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Aus den Jahren der großen Revolution.
O süße Lust, wenn sich zwei Herzen finden,
Für Freud' und Leid auf ewig sich verbinden!
Das achtzehnte Jahrhundert ging seinem Ende entgegen, nicht wie ein altersschwacher Greis, der sein müdes Haupt zur Ruhe neigt, sondern wie ein tollkühn aufbrausender Jüngling; denn gerade für das letzte Jahrzehnt hatte es sich Ereignisse vorbehalten, welche die Welt in atemlosen Schrecken versetzen, tausendjährige Einrichtungen zu Boden stürzen und ganz Europa in seinen Grundfesten erschüttern sollten. Seit drei Jahren befand sich Frankreich in einer unheimlichen Gärung: ausgehend von einem berechtigten Bestreben, tief eingewurzelte Mißbräuche abzustellen, lange vererbte, krankhafte Auswüchse des Staatskörpers zu heilen, war die Nationalversammlung bald über alles Maß hinausgegangen. Ein Taumel, ein wilder Rausch bemächtigte sich der Geister, welche keine Schranke mehr anerkennen wollten und mit den alten Schäden schrittweise alle menschliche und göttliche Autorität auf dem Altar der neuen, erträumten Freiheit opferten. Staunend sah man in Deutschland dem Treiben der fränkischen Nachbarn zu, anfangs mit Beifall und Anerkennung, denn es schien ein erhabener Geist der Opferwilligkeit und Menschenliebe durch diese kühne Versammlung zu wehen, und die neuen Ideen der Freiheit und Gleichheit fanden auch diesseits Rheins lebhaften Anklang. Doch bald bemächtigte sich Unwillen und Mißtrauen über die Ausschreitungen der Revolutionsmänner aller Gutgesinnten, besonders, als man es drüben wagte, den schuldlosen König und die Seinen gewaltsam anzugreifen. Bis über die Grenzen schlugen die hochgehenden Wogen der französischen Bewegung, und als die ersten Vorboten des nahen Sturmes fielen Schwärme von Emigranten in Deutschland ein, Aristokraten, die man daheim von Haus und Hof verjagt hatte, weil sie sich der neuen Ordnung der Dinge nicht fügen wollten, die aber, mit wenigen rühmlichen Ausnahmen, die herzliche Gastfreundschaft, welche man ihnen gewährte, mit Undank und Begehrlichkeit vergalten.
Die bedrohlichen Zustände im Nachbarreiche konnten nicht verfehlen, die Aufmerksamkeit der deutschen Fürsten zu erregen; König Friedrich Wilhelm II. von Preußen ergriff mit ritterlichem Sinn den Gedanken, der Hydra der Revolution den Kopf zu zertreten und seinen königlichen Bruder von Frankreich in alle seine Rechte wieder einzusetzen. Der deutsche Kaiser Leopold II. dagegen zauderte noch, obgleich die unglückliche Königin Marie Antoinette seine leibliche Schwester war; erst als er im März 1792 starb, fand der König bei seinem Sohn und Nachfolger, Franz II., ein willigeres Gehör. Frankreich aber wartete die langen Verhandlungen zwischen den beiden Herrschern nicht ab; sein Nationalgefühl fühlte sich gekränkt durch den Versuch fremder Einmischung, und es erklärte seinerseits allen Feinden der Freiheit, »den Sklaven, Verrätern und verschworenen Königen«, den Krieg.
In Deutschland dachte niemand an eine ernste Gefahr; hatte man doch kriegstüchtige Truppen und erfahrene Schlachtenlenker, während das französische Heer teils durch innerliche Spaltungen zerrüttet war, teils aus eilig zusammengezogenen, ungeübten Scharen bestand. Man stellte sich das Vorgehen des deutschen Oberfeldherrn, des Herzogs von Braunschweig, der aus der berühmten Schule des Alten Fritz stammte, als einen militärischen Spaziergang vor, welcher die geängsteten Franzosen zu schnellem Nachgeben zwingen oder in Paris enden würde, das der entrüstete Fürst in einer ewig denkwürdigen Weise zu züchtigen drohte, falls es sich einfallen ließe, der königlichen Familie auch nur ein Haar zu krümmen. In der Tat schienen anfangs die Ereignisse diesem stolzen Auftreten einigermaßen recht zu geben.
Heiterer, sonniger Friede war im Beginn des Septembers des Jahres 1792 über die grünen Berge und Täler des Thüringer Waldes ausgebreitet; die Luft war so klar, daß man von jedem erhöhten Punkte aus meilenweit in die Ferne sehen konnte, dabei war es sommerlich warm, und wenn hie und da an Bäumen und Büschen das Laub rötlich und goldig zu schimmern begann, so erhöhte das nur die tiefe, gesättigte Färbung, in der das Land weit umher prangte. Hell schien die Sonne auf das Herrenhaus zu Scharfeneck, das sich nie stattlicher und vornehmer ausnahm als in dieser strahlenden Beleuchtung. Der ursprüngliche Bau, der etwa hundert Jahre alt war, bildete ein ziemlich plumpes Viereck, dem man erst später durch einen massiven, auf schweren Säulen ruhenden Balkon einige Gliederung gegeben hatte; die beiden Flügel dagegen waren in reichem, französischem Stile erbaut und mit Figuren und Wappenschildern von Sandstein verschwenderisch geschmückt. Es war ein schöner, würdiger Herrensitz, das empfand jeder, der die prächtige Lindenallee heraufschritt, welche von der Umfassungsmauer bis zu dem freien Platz vor dem Schlosse führte. Anmutige Blumenstücke wechselten hier mit niedrigem Gebüsch ab und ließen die Formen des Gebäudes ungehindert hervortreten.
Auf dem seitwärts gelegenen Wirtschaftshofe läutete eben die Glocke zur Mittagspause; langsam kamen die Ochsen, munterer die Pferde vom Felde herein, und nach kurzer Hantierung der Knechte breitete sich mittägige Ruhe über dem Hofe aus. Nur der Amtmann, eine gedrungene Gestalt mit energischen Bewegungen und hellen Augen, die selbst die Wände und Türen zu durchschauen schienen, hielt noch einen Überblick über den weiten Platz und wandte dann den schnellen Schritt dem Herrenhause zu. Hier stand er bald vor seiner Gebieterin, der Freifrau Elisabeth v. Fiedler, welche seit dem Tode ihres Gatten allein die Zügel der Herrschaft in Händen hielt. Und man sah es ihr an, daß sie der schweren Aufgabe wohl gewachsen war; denn obgleich sie in jedem Stück als eine echte Frau erschien, so lag doch in dem immer noch schönen, regelmäßigen Gesichte mit den großen, klugen Augen, in der aufrechten Haltung der hohen Gestalt, in dem klaren Tone der Stimme ein unverkennbarer Zug von Festigkeit und Willenskraft, und wer die Dame auch nur kurze Zeit beobachtete, der mußte fühlen, daß sie wußte, was sie wollte, und daß sie dies, bei aller Freundlichkeit und Güte des Herzens, auch durchzuführen verstand.
Das Gespräch zwischen ihr und dem Amtmann wurde durch den Eintritt eines Dieners unterbrochen. »Halten zu Gnaden, Frau Baronin,« begann dieser, in ehrerbietiger Haltung an der Tür stehenbleibend, »der Pförtner meldet soeben, daß ein Fürstlich Hildburghausenscher Vorreiter am Tore sei, mit der Ankündigung, Ihre Durchlaucht, die verwitwete Frau Landgräfin von Hessen-Darmstadt, mit den durchlauchtigen Prinzessinnen von Mecklenburg-Strelitz, komme auf der Reise hier vorüber und wolle in Scharfeneck einige Stunden Rast halten.«
Frau v. Fiedler hatte sich mit Lebhaftigkeit erhoben. »Es ist gut, Franz. Sag' Er dem Vorreiter, ich schätzte es mir zur hohen Ehre, die fürstlichen Damen zu empfangen; dann heiß' Er den Pförtner das große Gittertor ausschließen, und halt' Er sich mit dem Johann bereit. Lieber Ebner,« wandte sie sich an den Amtmann, »treffen Sie sofort die nötigen Anordnungen zur Aufnahme der fremden Diener und Pferde, wir sprechen abends weiter über die Geschäfte.« Während der Amtmann sich mit tiefer Verbeugung entfernte, hatte die Hausfrau bereits die Klingel gezogen. »Schicke sofort Mamsell Jettchen in mein Ankleidezimmer, Fanny, und hilf Fräulein Gabriele ein reines Musselinkleid anziehen; wir bekommen hohen Besuch!« rief sie der eintretenden Zofe zu.
So war in wenigen Minuten alles zum Empfang der Gäste geordnet, und als eine halbe Stunde später der von vier Grauschimmeln gezogene Wagen vor der Rampe hielt, trat die Freifrau in ruhiger Würde und begleitet von ihrer jugendlichen Tochter den Damen entgegen; beide begrüßten die Ankommenden mit aller geziemenden Ehrerbietung und in der feinsten Form, aber doch dabei mit der Herzlichkeit, welche eine vertrautere Bekanntschaft bezeichnet.
Das Frühstück, welches Mamsell Jettchen mit gewohnter Umsicht auf der breiten, überdeckten Terrasse hatte bereitstellen lassen, war unter angeregter Unterhaltung eingenommen worden; nun zogen die beiden älteren Damen sich zu vertraulichem Austausch ins Zimmer zurück, während die drei jüngeren in den schattigen Gängen des Parkes lustwandelten und ihren Zungen freien Lauf ließen. Man konnte diese holden Mädchengestalten kaum ansehen, ohne unwillkürlich an die drei Grazien zu denken, so sehr umwehte sie der Zauber der Anmut und Unschuld. Die jüngste des Kleeblattes war Prinzessin Friederike, ein reizendes vierzehnjähriges Blondköpfchen mit schelmisch blitzenden Augen und lachendem Munde; ihr im Alter zunächst stand die dunkelhaarige Gabriele v. Fiedler, die noch ganz einer verschlossenen Knospe glich. Am meisten aber mußte Prinzessin Luise den aufmerksamen Beschauer fesseln; es war nicht allein das vollendete Ebenmaß dieser schlanken Gestalt, nicht das herrliche Blau der strahlenden Augen oder die Regelmäßigkeit der Züge, welche sie so anziehend machte, sondern mehr noch der Umstand, der sich jedem Tieferblickenden aufdrängen mußte, daß der schöne Körper nur die Hülle einer edlen und reinen Seele sei, daß diese Augensterne einen ungewöhnlich reichen Geist und ein tiefes Gemüt widerspiegelten. Die drei plauderten heiter und harmlos, wie junge Mädchen pflegen; die beiden Prinzessinnen hatten vor wenigen Monaten der Kaiserkrönung in Frankfurt am Main beigewohnt und wußten viel Interessantes davon zu erzählen. Besonders Friederike war unerschöpflich in der Schilderung des blendenden Glanzes, der farbenprächtigen Aufzüge, die sich unter dem Jubel einer ungeheuern, frohbewegten Volksmenge vor ihren Augen entfaltet hatten. Auch Luise war dem allem mit lebhafter Teilnahme gefolgt, aber sie hatte nicht nur die äußere Herrlichkeit angestaunt, sondern auch manches dabei gedacht, und der geheime Widerspruch zwischen dieser Entfaltung kaiserlicher Macht und Größe und dem innerlichen Zerfall des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation war ahnungsvoll vor ihre Seele getreten.
»Die frohesten Stunden, die wir in Frankfurt verlebten,« sagte sie, »waren doch die im Hause der lieben Frau Rat Goethe. – Sie wissen doch, Gabriele, daß unser großer Dichter dort noch eine Mutter hat?«
»O, die prächtige Frau Rat!« rief Friederike lebhaft. »Sie ist so frisch und lustig wie ein junges Mädchen und wußte gar nicht, was sie uns alles zuliebe tun sollte. Haben Sie schon einmal Eierkuchen mit Specksalat gegessen, Gabriele? Etwas Köstlicheres gibt es auf der ganzen Welt nicht; selbst Luise war ganz entzückt davon, und wir fielen so darüber her, daß auch nicht ein Blättchen für Frau Rat selber übrigblieb. Wäre es nach mir gegangen, ich hätte auch gar zu gern das Spiel am Brunnen wiederholt, aber dazu war Luise zu vernünftig geworden.«
»Welch ein Spiel?« fragte Gabriele neugierig.
»Als wir vor zwei Jahren in Frankfurt waren und mit Frau Rat Bekanntschaft machten,« versetzte Friederike lachend, »gerieten wir eines Tages auf den Hof, wo ein Brunnen steht. Mademoiselle Gélieux, unsere Gouvernante, saß in lebhafter Unterhaltung mit Frau Rat oben im Zimmer, wir waren unsere eigenen Herren. Schnell ergriff ich einen Eimer, Luise setzte die Pumpe in Bewegung – ach, war das reizend, als der klare, eiskalte Wasserstrahl herausgeströmt kam! Wir konnten gar nicht genug davon bekommen; jetzt schwang ich den Brunnenschwengel, dann Luise, und wir mußten herzlich lachen, wenn uns das Wasser bald über die Hände, bald über die Füße und die Kleider schoß. Ich sehe noch das entsetzte Gesicht von Mademoiselle vor mir, als sie zufällig aus dem Fenster guckte und die Bescherung erblickte! Sie wollte gleich herunterfliegen und uns den Spaß verbieten, aber Frau Rat hielt sie fest und schloß listig die Tür ab, während sie selbst eilends in den Hof herabkam und mit uns lachte und scherzte!«
»Wir waren damals noch recht törichte Kinder,« meinte Luise lächelnd, »aber diesmal konnte ich die Eigenart der seltenen Frau schon besser verstehen. Ich hörte ihr so gern zu, wenn sie von ihrem Wolfgang sprach und ihn rühmte, daß er, wiewohl er ein vornehmer Mann und der Freund eines Fürsten geworden, doch immer ein lieber, zärtlicher Sohn geblieben sei – die hellen Tränen standen ihr dabei in den lieben Mutteraugen! Am schönsten aber ist ihre einfache, herzenswarme Frömmigkeit; sie steht zu ihrem Gott wirklich wie ein Kind zu seinem Vater, so fest vertraut sie ihm. Freilich meint Mademoiselle Gélieux, sie kenne nur den Gott des Alten Testaments,« setzte die Prinzessin leiser hinzu, »denn das Neue wäre ihr ein Buch mit sieben Siegeln.«
»Seht nur den wunderlichen Herrn, der dort unter den Bäumen, lustwandelt!« rief Friederike schnell dazwischen, immer bereit, dem Gespräche eine heitere Wendung zu geben. »Er scheint mit sich selbst zu sprechen und bewegt die Hände so lebhaft dabei – o welch ein komischer Anblick! Ist er ein Gelehrter oder ein Schauspieler?«
»Es ist Magister Fiedler, unser Lehrer,« versetzte Gabriele, »wir sind so an ihn gewöhnt und haben ihn so lieb, daß wir seine Seltsamkeiten gar nicht mehr bemerken.«
»Fiedler? Ist er ein Verwandter von Ihnen?«
»Kaum mehr als dem Namen nach, d. h. wenn man hundert Jahre zurückgehen wollte, würde man wohl aus denselben Ursprung stoßen, denn er stammt aus derselben Pastorenfamilie wie mein seliger Vater. Wir Scharfenecker bilden eigentlich alle eine große Familie, denn unser Amtmann hängt wieder mit dem Geschlecht meiner Mutter zusammen; vor dreihundert Jahren heiratete einmal ein Maltheim eine Nürnberger Patriziertochter, Margarete Ebnerin, von der wir sogar noch ein altes Bild besitzen.«
»Das ist schön«, sagte Prinzessin Luise sinnend. »Ihr Haus kommt mir vor wie eins der alten Patriarchen der Bibel, wo alle in dem Haupt des Stammes nicht nur ihren Herrn, sondern auch ihren Vater verehrten, weil ein Band gemeinsamer Abstammung alle umschlang.«
»Was sind das dort für allerliebste Kinder?« fiel Friederike ein. »Die eine sieht ja aus wie ein leibhaftiges Engelchen!«
»Das ist meine kleine Schwester,« versetzte Gabriele, »und die andere ist Lotte, unseres Amtmanns Enkelkind und Doras Spielgefährtin.«
Friederike lief den Kindern entgegen und fing ein neckisches Spiel mit ihnen an; das Lachen und Jauchzen tönte weithin durch den sonnigen Garten; die beiden andern schlossen sich unterdessen enger aneinander an und vertieften sich in ernste Gespräche über Bücher und Gedichte, für die beide mit jugendlicher Überschwenglichkeit schwärmten. Eine weibliche Gestalt, die bei einer Wendung des Weges sichtbar wurde, erregte die Aufmerksamkeit der Prinzessin; jene wandelte langsam, mit gesenktem Haupt, während ihre Hände weite Kreise vor ihr beschrieben. »Das ist unsere blinde Hausgenossin Maria«, erwiderte Gabriele auf die Frage ihrer Gefährtin. »Meine liebe Mutter verdankt ihr viel; sie fand vor langen Jahren freundliche Aufnahme in dem Hause ihres Vaters, als mein Großvater in der Schlacht bei Leuthen gefallen war und die arme Mama ganz allein in der Welt dastand. Wie kummervoll muß es gewesen sein! Mir hat Gott freilich auch den geliebten Vater genommen, aber ich habe doch meine Mutter, meine Geschwister, meine schöne, traute Heimat – o, ich bin noch reich und glücklich!«
»Und uns nahm der Herr die geliebte Mutter,« erwiderte Luise wehmutsvoll, »ach, so frühe, daß ich mich ihrer kaum noch erinnern kann! Ich weiß nur noch, daß ich alle Kränze, die man mir zu meinem sechsten Geburtstage beschert hatte, zusammenraffte und sie weinend zum Sarge der Teuern trug! Aber er schenkte uns einen herrlichen Ersatz in unserer Großmutter, und Schwester Charlotte von Hildburghausen sorgt aufs zärtlichste für uns – ja, auch wir sind reich an Liebe und dürfen nicht klagen.«
Die jungen Mädchen waren unter diesen Gesprächen der Blinden ganz nahe gekommen, deren Hand Gabriele ergriff. »Liebe Maria,« sagte sie, »wir haben die Freude, hohe und geehrte Gäste bei uns zu sehen; Prinzessin Luise von Mecklenburg, von der ich dir schon manches erzählt habe, steht vor dir.«
»Mein Kind,« erwiderte die Blinde in ruhigem Ton, »du weißt, ich verstehe es nicht, mit den Großen dieser Welt zu verkehren.«
»O, ich bin noch nicht groß,« sagte Prinzessin Luise lebhaft, »ich bin nur ein junges, schwaches Menschenkind, aber ich sehne mich herzlich danach, groß und stark zu werden in Glauben und Liebe.«
Ein schönes Lächeln verklärte Marias Züge, während sie das Ohr lauschend dem milden Klange dieser Stimme zuwendete. »Den Ton verstehe ich!« sagte sie freudig. »Der kommt aus dem Herzen eines Gotteskindes! Nimm meine Hand, Gabriele, und führe sie über das Antlitz deiner Freundin!«
Ein bittender Blick bewog die Prinzessin, noch einen Schritt näher zu treten, und mit leise tastenden Fingern fuhr die Blinde über die edlen Züge des Fürstenkindes. »Eine reine Stirn – treue Augen – ein gütiger, liebreicher Mund«, murmelte Maria vor sich hin, dann legte sie die Hand sanft auf Luisens Scheitel. »Der Herr segne und behüte dich!« sagte sie feierlich. »Mich dünkt, Er hat dich zu hohen Dingen berufen. Ich spüre einen bräutlichen Kranz auf diesem Haupt – nein, es ist eine Krone, und doch ist kein eitler Glanz und Schimmer dabei – wehe, sie verwandelt sich, es ist eine Dornenkrone geworden, deren spitze Stacheln dein Herz durchbohren! Armes Kind! – Aber gelobt sei Gott, und sein heiliger Wille geschehe!« Sie hatte die blinden Augen gen Himmel gewendet, mit erhobenen Händen stand sie da, einer Seherin gleich, und ihre Lippen murmelten leise Gebetsworte.
Gabriele war unsäglich erschrocken, sie schlang den Arm um Luise und zog sie mit sich fort, denn sie fühlte, daß diese zitterte und kaum ihren Tränen gebieten konnte. »Verzeihen Sie, o verzeihen Sie, teure Prinzessin!« bat sie. »Wie konnte ich ahnen, daß Maria Sie so verletzen würde? Sie tut manchmal wunderbare Blicke in die Zukunft, aber diesmal war wohl alles nur Trug und Einbildung.«
Luise hatte die Hand vor die Augen gedrückt, jetzt sah sie die Gefährtin mit einem Blick voll tiefster Bewegung an. »Gelobt sei Gott, und sein heiliger Wille geschehe!« wiederholte sie träumerisch. »Warum sollte ich nicht glauben, daß die Blinde von oben erleuchtet war und meine Zukunft durchschauen durfte? – Aber ich bitte Sie, sprechen Sie gegen niemand über diese Prophezeiung, welche ich im tiefsten Schrein meines Herzens aufbewahren will.«
»Mit Freuden gelobe ich Ihnen die strengste Verschwiegenheit, Prinzessin; möchten Sie den peinlichen Eindruck dieser Worte bald vergessen!«
»Nein, vergessen werde ich sie nie, aber sie sollen auch nicht wie ein Gespenst vor mir stehen, höchstens wie eine ernst-freundliche Mahnung, im Glück nie übermütig zu werden. Noch eine Bitte habe ich an Sie, Gabriele! Lassen Sie uns von heute an Freundinnen sein, in treuer Liebe und zärtlichem Vertrauen. Wollen Sie das?«
Gabriele schlang ihre Arme um den Hals der Prinzessin. »O Luise!« stammelte sie, atemlos vor Entzücken, »so hoch wollen Sie mich erheben? Ich habe Sie immer von ganzem Herzen geliebt, solange ich Sie kannte, aber ich wagte kaum zu hoffen, daß Sie mein Gefühl erwiderten.«
Die Prinzessin umarmte sie mit gleicher Wärme und küßte sie auf Stirn und Mund. »Ich glaube, unsere Seelen sind auf einen Ton gestimmt,« sagte sie mit schwärmerischer Innigkeit, »darum laß uns einen Bund machen für Freude und Leid, für Jugend und Alter, für Zeit und Ewigkeit! Muß ich auch vor der Welt die Höhergestellte bleiben, so wollen wir in der Stille doch Schwestern sein und alle fremden Formen fallen lassen. Küsse mich, meine Freundin, und sage mir, daß du mir treu bleiben willst, wie sich auch mein oder dein Schicksal gestalte.«
»Ich will es,« entgegnete Gabriele mit feierlichem Ernst, »und Gott segne den Bund, den deine Seele heute mit der meinigen geschlossen hat!«
Eng aneinandergeschmiegt, bald durch halblaute, abgerissene Worte, bald durch Blick und Händedruck dem Hochgefühl ihrer jungen Herzen Ausdruck gebend, suchten die beiden Freundinnen die entlegensten Gänge des Parkes auf; denn sie hatten in dieser Stunde, die ihnen groß und heilig erschien, das Bedürfnis, allein zu sein. Aber bald wurden sie durch den lauten Ruf ihrer Namen gestört, ein helles Kleid schimmerte durch die Büsche, und im nächsten Augenblick stand Prinzessin Friederike vor ihnen. »Wo seid ihr nur hingeschwunden?« rief diese in komischem Zorn. »Habt ihr eine Tarnkappe angelegt, oder hat euch der Hörselberg verschlungen, oder hattet ihr euch in so hohe Regionen verstiegen, daß irdische Blicke euch nicht mehr erreichen konnten? Ich suche euch seit einer halben Stunde vergeblich.«
Luise legte den Arm um die Schwester und strich ihr zärtlich und begütigend über die erhitzten Wangen. »Wir sprachen allerdings über hohe und ernste Dinge, wie sie Prinzessin Sausewind nicht immer fesseln,« sagte sie liebevoll, »aber es lag uns fern, dir zu entfliehen.« Und einen leichteren Ton anschlagend, führte sie das Gespräch auf ein Gebiet über, auf dem sich Friederike vollkommen heimisch fühlte, und wobei sie schnell ihre gute Laune wiederfand.
Bei der Mittagstafel erschien Magister Fiedler, dem die Ausgabe zufiel, die Mahlzeit durch ein Gebet einzuleiten und zu beschließen. Dies waren die vorteilhaftesten Augenblicke für ihn; denn die wohlklingende Stimme und die Inbrunst, mit der er die heiligen Worte sprach, verfehlten nie ihren Eindruck; als aber Prinzessin Friederike später die Augen zu ihm erhob, konnte sie ihre Heiterkeit kaum bezwingen. Die Kleider von altmodischem Schnitt schienen für eine viel breitere und größere Gestalt berechnet zu sein als für seinen schmächtigen, etwas gebeugten Körper; der große Kopf wurde noch gewaltiger durch eine Fülle von gepudertem Haar, welches an den Schläfen in zwei starke Wülste geordnet war und im Nacken in einem riesigen Haarbeutel verschwand. Von der neuen Mode, welche seit einem Jahrzehnt von England und Amerika her in Deutschland eindrang und in der Tracht die Natur wieder mehr zu ihrem Rechte bringen wollte, wußte der wackere Schulmeister augenscheinlich noch nichts. Er sprach nur wenig und schien in tiefster Ehrfurcht vor den hohen Gästen zu ersterben; um so erstaunter waren diese, als er bei der Abfahrt am Wagen stand, eine Papierrolle in der Hand, und mit höchstem Pathos und lebhaften Handbewegungen also zu deklamieren begann:
»O, welch seliger Tag ist diesem Hause erschienen,
Da vom hohen Olymp Himmlische stiegen herab!
Sehet, den Sterblichen naht zuerst die erhabene Tugend,
Würde des Alters, sie hüllt mildernd die göttliche ein.
Aber welch leuchtender Stern erscheint in ihrem Gefolge?
Jugend und Schönheit, ihr seid holdester Güte Gewand.
Himmlische Heiterkeit, sie ist im Bunde die dritte,
Die als ein glänzendes Kleid kindliche Anmut umschlingt.
Seid uns, ihr Hohen, gegrüßt! Wir neigen in Dank uns und Ehrfurcht,
Scheidend noch laßt ihr zurück lange die leuchtende Spur!«
Friederike hatte ihr lachendes Gesicht hinter der Schulter der Schwester verborgen, sie konnte bei diesem Anblick nicht ernst bleiben. »Weißt du, was er dort unter den Bäumen tat?« flüsterte sie. »Er hat gedichtet! O, welch drollige Figur macht unser Sänger – ob die alten Troubadoure wohl ähnlich aussahen?«
Die Landgräfin sprach dem Dichter ihren Dank aus, Prinzessin Luise reichte ihm mit holder Freundlichkeit die Hand; sie fühlte stets die Gesinnung heraus und ließ sich durch Äußerlichkeiten nicht so leicht beeinflussen wie die Schwester. Noch einmal nickte sie der Tochter des Hauses einen besonders innigen Gruß zu, dann setzte der Reisewagen sich in Bewegung und war bald hinter den Hügeln der Landstraße verschwunden.
Längst hatten alle, die beim Abschied zugegen gewesen waren, sich wieder zerstreut, und noch immer stand Gabriele auf der Rampe und schaute wie verzückt den Reisenden nach. So fand sie nach einer Weile Frau v. Fiedler. »Was tust du hier noch, mein Kind?« fragte sie erstaunt. Das junge Mädchen schien aus einem Traum zu erwachen, sie blickte die Mutter mit großen Augen an, dann warf sie sich derselben stürmisch um den Hals. »O meine Mutter,« stammelte sie, »wie unsäglich glücklich bin ich! Alles, was mein Herz begehrte, ist mir zuteil geworden: ich habe eine Freundin gefunden, mit der ich für Leben und Tod vereinigt bin.«
Ein leises Lächeln spielte um Frau v. Fiedlers Lippen. »Und wer ist sie?« fragte sie.
»Wer könnte es sein als Luise, dieser Engel in Menschengestalt, diese reine, himmlische Seele! O Mutter, ich fühle mich so hoch erhoben durch ihre Wahl und doch so tief beschämt durch ihre Liebe, die ich nicht verdiene! Aber ich will ihrer wert werden, ich schwöre es Ihnen!« rief sie voll Begeisterung aus. »Fort mit allen kindischen Unarten und Torheiten, die der Freundin einer Luise unwürdig sind! Mein Streben soll fortan nur auf das Höchste und Beste gerichtet sein!«
Frau v. Fiedler schüttelte leise den Kopf und sah mit ernster Miene auf die Tochter herab, aber bald hellte ihr Gesicht sich wieder aus. »Gott helfe dir dazu!« sagte sie mild und freundlich. »Ist doch jeder Antrieb zum Guten ein Engel Gottes, der unsere Seele von oben grüßt. Gott bewahre dein junges Herz vor Täuschung und trüben Erfahrungen! Und nun laufe hinaus, Gabriele, und kühle deine glühenden Wangen ab, ehe du zum Herrn Magister in die Stunde gehst; es ist Zeit, daß wir alle zu unserem Tagewerk zurückkehren.« Die Tochter küßte dankbar die treue Mutterhand und flog, froh der erhaltenen Erlaubnis, in den Park hinaus.