging auf, und bald nahm die Darstellung des Egmont alle Sinne und Gedanken des jungen Mädchens gefangen.

»Das sind nun die schlimmen Folgen«, sagte die Rätin, als beim Abendessen Gabriele ihr still und in sich gekehrt gegenüber saß und auf ihre Fragen nur einsilbige Antworten gab, »die Augen trübe vom Weinen, das Herz von Traurigkeit beschwert, keine Lust zu gemütlicher Unterhaltung und eine Neigung, alle Menschen, die diese tränenvolle Stimmung nicht teilen, für herzlose Barbaren zu halten – und das soll ein Vergnügen sein!«

»O nein, so schlimm steht es nicht!« rief Gabriele errötend. »Bitte, verzeihen Sie meine Unart! Größer als die Traurigkeit ist doch die Erhebung; mir scheint, als wäre ich noch nie so hoch über alles Kleinliche und Niedrige erhaben gewesen wie eben jetzt! O, welch ein Genius wohnt in diesem wunderbaren Mann! Er hat unsere Herzen ganz in seiner Gewalt, er kann sie rühren und fortreißen, wie es ihm gefällt!«

»Hast recht, mein Kind!« nickte die alte Dame; »so hab' ich's auch mehr als einmal empfunden, als ich noch jünger war. Ich will deine Rührung auch nicht schelten, sie steht dir gut, und junge Leute können sich den Luxus gestatten, Tränen um erdichtete Leiden zu vergießen, weil sie noch wenig wirkliche kennen. Aber es wird mir eine Lust sein, dich morgen in den Figaro zu führen; da sollst du einmal hören, wie dieser Liebling der Götter und Menschen, dieser sangeslustige Mozart, die Herzen zu laben versteht.«

Wenn die Rätin sich auf den Eindruck gefreut hatte, den das unsterbliche Meisterwerk auf das empfängliche Gemüt ihres jungen Gastes ausüben würde, so sah sie sich in ihren Erwartungen nicht getäuscht. Man hatte in Scharfeneck viel Musik gemacht, geistliche und weltliche; der Magister spielte selbst Klavier und Geige und gab seinen Zöglingen gründlichen Unterricht darin. Neben den Kompositionen älterer Meister hatte man auch manches schöne Stück von Haydn, Mozart und Gluck gespielt und gesungen, und selbst der verwöhnte Comte de Malthême hatte mit Vergnügen diesen Hauskonzerten zugehört und seinen Bariton in die jugendlichen Stimmen hineintönen lassen. Aber auf die Flut von Wohllaut, wie sie in Figaros Hochzeit strömt, war das Landkind doch nicht vorbereitet; sie lauschte mit ganzer Seele, und hatte das gestrige Trauerspiel sie still gemacht, so sang sie heute schon auf dem Rückwege all die süßen Melodien nach und konnte gar kein Ende finden, um ihrer Mutter, die zu Hause geblieben war, ihr Entzücken zu schildern.

Die Tage in Weimar vergingen nur zu schnell; Gabriele schwelgte in all den ungewohnten Genüssen, in Theater, Konzerten und dem Verkehr mit vielen Menschen. Auch die Vorstellung bei den beiden Herzoginnen war viel angenehmer abgelaufen, als sie gefürchtet hatte; bei beiden war Frau v. Fiedler sehr huldvoll aufgenommen worden, denn sie und ihr Gatte hatten in früheren Zeiten oft bei Hofe verkehrt und standen dort noch im besten Andenken, das sich in freundlichem Wohlwollen auf die Tochter übertrug. Die Herzoginmutter hatte beide Damen aufgefordert, sie einen Abend ganz zwanglos zu besuchen, sie erwarte einige gute Freunde, darunter Goethe und Wieland. Wie klopfte Gabrielens Herz bei dem Gedanken, mit so berühmten Männern an einem Tische zu sitzen, sie reden zu hören, wohl gar selbst mit ihnen zu sprechen!

Es war nur ein kleiner Kreis, der sich in den Gemächern der hohen Frau zusammenfand; das flackernde Kaminfeuer machte einen behaglichen Eindruck, denn die Abende wurden, trotz des herbstlichen Sonnenscheins, der die Tage erleuchtete, schon kühl und winterlich. Eine lebhafte, geistvolle Unterhaltung flog von Mund zu Mund, aber Gabriele hörte nur mit halbem Ohr zu, ihre Blicke waren fortwährend auf die Tür gerichtet, durch welche Goethe eintreten sollte. »Der Geheimrat war im Kabinett meines Gatten,« sagte die Herzogin Luise, »die Herren hatten Geschäfte zu besprechen und wollten dann zusammen herüberkommen.« Aber statt ihrer erschien ein Kammerjunker mit der Meldung, Serenissimus hätte wichtige Depeschen aus Frankreich erhalten und bäte, sein und Herrn v. Goethes Nichtkommen zu entschuldigen.

»Wie ärgerlich!« sagte die Herzoginmutter; »ich hoffe, es ist kein neues Unheil geschehen. Dieses unselige Volk hat uns schon so viele Schrecknisse bereitet, daß wir wahrlich genug daran haben. Haben Sie nicht gehört, lieber J., was vorlag?« wendete sie sich an den jungen Mann.

»Der Konvent hat am 13. Oktober die Königin Marie Antoinette vor sein Tribunal gestellt und zum Tode verurteilt,« erwiderte der Kammerjunker mit tiefem Ernst, »das Urteil ist an demselben Tage vollzogen worden.«

Ein unwillkürlicher Ausruf des Entsetzens entfuhr den Anwesenden bei dieser Schreckenskunde; dann senkte sich ein tiefes, banges Schweigen auf die Gesellschaft herab. Herzogin Amalie hatte ihre Augen mit der Hand bedeckt, nach einer langen Weile blickte sie auf, ihr Antlitz war bleich vor Erregung. »Wer hätte nicht seit seiner Jugend vor der Hinrichtung Karls des Ersten geschaudert«, sagte sie mit bebenden Lippen, »und zu einigem Troste gehofft, daß dergleichen furchtbare Szenen sich nicht abermals ereignen könnten! Nun aber wiederholt sich alles, greulicher und grimmiger, bei dem gebildetsten Nachbarvolke wie vor unseren Augen, Tag für Tag, Schritt für Schritt. Unsere Heere, welche ausgezogen waren, um den König und seine Familie zu retten, konnten in seinen Prozeß nicht eingreifen, die Vollstreckung seines Todesurteils nicht hindern! Nach Goethe. Dies aber ist der Höhepunkt des Entsetzlichen: eine Frau, eine Königin, eine deutsche Kaisertochter wird zum Schafott geschleppt, und ihr Haupt fällt unter dem Beil der Guillotine! – Meine Freunde, ich glaube, jeder von uns wird das Bedürfnis fühlen, nach dieser Nachricht in die Stille zu gehen und mit sich allein zu bleiben. Ich will Sie nicht aufhalten, leben Sie wohl für heute.«

In tief gedrückter Stimmung empfahlen sich die Gäste; manch einen mochte die unheimliche Ahnung beschleichen, daß der unersättliche Dämon der Revolution, wenn er daheim kein Blut mehr fände, um sich daran zu berauschen, sich auf die Nachbarn werfen würde, um seinen Durst zu löschen. Frau v. Fiedler fühlte sich bis in die Tiefen ihrer Seele erschüttert, der Tod der Königin rief ihr den ihres Sohnes in schmerzlicher Lebhaftigkeit zurück. Auch Gabriele war tief ergriffen und unsäglich betrübt; es kam ihr plötzlich wie ein unbegreiflicher Leichtsinn vor, daß sie gelacht, gescherzt und ihr Leben genossen hatte, als ob die Welt im tiefsten Frieden läge. Was würde der Graf v. Malthême zu diesem Ausgang seiner heißgeliebten Königin sagen? War dieser grausame Mord einer wehrlosen Frau nicht eine noch größere Schmach für Frankreich, ein noch herberer Vorwurf für die Fürsten Europas als selbst der Tod des Königs? Aber freilich hatte der liebenswürdige Franzose auch nichts anderes zu tun gewußt, als die Hände in den Schoß zu legen und müßig abzuwarten, was die Zukunft bringen würde. Arme, unglückliche Königin! Aller Vorzüge ihrer Stellung beraubt, von allen Freunden verlassen, von ihren Kindern mit ausgeklügelter Grausamkeit getrennt, mit schändlichen Anklagen überhäuft, war ihr nichts übriggeblieben, als die innewohnende Majestät des Weibes und der erhabene Heldenmut der Christin, welche selbst ihren entmenschten Richtern Achtung und Ehrfurcht abgenötigt hatten!

So schloß der Aufenthalt in Weimar mit einem schrillen Mißklang, und vergebens versuchte die Rätin, die trübe Stimmung ihrer Gäste hinwegzuscherzen. Wenige Tage später nahmen sie Abschied von der freundlichen Frau und der Musenstadt und setzten ihre Reise fort, die nach verschiedenen Unterbrechungen ihr Ziel in Berlin fand.


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