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Neuntes Kapitel.
Unverhofft

Blick' auf, du trauernd Mutterherz,
Heut nimmt ein Ende deine Not;
In Wonne wandelt sich dein Schmerz,
Und Leben blüht dir aus dem Tod.

Es war ein frischer, fröhlicher Wintertag, an welchem Frau v. Fiedler nach dreimonatiger Abwesenheit wieder in Scharfeneck ankam; der Amtmann hatte den Damen bis Eisenach einen vierspännigen Schlitten entgegengeschickt, und unter lustigem Schellengeläut flogen sie pfeilschnell über die glatte Fläche dahin. Gabriele klatschte vor Freude in die Hände, als sie die Berge und Wälder der Heimat wiedersah, die im hellen Sonnenschein in ihren schimmernden Schneemänteln dastanden, als hätten sie sich zu ihrem Empfange besonders geschmückt. Und nun tauchte der Kirchturm von Tannenrode auf, nun durcheilten sie die Dorfstraße und bogen bald darauf in die Allee ein, die zum Schlosse führte. Wie vertraut sah das alles aus! Mit welchem Zauber begrüßte das eigene Heim die Reisenden! Das ganze Dienstpersonal, der Amtmann und der Magister standen mit frohen Gesichtern vor der Tür, die Ebnerschen Knaben riefen Hurra, die unzertrennlichen Kleinen, Dora und Amtmanns Lotte, jauchzten vor Lust, und selbst das stille Antlitz der blinden Maria drückte die innigste Freude aus. Ja, es lohnte sich, in die Welt hinauszufliegen, schon allein um die Wonne der Heimkehr zu genießen!

Als die Hausgenossen sich um den Mittagstisch versammelten, stellte sich noch einer zur Begrüßung ein: der Comte de Malthême. Die Mutter machte ein sehr erstauntes, die Tochter unwillkürlich ein sehr erfreutes Gesicht bei seinem Anblick. »Wo kommen Sie plötzlich her, Herr Graf?« riefen beide zugleich.

»Ich habe verschiedene deutsche Höfe bereist,« erwiderte er, indem er Frau v. Fiedlers Hand ehrerbietig an seine Lippen zog und die von Gabriele mit sanftem Druck festhielt; »man war ungemein freigebig mit den schönsten Verheißungen, aber während ich auf ihre Erfüllung warte, zog es mich unwiderstehlich zurück in das traute Asyl, das meinem Herzen so unaussprechlich teuer geworden ist. Darf der Heimatlose hoffen, auch diesmal die gütige Aufnahme zu finden, die einst dem Todkranken in so beglückendem Maße zuteil wurde?«

»Sie sind uns allezeit ein willkommener Gast, bis Sie eine bessere Stätte gefunden haben«, versetzte die Freifrau herzlich; sie konnte in diesem Augenblick nur an die Pflicht der Gastfreundschaft denken.

»Meine kleine Freundin hat mir noch mit keinem Wort gesagt, daß sie sich freue, mich wiederzusehen«, sprach Malthême bei Tische zu Gabriele, aber so gedämpft, daß die andern es nicht hören konnten.

»Finden Sie mich immer noch so klein, Herr Graf?« fragte sie dagegen. »Mir scheint, als müßte ich ein großes Stück gewachsen sein; ich komme mir auch viel älter vor, so viele Menschen habe ich kennen gelernt, so viele Erfahrungen gesammelt, so sehr meinen engen Gesichtskreis erweitert. Man kommt nicht als dasselbe Kind zurück, wenn man eine Weile in der großen Welt gelebt hat.«

»In der Tat, Fräulein Gabriele, Sie haben sich sehr verändert,« sagte der Franzose, indem er seine Nachbarin erstaunt betrachtete, »Sie sind eine große Dame geworden, aber ich wünschte, Sie hätten das alte, warme Kinderherz für Ihre Freunde mitgebracht.«

»Ich hoffe es«, erwiderte sie ernst. »Aber sagen Sie, Herr Graf,« fuhr sie in leichtem Tone fort, »haben Sie meinem Unterricht Ehre gemacht? Haben Sie unterwegs Deutsch gesprochen, und hat man Sie auch verstanden?«

»O Mademoiselle, wie oft und dankbar habe ich Ihrer Güte gedacht! Man war entzückt von meinem Deutsch, man beneidete mich um meinen trefflichen Lehrmeister, man wünschte einen ähnlichen Vorzug genießen zu dürfen!«

»Ich fürchte, das waren Schmeichler, die es mit der Wahrheit nicht allzugenau nehmen,« lachte das junge Mädchen, »trauen Sie ihnen nicht zu sehr, M. le comte

Sie konnte den Augenblick kaum erwarten, mit ihm über Virginie Durand zu sprechen, aber die Sache war zu zart, um es vor den Ohren anderer zu tun, sie mußte dazu mit ihm allein sein. Die Gelegenheit fand sich bald; Malthême forderte sie zu einer Schlittenfahrt auf, wozu der helle Sonnenschein und die weiten Schneeflächen höchst verlockend einluden. Sie war gern dazu bereit, erbat sich aber von ihrer Mutter die Begleitung der kleinen Dora. Fröhlich plaudernd fuhren sie dahin, der Graf lenkte selbst die Rosse und hatte sogar den Stallknecht abgelehnt, der sonst hinten auf der Pritsche zu sitzen pflegte.

»Ich habe in Berlin einige Landsmänninnen von Ihnen kennen gelernt, Emigranten aus dem südlichen Frankreich«, fing Gabriele entschlossen an. »Ist Ihnen eine Familie Durand bekannt?«

Der Franzose verneinte. »Vielleicht haben die Damen einen anderen Namen angenommen,« fuhr sie fort, »sie haben viele schmerzliche Verluste erlitten und lebten in tiefer Zurückgezogenheit von ihrer Hände Arbeit. Ich bewundere von Herzen den tapferen Mut, mit dem so zarte Wesen wie Virginie und Margot ihr schweres Schicksal ertragen.«

Gabriele warf bei diesen Worten einen prüfenden Seitenblick auf ihren Nachbar und glaubte auf seinem Gesicht eine gewisse Bewegung zu bemerken. »Margot erwähnte des Verlobten ihrer Schwester, mit dem sie von klein auf versprochen sei,« redete sie weiter, »und wie sehr die Ungewißheit über sein Schicksal ihr Herz bedrücke. Ich hoffte, Sie würden vielleicht die Familie kennen und etwas von dem Bräutigam wissen.«

Der Graf sah ernst vor sich hin und trieb die Pferde zu noch schnellerem Laufe an. »Ich bedaure, Ihre menschenfreundliche Absicht nicht fördern zu können,« sagte er endlich kühl, »der Name Durand ist mir völlig unbekannt. Übrigens, mein Fräulein, denken Sie sich die Sache ganz anders, als sie in Wirklichkeit ist. Es kommt bei uns nicht selten vor, daß man Kinder in zartem Alter füreinander bestimmt, falls die äußeren Umstände eine Vereinigung der Familien wünschenswert machen. Von einer Herzensneigung kann dabei natürlich nicht die Rede sein, doch wird der Gedanke mit den Beteiligten groß und erhält endlich die Bedeutung eines Schicksals, dem man nicht entfliehen kann; bleiben die Verhältnisse dieselben, so wird zu passender Zeit ein Ehebund daraus. Aber wohl gemerkt: wenn die Verhältnisse sich nicht ändern! Denn Gleichheit ist die eigentliche Grundlage der Vereinigung. Wenn Mademoiselle Durand ihr Vermögen verloren hat, so wäre es eine Torheit, an der Verlobung festzuhalten, und unsere jungen Damen sind in der Regel viel zu verständig, um solchen romantischen Grillen nachzuhängen.«

»Wie frostig das klingt!« sagte Gabriele unwillig; »sind denn Liebe und Treue Worte, die in Frankreich keinen Klang, keine Bedeutung haben?«

»In dieser Beziehung können wir in der Tat noch viel von unseren deutschen Nachbarn lernen«, versetzte der Graf seufzend, und in seinem weichsten Tone fuhr er fort: »Sie sind schon einmal meine Lehrmeisterin gewesen, teuerste Cousine; wollen Sie mich auch in dieser Lektion als Ihren dankbaren Schüler annehmen? Wollen Sie mich lehren, Liebe und Treue auf deutsche Weise zu halten?«

Er suchte ihr ins Gesicht zu sehen, das sie verwirrt von ihm abwandte; in demselben Augenblick gab es einen Ruck, der Schlitten schlug um und schüttete seine Insassen in den tiefen Schnee aus, während die erschreckten Pferde mit dem leichten Gefährt davonjagten. Der Franzose war zuerst auf den Beinen; er wollte Gabriele aufhelfen, aber sie rief ihm zu, er möchte die Flüchtlinge zu fangen suchen, und gehorsam eilte er hinter ihnen drein, während sie sich und die zappelnde und schreiende Dora aus den Pelzen und Decken befreite, in die beide fest eingehüllt waren. Sie fühlte gleich, daß sie unverletzt sei, die Kleine aber war auf einen Stein gefallen und fühlte große Schmerzen an der Stirn. Gabriele beruhigte sie durch Liebkosungen und sanftes Zureden, sie drückte Schnee auf die Beule und sah sehnsüchtig der Rückkehr des Schlittens entgegen, denn es wäre unmöglich gewesen, mit dem Kinde zu Fuß nach Hause zu gelangen. Endlich hörte sie die Schellen läuten, unbeschädigt kam das Fuhrwerk zurück, der Graf half den Schwestern einsteigen und erging sich in beredten Entschuldigungen seines Ungeschicks. Gabriele hatte das Kind auf ihren Schoß genommen und fest an sich gedrückt; sie versicherte, daß die kleine Wunde nichts auf sich habe und der Schrecken sicherlich ganz unschädlich sei; in ihrem Herzen segnete sie den Zufall, der sie einer augenblicklichen Antwort auf eine merkwürdige Frage überhoben hatte.

Die beiden Damen saßen an demselben Abend mit ihrem Gaste am Kamin und tauschten ihre beiderseitigen Reiseerlebnisse aus, als der Amtmann ins Zimmer trat – eine so ungewöhnliche Erscheinung zu dieser Stunde, daß alle drei befremdet aufblickten. »Was bringen Sie, lieber Ebner?« fragte Frau v. Fiedler. »Hoffentlich keine schlimme Kunde?«

»Nein – o nein – im Gegenteil! – eine gute, aber sehr überraschende – erschrecken Euer Gnaden nicht – es ist etwas Großes, Unerwartetes geschehen.«

Der alte Mann rang nach Luft, augenscheinlich befand er sich in höchster Erregung. »Was haben Sie nur, mein alter Freund?« sagte die Freifrau gütig. »Mit guter Botschaft braucht man doch nicht so hinter dem Berge zu halten?«

»Ich möchte Sie nur vorbereiten, gnädigste Frau Baronin, – es ist jemand angekommen – den Sie wohl kaum erwarten – von fern her – ein lang entbehrter ...«

Schon während der letzten Worte hatte sich die Tür ein wenig geöffnet, als ob dort jemand lausche, jetzt ward sie aufgerissen, ein junger Mann trat herein und kam mit hastigen Schritten auf die Gruppe zu. »Mutter!« rief er, und es klang halb wie Jauchzen und halb wie Schluchzen; er sank auf seine Knie nieder und schlang seine Arme um die geliebte Gestalt. Frau v. Fiedlers Augen hatten sich weit geöffnet, sie blickten starr, als sähe sie einen Geist, jeder Blutstropfen war aus ihrem Gesicht gewichen; sie wollte die Hände erheben, aber sie sanken schlank herab. »Gerhard!« stöhnte sie und fiel ohnmächtig in ihren Stuhl zurück.

»Ich habe sie getötet!« schrie der Ankömmling auf; »o ich Unseliger, warum mußte ich sie so überraschen!«

»Nein, nein, mein Bruder,« tröstete Gabriele, der die Tränen aus den Augen stürzten, »sie lebt, sie kommt wieder zu sich! Hat sie den Schmerz um deinen Tod ertragen, wie sollte die Freude über dein Leben ihr verderblich sein?« Sie badete die Stirn der Ohnmächtigen mit kaltem Wasser und hielt ihr ein Riechfläschchen dar; nach wenigen Sekunden kehrte das entflohene Bewußtsein zurück. »Habe ich geträumt?« flüsterte die Mutter, während ein glückseliges Lächeln ihre Lippen umspielte, »oder hat Gott das Opfer wirklich nicht gefordert? Hat er mir meinen Isaak zurückgegeben?« Sie schlug die Augen auf und blickte in das teure Antlitz, das sie nie wiederzusehen gehofft, dessen Verlust sie mit tausend bitteren Tränen beweint hatte. »O mein Sohn, mein Sohn, darf ich es denn glauben? Du lebst? Du bist gesund? Ich halte dich wieder in meinen Armen?«

Es waren selige Augenblicke; eng hielten Mutter und Kinder sich umschlungen und feierten die Rückkehr des Totgeglaubten mit süßen Liebkosungen und heißen Dankgebeten. Der Graf hatte längst gefühlt, daß er hier überflüssig sei, und sich leise davongeschlichen; auch der Amtmann war still hinausgegangen. Aber nun gab es ein Geräusch vor der Tür, eilige Tritte, flüsternde Stimmen, Lachen, Weinen, schüchternes Klopfen, alles zusammen drängte sich endlich an das Ohr der Glücklichen. »Herein, herein!« riefen sie mit froher Stimme, und die gesamte Dienerschaft des Hauses brach wie ein Strom ins Zimmer, der Magister und Maria hatten sich dazugesellt – alle wollten mit eigenen Augen sehen, ob die wunderbare Mär Wahrheit, ob ihr lieber junger Herr wirklich zurückgekehrt sei. Das war ein Jubeln und Preisen, ein Händeküssen und Umarmen! Jeder wollte sich selbst überzeugen, daß der Sohn des Hauses leibhaftig vor ihm stehe. Es dauerte lange, bis die stürmischen Wogen aufgeregter Freude sich wieder verlaufen hatten; Frau v. Fiedler mußte endlich einen allgemeinen Rückzug gebieten, auch Gabriele ward zur Ruhe geschickt. Gerhard aber führte seine Mutter in ihr kleines Kabinett und schloß die Tür zu.

»Nun setze dich hier in deinen Lehnstuhl, mein Mütterchen,« sagte er mit ernster Zärtlichkeit, »und laß mich zu deinen Füßen sitzen wie in der Jugendzeit, wenn ich dir alle meine Fehler und Torheiten berichtete und du mir Absolution erteiltest. O, wie habe ich mich oft nach dieser Stelle gesehnt, wie drückend und schwer war es mir, fernzubleiben; wie hat mich der Gedanke gepeinigt, daß du mich verloren glauben müßtest, daß ich diesem teuern, liebreichen Herzen so viel Kummer bereitete!«

»Und warum ließest du nichts von dir hören, mein Sohn? Warum schriebst du nicht wenigstens, wenn du nicht selbst kommen konntest? Und was konnte dich so lange von der Mutter fernhalten?«

»Viele Monate hindurch war jede Botschaft unmöglich,« erwiderte er, »mein Leben war täglich in dringender Gefahr, nur die tiefste Verborgenheit konnte mich retten. Später hätte ich wohl schreiben können – aber was ich dir zu sagen hatte, das konnte kein Brief fassen, das konnte ich dir nur Auge in Auge aussprechen. Mutter – ich komme nicht allein zurück – ich bringe dir eine Tochter und einen Enkel mit – mein Weib und meinen Sohn!«

»Gerhard!« rief Frau v. Fiedler in namenlosem Erstaunen. »Du? – noch so jung, noch unmündig – du hast dich verheiratet? – ohne mein Wissen, ohne meinen Segen?!«

»O Mutter, wenn du wüßtest, wie beides mir gefehlt hat! wie es mir das Herz abgedrückt hat, den wichtigsten Schutt meines Lebens ohne deine Billigung zu tun! Darum eben konnte ich es dir nicht schreiben, du hättest die zwingende Notwendigkeit nie begreifen können. Höre mich an!

»Walter wird dir erzählt haben, daß ich in Paris deine Jugendfreundin, Madame Clémence Matthieux, wiederfand. Als an einem jener schrecklichen Septembertage, die ein unauslöschlicher Schandfleck auf dem französischen Namen bleiben werden, fanatische Jakobiner in die Versammlung königstreuer Männer einbrachen, in der auch ich mich befand, und die Teilnehmer mit wilden Flüchen und Kolbenstößen vor sich hertrieben, gelang es mir, zu entfliehen und das Matthieuxsche Haus zu erreichen. Man nahm mich mit der größten Freundlichkeit auf und führte mich in ein abgelegenes Zimmer, wo ich fürs erste sicher sein würde. Aber kaum eine Stunde später kam Marion, die junge Tochter des Hauses, schreckensbleich hereingestürzt; man habe ihre Eltern verhaftet und wolle das Haus durchsuchen; ich müsse fliehen, sie wolle mir den Weg zeigen und mich begleiten. Wir eilten bis zum Dach hinauf, dort führte ein schmaler Steg über eine schwindelnde Tiefe ins Nachbarhaus. Ich weiß nicht, wie lange wir dort umherkletterten; zuletzt befanden wir uns in einem Mansardenstübchen, in dem eine kleine, verwachsene Person mit einer Arbeit am Fenster saß. ›Rette uns, Jeannette, wir werden verfolgt!‹ rief Marion ihr zu; jene stand auf, öffnete, ohne ein Wort zu sagen, eine schmale Tapetentür und wies uns in eine halbdunkle Kammer; ich hörte, wie sie die Tür verschloß und irgendeinen schweren Gegenstand davorschob. Stundenlang blieben wir in diesem engen Gewahrsam, einmal vernahmen wir nebenan männliche Schritte und eine laute Stimme; endlich ließ uns Jeannette heraus und sagte uns, ihr Bruder, ein eifriger Anhänger Robespierres, sei bei ihr gewesen; er habe ihr von unzähligen Mordtaten erzählt, die schon geschehen seien und noch beabsichtigt würden; später berichtete sie, daß auch Marions Eltern unter den Opfern seien, und daß ihr eigner und mein Name auf der Liste der Verfemten ständen. Das arme Kind geriet in helle Verzweiflung; sie rief, sie wolle auch nicht mehr leben, und wollte sich aus dem Fenster stürzen – mit Mühe hielt ich sie zurück.

siehe Bildunterschrift

Gerhards Hochzeitsfeier.

»Nach mehreren Tagen qualvoller Gefangenschaft sagte uns Jeannette, wir wären bei ihr nicht mehr sicher; sie brachte uns Kleider, wie sie die niedrigste Volksklasse trägt, und führte uns im Schutz der Abenddämmerung zu einem Handwerker, der vor der Welt die Rolle eines wütenden Jakobiners spielte, im Herzen aber gut königlich gesinnt war und schon manchen Verfolgten beherbergt hatte. Dort fanden wir eine Zuflucht in einem düsteren Kellergewölbe, das bereits einem Priester als rettendes Versteck diente. Zum Glück hatte ich eine ansehnliche Summe Geldes bei mir, die ich zur Sicherheit unter meinen Kleidern getragen hatte, so brauchten wir wenigstens nicht Not zu leiden. Aber du kannst dir denken, liebe Mutter, wie schrecklich diese Lage für ein junges Mädchen war! Marion hatte mir das Leben gerettet, sie selbst hatte alles verloren; ich war ihr einziger Schutz, an mich klammerte sie sich mit dem ganzen Ungestüm ihrer kindlich unerfahrenen Natur. Ich fragte sie, ob sie mein Weib werden wolle, und sie willigte ohne Bedenken ein; der Priester ließ sich bewegen, uns zu trauen. Das war meine Hochzeit, Mutter: in einem feuchten Keller, beim Schein einer trüben Lampe – die einzigen Zeugen der fremde Handwerker und seine Frau, die Barmherzigkeit an uns übten! Es war mehr wie ein Bund zum Tode als für das Leben.

»Erst nach Wochen gelang es uns, Paris zu verlassen. Ich will dich jetzt nicht mit der Erzählung all unserer Nöte und Gefahren ermüden – genug, wir erreichten schließlich die belgische Grenze und waren vorläufig in Sicherheit. Aber unsere Kräfte waren erschöpft, mühsam schleppten wir uns in ein Hospital, wo barmherzige Schwestern uns liebevoll pflegten. Zuerst war ich schwer und lange krank, dann verfiel Marion in dasselbe schleichende Fieber, das sie viele Wochen lang ans Bett fesselte. Ich konnte mich den guten Schwestern nützlich machen, ich führte ihre Bücher, besorgte ihre Geschäfte, und so behielten sie uns gern bei sich. Vor vier Monaten schenkte uns Gott einen Sohn – o Mutter, welch ein Gefühl war das! Ich hielt das kleine, hilflose Wesen in meinen Armen und bedeckte es mit Küssen; mir schien ein neues Leben in meinem Kinde aufzugehen. Ich hatte einen Lebenszweck, der alle meine Kräfte wachrief, ich zerriß mit einem Schlage die dumpfe Mattigkeit, die meine Seele gefesselt hielt! Sobald Marion ganz hergestellt war, machten wir uns auf den Weg in die Heimat, zu dir, geliebte Mutter! Wir konnten nur in kleinen Tagereisen vorwärts kommen, endlos dehnte sich mir die Zeit aus; in Frankfurt ließ ich die Meinen zurück und eilte hierher, so schnell die Postpferde mich tragen wollten. Nun weißt du, wie alles gekommen ist, Mutter – wirst du meine Frau und mein Kind liebevoll empfangen? Werden sie in deinem Hause, an deinem Herzen eine Heimat finden?«

Er blickte unruhig fragend und bittend zu ihr auf, sie aber legte die Hände um seinen Hals, stützte ihr Haupt an das seine und erwiderte in unendlich liebreichem Ton: »Das darf ich meinem Gerhard nicht erst sagen, daß die Frau, die er sich erwählt, die ihm das Leben gerettet hat, einen sicheren Anspruch an meine zärtliche Liebe und Teilnahme hat, daß es mich unaussprechlich verlangt, mein liebes Enkelkind an mein Herz zu drücken. Aber sage mir eins in dieser stillen, vertraulichen Stunde, mein Sohn: liebst du denn Marion von ganzer Seele, und bist du gewiß, daß sie dir alles gewähren wird, was du von deiner Gattin erwarten darfst?«

Gerhard blickte zu Boden, der Ernst auf seiner Stirn ward noch tiefer. »Mutter,« sagte er nach einer Pause fast flüsternd, »sie ist ein anmutiges, verwöhntes Kind; es ist wenig an ihr, was wir an einer deutschen Frau lieben und verehren. Aber sie ist noch so jung, kaum siebzehn Jahre, – ich hoffe alles für sie von deinem segensreichen Einfluß und Gabrielens schwesterlichem Verkehr. Laßt euch nur nicht gleich abschrecken, wenn euch anfangs manches fremd erscheint: sie ist Französin durch und durch, aber es ist nichts Böses an ihr!«

»Ich danke dir, lieber Gerhard,« versetzte Frau v. Fiedler ruhig, »dein Bekenntnis bleibt tief in meinem Innern verschlossen, niemand soll davon wissen als du und ich. Und nun laß uns die Ruhe suchen; schlafe wohl, mein geliebter Sohn, unter dem elterlichen Dach, und Gott sei gepriesen, der dich hierher zurückgeführt hat!« –

Erst im Lichte des folgenden Tages erkannten die Seinen die großen Veränderungen, die mit Gerhard vorgegangen waren. Er schien um zehn Jahre gealtert, einzelne Silberfäden zogen sich durch sein blondes Haar, und in den einst so heiteren Augen lag ein tiefer Ernst. Das sprach mehr als alle Worte von dem, was er erlitten hatte. Nur zwei Tage verweilte er in der Heimat, dann trieb es ihn zurück zu Weib und Kind. Franz und Fanny mußten ihn begleiten, der riesige Verdeckschlitten – die Arche Noah hatten ihn die Kinder genannt, weil er eine ganze Familie in sich faßte – wurde mit allem vollgepackt, was zur Bequemlichkeit der Reisenden dienen konnte. In acht Tagen durfte man die kleine Familie erwarten, und es gab in Scharfeneck reichlich zu tun, um bis dahin alles instand zu setzen. Der eine Flügel wurde ganz für das junge Paar eingerichtet, und Frau v. Fiedler gab manches Stück dahin, was ihr selbst lieb und wert war, um die Zimmer wohnlich und heimisch zu machen. Eine neue Ausstattung war in so kurzer Frist natürlich nicht zu beschaffen, aber als Mutter und Tochter ihr fertiges Werk mit prüfendem Blick überschauten, da waren sie zufrieden mit dem traulichen Nest, das sie geschaffen hatten.


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