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Drittes Kapitel.
Der Unglücksbote

Er sprang in den tobenden Strudel hinein –
Wer wird des Jünglings Erretter sein?
O, sende ihm deinen Engel, mein Gott,
Und führe ihn gnädig durch alle Not!

Einige Wochen waren seit jenem Abend vergangen, ohne ein Lebenszeichen von den beiden Reisenden zu bringen; immer höher stiegen in beiden Häusern Angst und Sorge, denn es war längst unmöglich geworden, das anfängliche Schweigen über ihre tollkühne Reise zu bewahren. Heiße Gebete um ihre gnädige Bewahrung stiegen an jedem Morgen und Abend zum Himmel empor, ungeduldig sah man der Rückkehr des reitenden Boten entgegen, der jetzt an Mutter Marthens Stelle fast täglich nach der Stadt geschickt wurde – alles umsonst! Vergebens hatte sich Frau v. Fiedler bemüht, Nachforschungen nach den beiden jungen Leuten in Paris anstellen zu lassen; die Sturmflut der Revolution, die kriegerischen Vorgänge störten alle regelmäßigen Verbindungen, selbst die Zeitungen brachten nur sehr abgerissene und unvollkommene Berichte.

Auch nach außen hin nahmen die französischen Zustände immer drohendere Gestalt an, seit es sich herausstellte, daß der militärische Spaziergang des Herzogs von Braunschweig doch nicht so leicht sei, wie man erwartete; hatte man auch einige Vorteile gegen die Franzosen erreicht, so wendete sich doch bald das Blatt, denn die bedächtige Kriegsführung der alten Generale Friedrichs des Großen war dem stürmischen Andrängen der heißblütigen Feldherren der jungen Republik nicht gewachsen. Nicht allein, daß die preußische Armee ihren Rückzug aus der Champagne unter den ungünstigsten Bedingungen antreten mußte, verfolgt von den Unbilden der herbstlichen Witterung, von Hunger und tödlicher Krankheit – schlimmer noch war es, daß der französische General Custine von der Abwehr plötzlich zum Angriff überging, Speier und Worms überfiel und einen panischen Schrecken in die Fürstentümer des Rheinlandes trug. Während die Fürsten und Vornehmen flohen, begrüßten die Einwohner an vielen Orten die französischen Eindringlinge mit Freuden, und so kam es, daß im Oktober sogar Mainz, das alte Bollwerk des Deutschen Reiches, nach scheinbarer kurzer Verteidigung dem Feinde seine Tore öffnete. Solche Erfahrungen erfüllten die Gemüter aller, denen Deutschlands Ehre am Herzen lag, mit tiefem Schmerz und banger Sorge.

In ihrem kleinen Gemach saß Frau v. Fiedler am Schreibtisch, nicht weit von ihr die Blinde, deren Nähe ihr in dieser Zeit qualvoller Spannung immer eine Beruhigung gewährte. Gegen diese bescheidene Freundin hatte sie kein Hehl, ihr konnte sie rückhaltlos das bedrückte Herz ausschütten, denn bei ihr fand sie immer volles Verständnis und tröstlichen Zuspruch. Wenn die geprüfte Frau in diesen Wochen bitterer Angst den Ihrigen immer ein ruhiges Antlitz und eine gefaßte Haltung zeigen konnte, so dankte sie es zum Teil diesen einsamen Stunden mit Maria.

Es war ganz still im Raum, man hörte nur draußen den Novemberwind um die hohen Mauern heulen und die Wipfel der Bäume schütteln, auch fing es im Zimmer an zu dämmern, aber keine der beiden Frauen merkte es. Endlich ließ die Freifrau die Feder, die längst schon um keine Zeile mehr fortgeschritten war, mit einem tiefen Seufzer fallen; sie lehnte mit einer Gebärde unsäglicher Müdigkeit ihren Kopf an die Schulter der Blinden und sagte mit gepreßter Stimme: »Ich kann es nicht, Maria!«

»Was, meine Lilly?«

»Ich kann meinen Gerhard nicht hingeben, es ist zu schwer. Sage mir, Maria, daß Gott zu barmherzig ist, um dies von mir zu fordern!«

»Forderte nicht Gott von Abraham das Opfer seines einzigen Sohnes?« fragte Maria sanft. »Und war jener nicht willig, ihn dem Herrn darzubringen?«

»Aber der Herr nahm sein Opfer nicht an, er verschonte das einzige Kind und schenkte es dem Vater von neuem! Und unser Heiland erweckte den Sohn der Witwe zu Nain und gab ihn seiner Mutter wieder! Er sprach zu ihr: Weine nicht! – O Maria, kann er, wird er also nicht auch zu mir sprechen?«

»Er kann es, Lilly, gewiß, denn bei Ihm ist die Kraft, zu erretten. Darum traue aus Ihn, Er wird es sicherlich wohl machen. Denkst du noch an die Zeit deiner Jugend, da du bei uns im kleinen Schulmeisterhäuschen weiltest und auf deinen Vater wartetest, der im heißen Schlachtgetümmel war? Damals sprachst du auch: Ich kann es nicht ertragen, und doch hat Gott dich stark gemacht, daß dir auch das Schwerste zum besten dienen mußte.«

Frau v. Fiedler antwortete nicht; sie fühlte wohl, wie durch alle Trostworte die Mahnung zu Gehorsam und Ergebung hindurchklang – und sie konnte sich noch nicht ergeben. Auch Maria schwieg; sie wagte es nicht, den schweren Kampf in der Seele der Freundin durch ein einziges Wort zu stören. Schon hüllte abendliche Dunkelheit die beiden Gestalten ein, da ward leise, fast unhörbar an die Tür geklopft. Maria vernahm es mit dem feinen Gehör der Blinden sofort, sie berührte die Gefährtin mit sanfter Hand: »Ich glaube, es begehrt dich jemand zu sprechen, Lilly.« Die Freifrau fuhr empor: »Wer – – wo ist er? – –«, und als das Klopfen sich wiederholte, sprang sie auf und eilte, um die Tür zu öffnen. Draußen brannte schon Licht, bei seinem Schein erkannte sie den Amtmann. »Ebner!« rief sie in zitternder Erregung. »Sie bringen etwas Wichtiges – o Gott – Nachricht, Nachricht von meinem Gerhard!« Sie faßte ihn bei der Hand und zog ihn ins Zimmer: »Reden Sie, lieber Freund – ich bin auf alles gefaßt – er lebt? er kommt? – er ist vielleicht schon da?«

»Euer Gnaden haben recht,« erwiderte der Amtmann langsam, »es ist Nachricht von unserem lieben, jungen Herrn gekommen.«

»Mein Gott, ich danke dir! aber wie – wer –?«

»Mein Walter ist da.«

»Walter? – und Gerhard nicht? wo ist er? warum hat Ihr Sohn ihn verlassen? Sie foltern mich, Ebner, so sprechen Sie doch!«

Der Amtmann stützte sich schwer auf die Lehne eines Sessels, er öffnete die Lippen, aber kein Ton wollte herauskommen. Mühsam stieß er endlich hervor: »Walter hat ihn im Gewühl der aufgeregten Stadt aus den Augen verloren – er meint – er fürchtet ...«

»Wie konnte er ihn verlieren?« fragte die Mutter mit rauhem Ton. »Und wie durfte er ohne ihn abreisen?«

»Baron Gerhard wollte – er war – man hatte ihn – ins Gefängnis geworfen.«

Eine Totenstille folgte diesen Worten; erst nach einigen Sekunden sagte Frau v. Fiedler mit unnatürlicher Ruhe: »Ich will Walter selbst sprechen, er soll mir Rechenschaft ablegen – schicken Sie ihn her!«

»Heute noch?« fragte Ebner beklommen.

»Heute und sogleich!« erwiderte sie entschieden. »Ich dulde keinen Aufschub!«

Mit langsamen Schritten verließ der Amtmann das Gemach, und Maria, die sich bisher völlig still verhalten hatte, trat nahe an die unglückliche Mutter heran. »Meine Lilly,« sagte sie sanft, indem sie deren eiskalte Hände ergriff und an ihr Herz drückte, »es kommt uns sauer an, uns unter die gewaltige Hand Gottes zu beugen, aber noch tausendmal unseliger sind wir, wenn wir aus eigener Kraft aufrechtstehen und seinem Willen trotzen wollen.«

»Ich trotze nicht,« versetzte die andere abwehrend, »ich will nur die volle Wahrheit hören, um gleich zu bedenken, welche Wege ich zur Befreiung meines Sohnes einschlagen kann. Geh, Maria, sorge dafür, daß wir ungestört bleiben; niemand außer dir soll Walters Bericht anhören.«

In ihrem Lehnstuhl saß Frau v. Fiedler, hinter ihr brannte eine Lampe, so daß sie selbst in Schatten gehüllt war, neben ihr saß die Blinde, deren Hand sie fest in der ihren hielt. Mit zögerndem Schritt trat Walter Ebner ein, ein junger Mann in der Mitte der Zwanzig, mit wohlgebildeten Zügen, deren gutmütiger Eindruck jetzt durch eine tiefe Niedergeschlagenheit überschattet wurde. Er näherte sich der Dame, welche ihm stumm mit der Hand winkte, Platz zu nehmen; es entstand ein peinliches Schweigen. »Es schmerzt mich tief, gnädigste Frau Baronin,« begann er endlich in leisem, stockendem Ton, »daß ich allein vor Ihnen erscheinen muß, aber ich schwöre es Ihnen, ich habe alles Menschenmögliche getan, um meine Pflicht an Ihrem Herrn Sohn zu erfüllen.«

»Ich habe seit Anfang August nichts von ihm gehört,« sagte die Freifrau – und ihre sonst so milde Stimme klang hart und rauh vor mühsam bekämpfter Bewegung; »berichten Sie mir genau, was sich seit Ihrer Abreise von England zugetragen hat.«

In gedrängter Kürze begann Walter seinen Bericht zu erstatten; er erwähnte Gerhards leidenschaftliches Interesse an den Vorgängen in Paris, seine Begeisterung für die Ideen der Freiheit und Gleichheit, sein Verlangen, die großen Männer des Volkes, einen Lafayette und Mirabeau, einen Danton und Robespierre, mit eigenen Augen zu sehen. Da jeder Widerspruch vergebens gewesen, hatten sich die beiden jungen Männer zusammen eingeschifft und am neunten August Paris erreicht.

»Als wir am nächsten Morgen auf die Straße kamen,« fuhr Walter fort – »und Gerhard gönnte sich kaum die nötige Ruhe, so sehr verlangte es ihn, sich in den Strudel der Ereignisse zu stürzen –, fanden wir alles in heftigster Erregung; Trupps von Männern mit roten, phrygischen Mützen auf dem Kopfe, mit wilden Gesichtern, die wenig Vertrauen erweckten, mit Piken und anderen seltsamen Waffen ausgestattet und von schrecklichen Weibern begleitet, welche alle Weiblichkeit abgestreift zu haben schienen, durchzogen die Straßen; sie sangen die Marseillaise und das Ça ira, tobten und schrieen, nicht wie Apostel der Freiheit, sondern wie rohe Henkersknechte. Bisweilen unterbrachen sie ihren schauerlichen Gesang, um die Umstehenden aufzufordern, sich ihnen anzuschließen; wer ein Widerstreben zeigte, der ward mit Schimpfworten und Drohungen überschüttet, oder er sah plötzlich den Lauf eines Gewehres auf sich gerichtet oder eine Pike über seinem Haupte geschwungen. So abstoßend dieses Getreide uns erscheinen mußte, so rieten uns doch Vorsicht und Neugier, uns zu einem dieser Haufen zu gesellen, der sich lawinenartig vergrößerte. Wie Meeresbrausen scholl es von Mund zu Mund: ›Zu den Tuilerien! Nieder mit den Verrätern!‹

»Ich hatte Gerhard fest am Arm gefaßt, um ihn nicht zu verlieren; eng aneinandergedrängt ließen wir uns von den Menschenwogen fortreißen, willenlose Spielbälle in diesem tobenden Strom, der uns mit Grauen und Ekel erfüllte. So kamen wir vor das Schloß, das die wilde Menge umflutete, ohne Eingang zu finden; denn die treue Schweizergarde hütete alle Eingänge und Treppen, und ihre stramme, militärische Haltung hielt die zügellosen Haufen zurück, die ohne rechte Führung waren.«

»Unter den Edelleuten, die mit den Schweizern die Wacht hielten und das Volk zurückdrängten, gewahrte Gerhard einen Bekannten und bat ihn um Einlaß, der uns beiden gewährt wurde. Wir atmeten auf, als wir dem schäumenden Wirbel entkommen waren, aber wir sollten alsbald in einen neuen geraten. Im Schlosse herrschte die völligste Ratlosigkeit! alle Fesseln der Hofetikette waren zerrissen; jeder, der es gut mit dem unglücklichen Herrscherpaar meinte, hatte Zutritt zu den Gemächern der königlichen Familie. Der König war fassungslos und schwankend; bald wollte er seine heilige Krone gegen jeden Ansturm verteidigen, bald um jeden Preis einen blutigen Zusammenstoß verhindern. Ganz anders die Königin; ihre anmutige, schlanke Gestalt schien in diesen Schreckensstunden zu wachsen, ihr liebreizendes Antlitz trug den Stempel der Festigkeit und Würde, ihre edle Haltung flößte ihrer Umgebung Mut und Standhaftigkeit ein. Mit beiden Armen hielt sie ihre Kinder umschlungen, ihre Tochter, Madame de France, und den Dauphin, einen zarten Knaben, der mit großen, erschrockenen Augen um sich schaute. Der Anblick dieser königlichen Frau und Mutter bewirkte in Gerhard eine plötzliche Umwandlung; er vertrieb alle revolutionären Schwärmereien aus seinem Herzen und machte in einem Augenblick aus dem Anhänger der Volksrechte einen glühenden Königsfreund. Er trat vor die Königin hin und beugte sein Knie vor ihr: ›Gestatten Ew. Majestät,‹ sagte er ehrfurchtsvoll, ›daß ein deutscher Freiherr der deutschen Kaisertochter seine ergebenen Dienste widmet; gebieten Sie über mich in Not und Tod!‹«

Bis hierher hatte Frau v. Fiedler ohne äußere Zeichen von Teilnahme der Erzählung zugehört, bei dieser Stelle aber drückte sie Marias Hand fester und hob ihre Augen dankbar zum Himmel empor. »Mein Gerhard!« flüsterten ihre Lippen fast unhörbar. »Gott segne dich!«

»Über das todesernste Antlitz der Königin«, fuhr Walter immer wärmer werdend fort, »flog es bei diesen Worten wie ein flüchtiger Sonnenstrahl; sie neigte sich zu dem Knienden und ließ einen Augenblick ihre Hand auf seinem Scheitel ruhen. ›Haben Sie Dank, Chevalier,‹ sagte sie mit sanfter Stimme, ›es tut unserem Herzen wohl, zu fühlen, daß wir noch Freunde besitzen, die es aufrichtig gut mit uns meinen.‹ Unterdessen war bei dem König eine Deputation erschienen, welche ihm den Vorschlag machte, sich mit den Seinen unter den Schutz der Nationalversammlung zu stellen; Maria Antoinette fuhr voll Entrüstung empor und widersprach dem unwürdigen Ansinnen, aber sie ward nicht gehört. ›Laßt uns gehen,‹ sagte der König mild, ›die Vertreter meines Volkes werden uns am besten vor jeder Unbill zu schützen wissen.‹

»Es war ein trauriger Zug, der sich über eine Hintertreppe heimlich aus dem Schlosse stahl und durch den Tuileriengarten bewegte, und wir alle hatten das Gefühl, als folgten wir einem Leichenzuge. Gerhard ging mit gezogenem Degen dicht hinter der Königin, um sie zu beschützen; aber es gab keine Gelegenheit dazu, denn der Garten war leer, nur außen um seine Mauern tobte es wie Sturm und Wogengebrause. An der Tür der Nationalversammlung mußten die Begleiter der königlichen Familie zurückbleiben; mühsam drängten wir uns auf die Tribüne, um von da aus der Verhandlung beizuwohnen. Es war ein chaotisches Getümmel da unten; endlich sahen wir, wie man die hohen Schutzbefohlenen in eine kleine, niedrige Loge führte, wo sie eng zusammengedrängt saßen und standen, viele, viele Stunden lang, während die Abgeordneten sich in langen Reden ergingen und in lärmenden Abstimmungen dem alten, tausendjährigen Königtum Frankreichs den Untergang erklärten!

»Ich drang aus schleunige Abreise,« erzählte der junge Mann nach einem tiefen Seufzer weiter, »aber davon wollte der Baron nichts hören; er fühlte sich wie durch ein heiliges Gelübde an das Geschick der Königin gebunden und wollte nicht fort, ehe sie nicht aus unwürdiger Gefangenschaft befreit sei. Zu meinem Kummer hatte er mehrere Royalisten kennen gelernt, an deren geheimen Versammlungen er teilnahm; doch mußte er bald erkennen, daß ihre Pläne unausführbar seien. Eines Tages, als wir in einer kleinen Wirtschaft speisten, bemerkte Gerhard mit Mißfallen, daß eine Dame an einem benachbarten Tische ihn mit auffallender Aufmerksamkeit betrachtete. Sie schien den höheren Ständen anzugehören, war uns aber vollkommen unbekannt. Gerhard beendete seine Mahlzeit schneller als gewöhnlich und ging hinaus, um sich diesen prüfenden Blicken zu entziehen; als ich ihm folgte, mußte ich dicht an der Dame vorüber. ›Sie sind Deutsche, wie ich höre,‹ flüsterte sie mir zu, ›stammt Ihr Freund vielleicht aus der Maltheimschen Familie?‹ Ich wollte mit flüchtigem Nicken weiter eilen, aber sie hielt mich fest. ›Er erinnert mich an eine unvergeßliche Freundin meiner Jugend,‹ fuhr sie schnell fort; ›sollte er ihr Sohn sein, so würde ich mich glücklich schätzen, ihn zu sprechen. In diesen unsicheren Verhältnissen kann ein junger Mann Freunde wohl gebrauchen; geben Sie ihm diese Karte und bitten Sie ihn, mich auszusuchen, damit wir von seiner Mutter sprechen können.‹ Gerhard nahm meinen Bericht mit lebhafter Teilnahme auf und beschloß der Aufforderung zu folgen.«

siehe Bildunterschrift

Die Königin Marie Antoinette und der deutsche Freiherr.

»Wie war der Name der Dame?« unterbrach ihn Frau v. Fiedler.

» Madame Clémence Matthieux

» Clémence!« wiederholte die Freifrau erstaunt. Sollte die bescheidene Liebesaussaat meiner Jugend meinem Sohne noch Früchte tragen?«

»Gerhard suchte am folgenden Tage das bezeichnete Haus auf; er fand in dem Hausherrn einen gemäßigten Anhänger der neuen Ideen, die Damen aber – es war auch eine junge Tochter im Hause – hatten ihre lebhafte Teilnahme für die unglückliche Königin ausgesprochen und schon dadurch das Herz des Barons gewonnen. Mehr noch hatte es Madame Matthieux durch die dankbare Erinnerung getan, die sie Ihnen, gnädigste Frau, bewahrte; um Ihretwillen hatte sie Gerhard beschworen, Paris schleunigst zu verlassen, und er war zu meiner Freude auch dazu entschlossen, nur wollte er zuvor noch einer Versammlung von Königsfreunden beiwohnen, um sich von ihnen zu verabschieden. Ich konnte ihn leider nicht begleiten; ein Stich, den ich gleich anfangs durch den Arm erhalten, aber wenig beachtet hatte, rächte sich durch Fieber und heftige Schmerzen; ich mußte mich der Behandlung meiner gutmütigen Wirtin überlassen, die mir kühlende Umschläge und völlige Ruhe verordnete. Aber wie sollte ich diese finden, während mich die qualvollste Unruhe fortwährend vom Lager aufscheuchte? Tausend bange Ahnungen folterten mich, sie erhielten immer neue Nahrung durch die geschwätzige Magd, die mich bediente und mir von Stunde zu Stunde beängstigendere Kunde brachte. Es bereite sich etwas Schreckliches vor, der Gemeinderat habe alle Tore schließen lassen, niemand dürfe hinaus oder herein, man spreche von einer allgemeinen Haussuchung. Und Gerhard kam noch immer nicht! Mühsam schleppte ich mich ans Fenster – wie anders sah die Straße aus als gewöhnlich! Alle Menschen schienen sich scheu zu verkriechen, man schloß Läden und Haustüren, Totenstille breitete sich über die Gassen aus, in denen sonst um diese Stunde das geräuschvollste Leben wogte. Mich litt es nicht mehr im Zimmer, ich raffte mich auf, um Gerhard zu suchen, aber auf der Treppe brach ich zusammen und verlor das Bewußtsein. Dunkel fühlte ich, daß man mich aufhob und zurücktrug; dann hörte ich laute Stimmen, die drohend etwas zu verlangen schienen, dazwischen die beschwichtigenden Reden unserer Wirtin – endlich ward es wieder still. Als ich völlig erwachte, war das Zimmer leer, an meinem Bette saß die Magd, die mir auf meine hastige Frage den Bescheid gab, es wäre eine Anzahl Patrioten hier gewesen, um nach verborgenen Waffen zu fahnden, mit Mühe hätte die Wirtin sie bewogen, den Kranken zu schonen. Das war am neunundzwanzigsten August.

»Mehrere Tage lag ich wie gelähmt darnieder; in die Stille meines Zimmers drang der dumpfe Klang der Sturmglocke, der Schall der Lärmkanonen, Geschrei und Gewinsel. Meine angstvollen Fragen nach dem Baron fanden keine Antwort, er kam nicht wieder! Sobald ich mich kräftiger fühlte, machte ich mich auf, um ihn zu suchen; jeden Morgen ging ich mit der Hoffnung aus, ihn zu finden, jeden Abend kehrte ich mit tiefer Enttäuschung heim. Unzählige Male war ich in Gefahr, trotz meiner blauen Bluse und roten Mütze für verdächtig gehalten zu werden, doch entging ich immer wieder der Verhaftung und der Guillotine, die ihr furchtbares Werk begann und täglich Ströme des edelsten Blutes vergoß. Endlich fand ich die lange gesuchte Spur – man hatte eine Versammlung von Königsfreunden aufgehoben und alle Teilnehmer eingekerkert. Ich verschaffte mir Eingang in das Gefängnis, ich unterhielt mich freundschaftlich mit den Wärtern, ich führte alle die hohlen Phrasen der Freiheitsmänner im Munde, um ihr Vertrauen zu gewinnen – ach, ich erhielt doch nur die Gewißheit, die ich längst geahnt hatte, daß auch mein armer Freund, mein teurer junger Gebieter – der mörderischen Verfolgung zum Opfer gefallen sei!«

Im Flüsterton hatte Walter seine Erzählung beendet, jetzt saß er da wie gebrochen und wehrte den Tränen nicht, die über seine Wangen flossen. Frau v. Fiedler war in ihren Stuhl zurückgesunken, ihre Augen blieben trocken. »Ich danke Ihnen, Walter, Sie haben Ihre Pflicht getan«, sagte sie nach einer langen stummen Pause. Mit einer schweigenden Verbeugung verließ der junge Mann das Zimmer, und die ihres einzigen Sohnes beraubte Mutter sank bewußtlos in die Arme der blinden Freundin.


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