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Einundzwanzigstes Kapitel.
Im Morgenrot

Endlich ist die Nacht zu Ende,
Und im Osten schimmert's rot.
Deutsche Männer, hebt die Hände,
Schwöret: Freiheit oder Tod!

In die Mitte des Februar fiel der Geburtstag der alten Freifrau. In früheren Zeiten war er immer ein Festtag für das Haus und die Bewohner sämtlicher Güter gewesen, aber seit Gerhards Tode hatte jede Feier aufgehört; Frau v. Fiedler hatte ihn nur als einen Tag stillen, wehmutsvollen Gedenkens begangen, der ihren vorangegangenen Lieben in besonderem Sinne gewidmet war. Aber diesmal wurden einige festliche Vorbereitungen getroffen, denn man erwartete Maltus, der nach der feierlichen Erklärung über seine Nationalität mündig gesprochen und gewissermaßen zum Mitregenten über die ausgedehnten Besitzungen gemacht werden sollte. Die Freifrau fühlte die Abnahme ihrer Kräfte und sehnte sich danach, einen Teil der Geschäfte und der Verantwortung auf jüngere, kräftigere Schultern zu legen, und wenn sie auch darauf vorbereitet war, daß der Enkel zur Vollendung seiner Studien noch einmal nach Berlin zurückkehren würde, so rechnete sie doch sicher zum kommenden Herbst auf seinen Beistand.

Niemand war in diesen Tagen der Vorbereitung freudiger erregt und geschäftiger als Thea. So wenig sie sich sonst im Familienkreise hervortat, so still sie ihren Weg ging, jetzt hörte man ihren leichten Schritt fortwährend treppauf und -ab fliegen, und dazu summte sie mit einem süßen Stimmchen, das wie das Zwitschern eines kleinen Vogels klang, allerlei liebliche Weisen vor sich hin, als müsse sie der inneren Freude durchaus einen Ausdruck geben. Besonders war sie bestrebt, die Zimmer der beiden Erwarteten – denn es war selbstverständlich, daß Maltus seinen Herzensfreund, Dr. Hans Ebner, mitbrachte – aufs festlichste zu schmücken. Was sich nur irgend an grünen Kränzen auftreiben ließ, das wurde um die Türen gewunden; in Ermangelung von Blumen hatte sie aus roten und weißen Beeren ein strahlendes »Willkommen« geflochten, und mit einem Ausdruck heiterer Zufriedenheit beschaute sie ihr fertiges Werk. So fand sie Lotte, welche ihr lächelnd zusah. »Wie hübsch du das gemacht hast, Liebling,« sagte sie mit versteckter Schelmerei, »man sieht es auf den ersten Blick, daß du es mit Liebe ausgeführt hast! Freust du dich sehr auf unsere Gäste?«

Thea schlang den Arm um ihren Hals und lehnte ihr Gesichtchen an die Brust der Freundin, die ihr so nahe stand wie eine ältere Schwester. »Unaussprechlich!« erwiderte sie, »ich habe mich gar so sehr nach Maltus gesehnt.«

»Du hast alles wie für ein Zwillingspaar eingerichtet,« fuhr Lotte mit anscheinendem Ernste fort, »aber du weißt doch, Liebling, daß Onkel Walter Hans für sich beansprucht?«

Thea hob das Köpfchen auf und sah die andere erschrocken an. »Nein, nein, das darf nicht sein! Dr. Hans gehört zu Maltus wie Pylades zu Orest, wie Jonathan zu David; getrennt kann ich sie mir gar nicht denken! O, nicht wahr, das läßt Großmama nicht zu?« In ihren Augen hingen versteckte Tränen, und um ihren Mund zuckte es wie verhaltenes Weinen.

»Nun, tröste dich nur, du weichherzige Kleine,« sagte Lotte schnell, »Onkel Walter hat ihn uns schon abgetreten. Ich dachte mir gleich, daß es die getreue Schülerin viel zu sehr betrüben würde, wenn sie ihren verehrten Lehrer nicht ganz in ihrer Nähe hätte.«

»Du Böse!« versetzte Thea, indem sie ihre errötenden Wangen wieder an Lottens Schulter versteckte; »macht es dir wirklich Vergnügen, mich so zu necken?«

Vom frühen Morgen an wartete sie mit steigender Ungeduld auf die Ankunft der beiden Reisenden; es litt sie nicht auf einer Stelle oder bei einer Beschäftigung; lautlos, wie es ihre Art war, glitt sie von einem Fenster zum anderen, um nach dem Wagen auszuschauen. Endlich, am späten Nachmittag, bog er ins Gittertor ein, Thea warf einen Schal um die Schultern und eilte hinaus; sie mußte die erste sein, welche den heißgeliebten Bruder begrüßte. Sie flog ihm um den Hals: »Lieber, alter Maltus! wie glücklich bin ich!« flüsterte sie ihm zu. Er küßte sie und hob sie in seinen starken Armen zu sich empor. »Mein süßer, kleiner Liebling! da bin ich wieder!« sagte er mit warmer Zärtlichkeit, dann setzte er sie schnell nieder, um mit dem Ausruf: »Großmutter, liebe Großmutter!« ins Haus und in die Arme der alten Dame zu stürzen. Thea sah ihm glückselig nach.

»Darf ich auch auf einen Gruß hoffen?« sagte eine wohlklingende Stimme neben ihr. Sie blickte auf, und eine rosige Glut überflog das zarte Gesicht. Der vor ihr stand, war zwar weniger groß und stattlich als Maltus, auch nicht so jugendlich und schön, aber die feste Männlichkeit seiner ganzen Erscheinung, der reife, milde Ernst in seinen Zügen machte seine Persönlichkeit doch höchst anziehend.

»Willkommen daheim, Herr Doktor!« sagte das junge Mädchen etwas förmlich und legte ihre Hand ganz schüchtern in die seine, während sie ihre Augen unter seinem warmen, herzlichen Blick zu Boden senkte.

»Soll es wirklich noch ein Daheim für mich sein, liebe Thea?« fragte er mit frohem Lächeln, während er ihre Hand festhielt; aber dann müssen Sie auch den fremden ›Herrn Doktor‹ fallen lassen, oder Sie zwingen mich, Sie ›Gnädiges Fräulein‹ zu nennen.«

»O nein, nein,« versetzte sie schnell, indem sie bittend zu ihm aufsah, »lassen Sie es nur bei der alten Benennung, die ist mir tausendmal lieber; ich will auch wieder Dr. Hans sagen, wenn Ihnen das besser gefällt.«

»Abgemacht!« sagte er heiter; »lassen Sie alles so sein wie in der guten alten Zeit, da ich noch das Glück hatte, Sie meine Schülerin zu nennen.«

Unterdessen hatte Maltus die drei Damen in der Halle begrüßt, und Frau v. Fiedler hing mit leuchtendem Blick an der hohen, schlanken Gestalt des Enkels, der alle äußeren Vorzüge beider Eltern in sich vereinte. Aber wie dunkel ihm auch Haare und Augen glänzten – das Ganze trug doch den Stempel des deutschen Jünglings; der offene, freimütige Ausdruck des Gesichtes erweckte sogleich Vertrauen und erinnerte lebhaft an seinen Vater, obgleich die einzelnen Züge mehr von der Mutter stammten. Nachdem der Sturm der ersten Begrüßung verrauscht war, versammelten sich alle um den traulichen Kaffeetisch im Wohnzimmer und tauschten die letzten Erlebnisse aus, die man sich brieflich noch nicht mitgeteilt hatte, doch dauerte es nicht lange, bis die Lage des Vaterlandes die Unterhaltung beherrschte.

»Ja,« sagte Dr. Ebner, »der völlige Untergang der Großen Armee ist ein Gottesgericht, wie es so deutlich und verständlich noch selten in der Weltgeschichte aufgetreten ist. Nun beginnt das geknechtete Europa wie aus einer langen, schweren Beklemmung aufzuatmen, die gefesselten Völker klirren mit ihren Ketten, überall schlägt der mühsam zurückgehaltene Haß gegen den dämonischen Mann in hellen Flammen auf!«

»Aber der König?« fragte die Freifrau zweifelnd, »wird er den Mut haben, sich gegen den immer nach gewaltigen Gegner zu erheben?«

»Er hat ihn schon gezeigt, Großmutter!« fiel Maltus ein; »schon dadurch, daß er Berlin verließ und nach Breslau ging, wo er, frei von dem beengenden Einfluß der französischen Truppen, seinem edlen, deutschen Herzen und den Ratschlägen wahrer Patrioten ungehindert folgen kann. Dann hat er bereits alle jungen Männer, die bisher vom Kriegsdienst befreit waren, zum freiwilligen Eintritt in das Heer aufgerufen – noch ist es freilich nicht in deutlichen Worten gesagt, gegen welchen Feind es gehen soll, aber es kann ja kein Zweifel darüber sein! Großmutter, wenn du diese Tage in Berlin mit erlebt hättest, als die Nachricht ankam, daß General v. Yorck mit seinen wackeren Preußen nicht länger dem Erbfeinde dient, daß er sich mit kühnem Entschluß von Napoleon losgesagt hat ...«

»Wie?« unterbrach ihn Gabriele stürmisch, »das hat Yorck getan? Der Eisenmann, dem Gehorsam und Disziplin sonst das Höchste im Soldaten waren? O erzähle, Maltus, erzähle! Gott im Himmel, ist wirklich die tiefste Schmach von uns genommen?«

»Ja, Tante Gabriele, der bittere Zwiespalt hat durch Yorcks Entschlossenheit ein Ende erreicht! In der Neujahrsnacht riß er das Band entzwei, das ihn an Napoleon knüpfte, und ging mit seinen Truppen nach Ostpreußen hinüber, das er, im Verein mit den Russen, für seinen König in Besitz nahm. Dort hat der kühne, patriotische Aufschwung begonnen, der nun wie ein lodernder Feuerbrand von einer Provinz zur anderen hinüberfliegt und überall die deutschen Herzen zum Heldenkampfe gegen den Unterdrücker entzündet. Nicht ›Siegen oder Sterben‹ ist die Losung, sagte unser herrlicher Professor Fichte, sondern Siegen schlechtweg – und wir werden siegen, denn wir haben Recht und Gerechtigkeit und alle höchsten Güter des Menschenlebens auf unserer Seite, ihre Verteidigung wird uns Riesenkräfte verleihen!«

Gabriele hatte ihre Hände gefaltet, sie blickte zum Himmel auf, und ihre Lippen schienen ein stilles Dankgebet zu stammeln; Frau v. Fiedler aber verbarg ihr Gesicht in den Händen. Nach einigen Augenblicken hob sie die tränenfeuchten Augen auf: »O mein Gott,« sagte sie mit zitternder Stimme, »soll ich wirklich den großen Tag noch erleben? Werde ich meinen Lieben die Botschaft mit hinübernehmen dürfen, daß das Vaterland wieder frei, die lange Schmach ausgelöscht ist? Es ist seit sieben Jahren der höchste Wunsch meines Herzens und mein heißestes Gebet gewesen – und doch bangt mir vor dem furchtbaren Kampfe! Meine Kinder, ich bin alt und schwach geworden, habt Nachsicht mit mir, wenn die Kunde mich überwältigt!«

Maltus schlang den Arm um sie und küßte ihre Hände. »O, du wirst den Mut schon finden, Großmütterchen,« sagte er zuversichtlich, »du hast immer eine starke, tapfere Seele gehabt – und kennst den Krieg von Jugend auf. Mir ist nicht bange um dich!« –

»Wie sieht es denn augenblicklich in Berlin aus?« wendete sich unterdessen Gabriele an Dr. Ebner.

»Wunderbar genug, gnädiges Fräulein«, gab er zur Antwort. »Der König und der Kronprinz sind nach Breslau, die meisten anderen Prinzen zu ihren Heeresteilen abgereist; Graf v. d. Goltz verwaltet die Regierung, und man sagt, er sei angewiesen, mit den französischen Marschällen gute Freundschaft zu halten. Die ganze Stadt wimmelt von französischen Soldaten und Offizieren, aber sie fühlen das Feuer unter dem Boden glühen, und trotz ihrer Übermacht wird es offenbar den Fremden, mit denen wir anscheinend noch verbündet sind, sehr unbehaglich zumute. Die Hörsäle der Universität sind geschlossen, fast die ganze studierende Jugend strömt infolge des Aufrufs vom 3. Februar zu den Fahnen. Die größeren Kadetten sind sämtlich nach Breslau beordert worden, und wir sahen sie, mitten durch die französischen Truppen, in großen Wagen glückselig den schlesischen Bergen zurollen, während die zurückbleibenden, kleineren Kameraden ihnen unter Hochrufen das Geleit gaben, tiefbetrübt, daß sie nicht auch mitziehen durften in den heiligen Krieg.«

»Seltsames Durcheinander von Altem und Neuem, von Vorsicht und Kühnheit!« sagte Gabriele sinnend. »Ist denn von den Befreiern, den Russen, noch nichts zu sehen?«

»In der Mark haben sich schon die ersten Kosaken gezeigt; wir selbst haben auf unserer Reise in einem Dorfe einen Trupp getroffen, der von einer jubelnden Menge umringt war. Sie zeigten sich unendlich gutmütig, ließen die Jungen auf ihren Pferden reiten und küßten die kleinen Kinder – von dem Schrecken, den sie der unseligen Großen Armee auf ihrem Rückzuge eingeflößt haben, war nichts an ihnen zu spüren.«

»Wissen Sie etwas von der Prinzessin Wilhelm?« fragte Gabriele weiter; »ich habe lange nichts von ihr gehört.«

»Sie harrt mutig in der Hauptstadt aus, obgleich ihr Gemahl abgereist ist; ich glaube, sie hält es für ihre Pflicht, zu bleiben, um nicht die Stimmung des Volkes niederzuschlagen und die Franzosen durch ihre Flucht zu ermutigen.«

»Das sieht ihr ähnlich!« sagte Gabriele mit stolzer Freude; »sie birgt unter der bescheidensten Hülle ein starkes, heldenmütiges Herz. Nächst meiner Königin habe ich sie am höchsten geachtet!« –

Der Geburtstag brach an, es war ein Sonntag; nach der Morgenandacht war Frau v. Fiedler von ihrer Familie und ihren Untergebenen mit zärtlichen und ehrerbietigen Glückwünschen überschüttet. Sie dankte tiefbewegt und lud alle ein, sich nach dem Gottesdienste wieder einzufinden; dann begab sich die ganze Gesellschaft zu Fuße und zu Wagen nach der Kirche im nahen Dorf. Gesang und Liturgie waren beendet, der Geistliche betrat die Kanzel, aber welche Überraschung! Statt des einheimischen Pastors erschien ein Fremder, und doch kein eigentlich Fremder, denn er war ja ein Scharfenecker Kind und den meisten Bewohnern von Tannenrode von Jugend auf bekannt – Dr. Hans Ebner. Das Flüstern, das sich erst hier und da erhob, verstummte bald, nachdem er seinen Mund aufgetan hatte; das war keine Predigt, wie man sie an dieser Stelle zu hören gewohnt war, es war eine gewaltige, hinreißende Rede, welche keinen der Zuhörer in das gewohnte Kirchenschläfchen sinken ließ. »Bis hierher und nicht weiter! Hier sollen sich legen deine stolzen Wellen!« das war sein Text, an dessen Hand er der Gemeinde die großen Zeichen der Zeit auslegte. Er schilderte ihr den Stolz, die Selbstvergötterung des fremden Tyrannen und seinen Fall, dessen Spuren sie mit eigenen Augen gesehen hätte. Napoleon und seine Franzosen wären glücksfest gewesen gegen die kleine Gesinnung, die in unserem Volk geherrscht hätte, sie müßten fallen durch die hohe Gesinnung und die heiße Zuversicht auf Gott, Liebe und Treue zum Vaterlande, Glauben an die Tugend.

»O meine deutschen Brüder!« fuhr der Redner mit hinreißendem Feuer fort, »wir alle wußten nichts mehr vom Vaterlande, von der alten deutschen Ehre; ein jeglicher ging seinen eigenen Weg, trachtete nur nach Gewinn und Genuß und fragte nicht nach dem Gedeihen des Ganzen. Aber weil wir nun sehen, woher unser Unglück gekommen ist, und daß unser Abfall und unsere Zwietracht die Fremden zu unseren Herren gemacht haben, so laßt uns zuvörderst zurückkehren zu unserem Gott und Ihm vertrauen. Denn der Glaube an Gott tut noch täglich Wunder, und die Zuversicht auf den Himmel überwindet die Hölle. Dann aber bittet Gott um den Geist der Liebe, der alle Glieder des großen deutschen Vaterlandes sammle und einige, denn nur die Einigkeit kann uns stark machen gegen den gewaltigen Widersacher. Erhebe deine Hände zum Gebet, mein deutsches Volk, dann wird Gott Flammen in deine Brust blasen und den hohen und kühnen Geist der Freiheit in dir erwecken, der deine Feinde zerschmettern wird. Gott selbst wird mit deinen Heeren sein, dir als Streiter voranschreiten und deine Fahnen mit Sieg und Wonne segnen, wenn du glaubst, daß eine ewige Gerechtigkeit ist, und daß einer im Himmel lebt, der die Tyrannen zermalmt.« Nach Ernst Moritz Arndt.

In andächtigem Staunen folgten die Zuhörer den zündenden Worten; sie fühlten sich willenlos fortgetragen von dem Strom der Rede und wußten selbst nicht, wie ihnen geschah. Als zum Schluß der Prediger die Hände erhob und in höchster Begeisterung ausrief:

»So hebt die Herzen himmelan
Und himmelan die Hände,
Und schwöret alle, Mann für Mann:
Die Knechtschaft hat ein Ende!«

da erhob sich gehorsam die ganze Gemeinde, und die Männer sprachen ein lautes Amen dazu. Nach beendetem Gottesdienst drängten alle in lebhafter Bewegung ins Freie, dort sahen die Leute sich ganz verwundert an und fragten einer den anderen, was das bedeute. Die jungen Burschen freilich, die hatten schnell eine Antwort bereit; es zuckte ihnen in den kräftigen Fäusten, und sie hätten am liebsten gleich auf den Feind losgeschlagen. Aber wo war denn der Feind? ihr Landesherr war ja Napoleons guter Freund und Verbündeter; in allen Kriegen des großen Kaisers hatte das weimarische Regiment unter den französischen Fahnen gefochten, und unter seinen Offizieren trugen einige mit besonderem Stolze das Kreuz der Ehrenlegion. Die älteren, ruhigen Männer unter den Tannenrodern warnten vor Übereilung; ehe man nicht die Meinung des Herrn Herzogs kenne, dürfe man nichts unternehmen, so lockend es auch wäre, diese anmaßenden Franzosen, die hier so lange die großen Herren und allmächtigen Gebieter gespielt hätten, ordentlich zu ducken und mit blutigen Köpfen nach Hause zu schicken. »Wir wollen abends den Doktor aufsuchen, er soll uns die Sache noch näher erklären«, beschlossen zuletzt die Kriegerischen. Der Amtsschreiber aber, der immer ein Franzosenfreund gewesen, schlich lauernd von einer Gruppe zur anderen, hörte schweigend zu, was die Männer sprachen, und machte sich dann eilends aus dem Staube. »Wartet nur, Herr Kandidat, ich will's Euch eintränken!« sagte er höhnisch vor sich hin, »Ihr und Euer Herr Bruder habt mich immer wie einen schlechten Kerl behandelt, nun kommt der Tag der Rache!« –

In dem großen Saal zu Scharfeneck, der gleich hinter der Eingangshalle im Erdgeschosse lag und nur bei seltenen Gelegenheiten benutzt wurde, hatte sich die gesamte Dienerschaft des Hauses und des Hofes sowie der größte Teil der auf den verschiedenen Gütern Angestellten versammelt und wartete in feierlicher Stimmung auf die Dinge, die da kommen sollten; jeder hatte das Gefühl, daß heute ein großer Tag von weitreichender Bedeutung sei. Die leise ausgetauschten Worte verstummten, als die Freifrau am Arme ihres Enkels und gefolgt von den jüngeren Damen des Hauses erschien und den erhöhten Platz betrat, welcher die eine Seite des Saales ausfüllte. Wie schön und stattlich sah die alte Baronin immer noch aus! Wenn sie sich zu ihrer ganzen Höhe aufrichtete, überragte sie selbst Gabriele und Lotte, die auch nicht zu den Kleinen gehörten, während Thea neben ihr ganz verschwand.

siehe Bildunterschrift

Maltus' Schwur.

»Ich habe euch hergerufen,« begann sie, gegen die Versammlung gewendet, mit klarer, fester Stimme, »weil die Zeit abgelaufen ist, in welcher, nach dem Wunsch und Willen meines geliebten, heimgegangenen Sohnes, dieser mein Enkel meiner Vormundschaft unterworfen war. Heute spreche ich ihn mündig und entlasse ihn aus meiner Aufsicht, auf daß er fortan ein Mann sei und mein getreuer Helfer werde. Ehe du aber in diese deine neue Stellung eintrittst, René Maltheim v. Fiedler, fordere ich dich auf, ein offenes Zeugnis abzulegen, welcher Nation du angehören willst, ob du ein Franzose sein willst wie deine Mutter und ihre Familie oder ein deutscher Mann, wie es deine Väter waren.«

»So erkläre ich vor dir und diesen versammelten Zeugen,« erwiderte Maltus mit tiefem Ernst, indem er die Hand wie zum Schwur erhob, »daß ich im Leben und im Sterben ein deutscher Mann sein und bleiben will, so wahr mir Gott helfe. Und des zum Zeichen will ich mit Freuden mein Leben einsetzen, um unser teures deutsches Vaterland von seinen Bedrückern zu befreien! Segne deinen Enkel, Großmutter, als den ersten aus unserem weimarischen Lande, der freiwillig dem Rufe des Preußenkönigs folgt, um in den heiligen Krieg gegen den Tyrannen hinauszuziehen!«

Er beugte das Knie vor der alten Frau, die erschrocken, fassungslos auf ihn niedersah. »Maltus – du selbst – in den Krieg – o mein Gott ...« stammelte sie, und dabei zitterte sie so heftig, daß Gabriele und Lotte herbeieilten, um sie zu stützen und sie in den bereitstehenden Lehnstuhl zu führen.

»Ich bin nicht zum Soldaten bestimmt und erzogen worden,« fuhr Maltus unbeirrt fort, indem er sich erhob und wiederum an die Versammlung wandte, »und unter gewöhnlichen Verhältnissen hätte ich es für meine Pflicht gehalten, meiner teuern Großmutter zur Seite zu stehen und ihr das Erbe meiner Väter verwalten zu helfen. Aber wir leben in einer ungewöhnlichen Zeit, wo das, was sonst Pflicht wäre, zur unmännlichen Feigheit würde; darum erkläre ich euch allen feierlich, daß ich nicht eher dies Erbe übernehmen oder dieses Besitzes mich freuen will, bis ich nicht mitgeholfen habe, der Tyrannei, die unseren deutschen Namen schändet, ein Ende zu machen. So Gott will, sehen wir uns an dieser Stelle wieder, wenn das große Werk vollbracht, wenn auch unsere teure Heimat von der Zwingherrschaft befreit ist, – – hat Gott es aber anders beschlossen, so will ich wenigstens mit Ehren untergehen, denn ohne Ehre vermag ein echter, deutscher Mann nicht zu leben. Wer von euch denkt wie ich, der möge mir seine Gesinnung kundtun – inzwischen gehabt euch wohl!«

Einige Sekunden lang blieb es ganz still im Saal, dann erhob sich eine zitternde Stimme – es war die des alten Schäfers Thomas. »Brüder und Genossen!« sagte er, »wir Scharfenecker haben seit fünfzig Jahren unter einem gerechten und gütigen Regiment gelebt; keinem unter uns ist je ein Unrecht geschehen, denn was unser seliger Herr Baron anfing, das hat unsere liebe, gnädige Frau fortgeführt. Wir wollen ihr unseren Dank dafür sagen und ihr geloben, allezeit treu zu ihr und den Ihrigen zu stehen, was uns auch der Himmel schicken möge. Unsere gnädige Frau Baronin lebe hoch!«

»Hoch! Hoch!« fielen alle Anwesenden jubelnd ein; jeder war froh, für die Gefühle, die ihm das Herz bewegten, einen lauten Ausdruck zu finden.

»Und unser lieber, junger Herr Baron, dem der Herrgott Segen und Gelingen zu seinem Vorhaben schenken und den er in aller Gefahr beschützen wolle, lebe gleichfalls hoch!«

»Hoch! Hoch!« schallte es aus vielen Kehlen nach.

»Ich danke euch, meine Freunde, im Namen meiner Großmutter und meinem eigenen!« sagte Maltus gerührt. »Gott schenke uns noch manches Jahr voll friedlicher Arbeit und frohen Genusses nach einem siegreichen Kampfe! Denkt an mich, wenn ich fort sein werde, und bittet Gott um ein fröhliches Ende dieser ernsten Zeit. Auf Wiedersehen in einem freien Lande!«

Die Leute gingen hinaus; die meisten von ihnen waren schon in der Kirche gewesen, und der Eindruck, den sie dort empfangen hatten, war durch das eben Erlebte noch tiefer und lebendiger geworden. »Ja, wenn unser Baron selbst mitgeht,« meinten sie, »da muß die Sache wohl Hand und Fuß haben; der muß es ja auch wissen, wie unser Herzog darüber denkt. Mit Preußen sind wir sonst ja immer gute Freunde gewesen, bis zum Jahre 6, wo alles schief ging und wir uns mit den Franzosen verbrüderten. Na, viel Glück hat uns die Brüderschaft nicht gebracht, und daß unser durchlauchtigster Herr jetzt dem Napoleon immer an den Rockschößen hängt, das macht auch den Kohl nicht fett.«

»Gehst du mit gegen die Franzosen, Christian?«

»Ich hätte wohl Lust – weiß nur nicht, ob's meine Alte zulassen wird.«

»Und ich habe Weib und Kinder, für die ich sorgen muß ...«

»Hurra! ich brauche nach keinem zu fragen! ich gehe mit unserem jungen Herrn, was der tut, das tu ich auch!«

»Ich auch ... ich auch!« schallte es von verschiedenen Seiten, »der Doktor hat recht: es ist eine Schmach für einen ehrlichen deutschen Burschen, sich von diesen welschen Hunden unter die Füße treten zu lassen!«

»Nieder mit den Franzosen, es leben alle guten Deutschen! – es lebe das deutsche Vaterland!« so tönte es laut, die Begeisterung stieg mit jeder Minute, und wer irgend frei war, der zog mit nach Tannenrode ins Wirtshaus, um dort weiter über die Sache zu verhandeln. –

Als Maltus sich wieder zu seiner Großmutter wandte, sah er sie blaß und mit geschlossenen Augen in ihrem Stuhl lehnen. Er kniete neben ihr nieder und küßte zärtlich ihre Hände. »Habe ich dich erschreckt, Großmütterchen? habe ich dir wehgetan?« fragte er demütig. »Vergib mir, ich konnte nicht anders! Sieh, in meiner Seele brennt der Wunsch, mit hinauszuziehen in den heiligen Krieg, seit lange wie ein verzehrendes Feuer; hätte ich aber vorher davon gesprochen, so würdest du vielleicht Einwendungen erhoben haben, und es wäre mir unendlich schmerzlich gewesen, um diesen Entschluß zu streiten. Deshalb mußte es die erste Tat meiner Mündigkeit sein, mich selbst unwiderruflich zu binden, so daß von einem Zurück keine Rede mehr sein konnte. Verzeih mir, Großmutter, und gib mir deinen Segen zu meinem Vorhaben!«

Frau v. Fiedler schlug die Augen auf und sah ihn mit einem Blick voll tiefer Trauer an. »Ich habe die Befreiung des Vaterlandes heiß und leidenschaftlich ersehnt,« sagte sie langsam, als ob ihr das Sprechen unendlich schwer falle, »aber ich wollte nicht mein Liebstes dafür opfern – ich habe ihm ja schon einmal den einzigen Sohn hingegeben, damit glaubte ich genug getan zu haben. Ich wollte mit vollen Händen spenden, um Männer auszurüsten, die für die gute Sache kämpfen sollten – aber mein Herzblut wollte ich schonen! Nun spricht der Herr: ›Opfere deinen Isaak, den einzigen Erben deines Namens, die letzte Stütze deines Hauses – nur um diesen Preis will ich dein Gebet erhören!‹ O, es ist schwer, namenlos schwer! das alte Herz will fast in Stücke brechen bei der harten Forderung!«

»Ob Tausend fallen zu deiner Seite und Zehntausend zu deiner Rechten, so wird es doch dich nicht treffen!« sprach Dr. Hans Ebner sanft und doch im tröstlichen Tone vollster Überzeugung. »Vertrauen Sie auf den allerhöchsten Gott, Frau Baronin, er kann Ihnen in aller Gefahr den Enkel behüten und unversehrt in Ihre Arme zurückführen!«

»Willst du mir deinen Segen nicht geben, Großmutter?« bat Maltus dringend; »o lege deine liebe, treue Hand auf mein Haupt und bete für mich. So Gott will, ist es mir beschieden, dir selbst die Siegesbotschaft zu bringen, die du so heiß ersehnst!«

Die Freifrau drückte die gefalteten Hände fest auf ihr Herz, einige Augenblicke vergingen in tiefem Schweigen; dann legte sie die Rechte auf seinen Scheitel. »Mein Gott, du lässest mich erfahren viele und große Angst«, sprach sie im Tone inbrünstigen Gebets, »und machst mich wieder lebendig und holest mich wieder aus der Tiefe herauf. Du machst mich sehr groß und tröstest mich wieder! Dir will ich diesen geliebtesten Sohn anvertrauen, behüte und beschütze ihn, laß deine Engel ihn geleiten! Zieh hin, mein Maltus, Gottes Segen über dich und deine Genossen am großen, heiligen Werk! Die Liebe und die Gebete deiner Großmutter werden allezeit um dich sein! – Nimm diesen Ring, das uralte Kleinod unseres Hauses – du bist es wert, ihn zu tragen. Möchte er dir Gutes bedeuten und dich an eine Reihe großer und guter Ahnen erinnern!«


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