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Vierzehntes Kapitel.
Entscheidung

Die eh'rnen Würfel sind gefallen.
Geschlagen ist die blut'ge Schlacht.
Laut Frankreichs Siegsfanfaren schallen,
Und Preußens Ruhm versinkt in Nacht.

Es war am vierzehnten Oktober. Franz, der Diener, schien heute bei Tische von einem tückischen Kobold geplagt zu werden: die Teller klirrten in seinen Händen, die Löffel fielen auf die Erde, und vergebens warf ihm die Hausfrau einen strafenden Blick nach dem anderen zu. »Was ist Ihm, Franz? Ist Er krank?« fragte sie endlich, als er ihr eine Schüssel präsentierte und den Inhalt über den Rand schüttete.

»Halten zu Gnaden, krank nicht gerade – mir ist nur der Schreck in die Glieder gefahren – die Leute sagen, die Franzosen wären uns ganz nahe – um Weimar herum würde heute eine große Schlacht geschlagen«, stotterte Franz.

»Heute schon?« rief Leutnant v. Senden, indem er ungestüm aufsprang, »und ich bin nicht dabei? Wer sagt das? Woher weiß Er es?«

»Ein Bauer aus dem Gothaischen kam hier durch, Ew. Gnaden, er hat es von anderen gehört. Es geht wie durch die Luft, jeder weiß davon, man kann sie auch schießen hören, wenn man recht aufhorcht.«

»Ich breche sofort auf,« sagte Senden schnell, »Verzeihung, Frau Baronin, der Ernst der Sache duldet keinen Aufschub.« Er stürzte aus dem Zimmer, Hartenstein folgte ihm.

»Daß nur mein Sohn nichts davon erfährt! Niemand darf den Flügel drüben ungerufen betreten!« sagte Frau v. Fiedler ernst und befehlend. »Lotte, gib wohl auf Thea acht! Maltus, du bleibst bei dem Herrn Magister!« Damit eilte sie zu ihrem Kranken und ließ die anderen in nicht geringer Aufregung zurück.

Eine Stunde später stand der Leutnant gestiefelt und gespornt vor Lotte, um Abschied zu nehmen. »Leben Sie wohl, mein Fräulein,« sagte er, indem er ritterlich ihre Hand küßte; »seien Sie überzeugt, daß ich die Tage, die ich in diesem Schlosse verleben durfte, nie vergessen werde! Hoffentlich komme ich noch rechtzeitig auf dem Kampfplatze an, um an dem Siege unserer Armee vollen Anteil zu nehmen; haben wir die Franzosen geschlagen und in ihre Grenzen zurückgejagt, so kehre ich zurück, um mir von diesen zarten Händen den Lorbeerkranz flechten zu lassen.«

»Der soll Ihnen nicht fehlen, Herr v. Senden,« versetzte Lotte, die erregte Stimmung hinter leichtem Scherz verbergend, »und groß und dick genug soll er sein, um alle Ihre Heldentaten zu bedecken; vollbringen Sie nur recht viele!«

»Ich bin dazu bereit,« versetzte der junge Offizier, indem er übermütig den kleinen Schnurrbart strich, »bis dahin Gott befohlen!« Er drückte die hohe Mütze auf die krausen Locken, warf den Kopf auf und hinkte hinaus. Gedankenvoll sah Lotte ihm nach; der junge Held konnte mit seinem kranken Fuß nicht einmal allein sein Pferd besteigen, sondern mußte sich hinaufhelfen lassen; oben angelangt aber schwenkte er kühn seinen Säbel, grüßte noch einmal und sprengte mit einem kleinen Häuflein Husaren – denselben, welche den Wagen geleitet hatten – davon. »Man könnte ihn um seine stolze Zuversicht beneiden!« sagte der Hauptmann zu Lotte, nachdem er sich von jenem verabschiedet hatte; »er zieht in die Schlacht hinaus wie zum Tanze.«

»Teilen Sie seine Erwartungen nicht?« fragte das junge Mädchen ernst.

Hartenstein zuckte seufzend die Achseln. »Man ist mit einem zerspaltenen Schädel wohl zu geneigt, alles schwarz anzusehen; folgen Sie lieber dem Beispiel meines leichtherzigen Kameraden, und hoffen Sie das Beste!«

In den nächsten vierundzwanzig Stunden konnte keine Seele auf Scharfeneck Ruhe finden; alle Augenblicke lauschte man hinaus, ob nichts geschehen sei; man legte das Ohr an die Erde, um den Kanonendonner zu hören, man erzählte sich die widersprechendsten Nachrichten vom Kampfplatz und wußte doch kaum zu sagen, woher sie gekommen wären. Bis in das Krankenzimmer schien, trotz der strengsten Absperrung, die allgemeine Erregung zu dringen; auch Gerhard wurde von qualvoller Unruhe gepeinigt, kein Schlaf wollte seine Augen schließen. Am nächsten Morgen verlangte er dringend die Kameraden zu sprechen, die Kunde von Sendens Abreise erregte ihn noch mehr, er durchschaute sofort den Grund und nahm Hartenstein das feierliche Versprechen ab, ihm ohne Zögern die Entscheidung zu melden. Seine Mutter mußte ihn gewähren lassen, um ihn nicht noch mehr zu beunruhigen, aber sie sah voll Todesangst seine Spannung an und zitterte vor dem unheilvollen Eindruck, den eine ungünstige Nachricht auf ihn machen mußte.

Schon mehrmals, in den langen Zeiten des Wartens, war Lotte mit Maltus auf das Türmchen des Schlosses gestiegen, um Umschau zu halten, lag doch hier die Landstraße bis hinter das Dorf hinaus klar vor ihren Augen. Kurz vor Mittag zeigte sich weit hinten ein schwarzer Punkt, der schnell näher kam; bald konnte man erkennen, daß es ein Reiter sei, der sein Pferd zu rasender Eile sporne. Eine Zeitlang entzogen ihn hohe Bäume den Ausschauenden, gespannt warteten sie, ob er im Dorfe rasten oder auf dem Wege nach Scharfeneck wieder erscheinen würde. Da war er! Er strebte offenbar nach dem Schlosse, und sie zweifelten nicht, daß er die ersehnte Botschaft vom Kriegsschauplatze bringen würde. Schnell stiegen beide die engen Wendeltreppen hinab und kamen zu gleicher Zeit mit dem Reiter vor dem Eingange an. Das Pferd war mit Staub und Schaum bedeckt, seine Flanken flogen, die Zunge hing ihm lechzend aus dem Maul. Schlaff hing sein Herr auf seinem Rücken, sein Gesicht war aschfahl, alle Kraft schien aus seinen Gliedern entwichen.

»Großer Gott, Senden, was bringen Sie?« rief Hartenstein, der mit Franz die Stufen hinabeilte, »das sieht nicht aus wie Siegesfreude!«

Man half dem Offizier aus dem Sattel, aber er vermochte nicht aufrecht zu stehen, hilflos ließ er sich auf die Treppe niederfallen, und seine Lippen bewegten sich, ohne daß ein Laut hervorkam. Lotte flog nach einem Glase Wein und hielt es ihm an den Mund, er trank in gierigen Zügen. »Verloren, alles verloren!« stöhnte er und vergrub sein Gesicht in den Händen, um die strömenden Tränen zu verbergen. In wortlosem Schrecken standen alle um ihn her, im ersten Augenblick wagte keiner das Furchtbare auszudenken.

»Reden Sie, Mann, sagen Sie uns die volle Wahrheit!« stieß der Hauptmann mühsam hervor, indem er des anderen Schulter heftig schüttelte; »selbst nach einer Niederlage kann nicht alles verloren sein! Wo ist der König? Wo ist die Armee?«

Senden sah mit starren Augen auf. »Der König ist gerettet, – eine Armee – gibt es nicht mehr!« sagte er tonlos. »Bei Jena ward gestern das Heer des Fürsten v. Hohenlohe, bei Auerstädt das des Herzogs von Braunschweig total vernichtet – die obersten Führer sind auf den Tod verwundet – alle Ordnung ist aufgelöst – wilde Flucht ist das einzige, woran Offiziere und Soldaten denken.«

»Was tun die Franzosen?« fragte Hartenstein heiser.

»Sie verfolgen die Fliehenden und besetzen das Land, ein Trupp war mir nahe auf den Fersen – heute oder morgen werden sie sicher hier sein.«

Bei diesen Worten stoben die Zuhörer, die sich in immer dichterem Kreise um den Offizier geschart hatten, jammernd auseinander. »Der Feind, der Feind!« schrien sie, »rettet euch und das Eure – die Franzosen kommen!«

Der Amtmann, der sich auch eingefunden hatte, trat auf den Hauptmann zu. »Die Herren müssen an ihre Sicherheit denken,« sagte er dringend, »ich bitte Sie, mir sogleich in Ihren Versteck zu folgen, die Franzosen dürfen Sie hier nicht finden!«

»Erst muß ich dem Baron die Trauerkunde bringen,« versetzte Hartenstein finster; »sie kann ihn töten – aber ich gab ihm mein Ehrenwort.«

»So kommen Sie schnell, Herr Hauptmann; ich begleite Sie, um mit der gnädigen Frau zu sprechen, nur kein Zögern mehr!«

Das Schreien und Jammern war schon bis zu den Ohren der Freifrau gedrungen und hatte sie auf das vorbereitet, was geschehen war; als ihr die Herren gemeldet wurden, bedurfte es keiner Worte mehr, um sie von allem zu unterrichten. Als Hartenstein um die Erlaubnis bat, mit ihrem Sohn zu reden, neigte sie in stummer Ergebung das Haupt; dem Amtmann gab sie unbedingte Vollmacht, nach seinem Ermessen zu handeln, nur diesen einen Flügel des Schlosses beanspruche sie für sich und die Ihren, und sie hoffe, daß selbst die Feinde die Ruhe eines Sterbenden achten würden.

Als der Hauptmann das Zimmer verlassen hatte, ging Frau v. Fiedler mit zitternden Knien zu ihrem Sohn hinein und setzte sich still an seinem Bette nieder; sie sah es mit einem Blick, daß auf seiner Stirn das Siegel des Todes lag, und der Jammer ihres Herzens war zu groß für Worte. »O Mutter,« seufzte der Kranke mit halbgebrochener Stimme, »ich bin des Lebens müde! Verlassen von meinem Weibe, besiegt und geschlagen von ihren Landsleuten – was soll ich noch hoffen und wünschen? Halte mich nicht zurück! Laß mich sterben!«

Sie schlang die Arme um ihn. »Nimm mich mit dir!« flüsterte sie leise, »o, daß ich dir folgen dürfte in den ewigen Frieden!«

»Nein, nein, Mutter!« sagte er mit größerer Lebhaftigkeit, »du mußt hierbleiben, um meinen Kindern Vater und Mutter zu ersetzen! Was sollte aus ihnen werden ohne dich? Versprich mir, daß du für sie sorgen willst, bis sie selbst es tun können.«

Sie seufzte tief. »Ja, du hast recht, mein Sohn, meine Aufgabe ist noch nicht vollendet; ich muß auf meinem Posten ausharren, und ich will es, solange Gott mir die Kraft dazu gibt.«

»Gute, treue Mutter!« hauchte er mit einem Blick voll inniger Dankbarkeit, »du machst mir das Sterben leicht! Rufe meine Kinder.«

Weinend knieten Maltus und Thea an seinem Lager und lauschten mit scheuer Ehrfurcht den letzten Ermahnungen ihres sterbenden Vaters. Dann verlangte Gerhard, daß man die alten Diener des Hauses hereinrufe; er ließ sich aufrichten, und indem er die schon entfliehende Lebenskraft gewaltsam zusammenraffte, sprach er mit deutlicher Stimme: »Ihr alle, die ihr hier versammelt seid, hört meinen letzten Willen. Mein Sohn soll bis zum vollendeten zwanzigsten Jahr unter der Vormundschaft seiner Großmutter bleiben und ihr in allen Stücken gehorsam sein; dann aber soll er frei entscheiden, ob er der Nation seines Vaters oder der seiner Mutter angehören will. Welche Partei du ergreifen mögest, mein Maltus: diene ihr mit ganzem, ungeteiltem Herzen; sei ein echter deutscher Mann wie deine Väter oder ein ganzer Franzose nach dem Wunsche deiner Mutter; hüte dich nur vor Halbheit und Schwanken. Der Segen Gottes und der deines Vaters begleiten dich auf allen deinen Wegen, welche du auch einschlagen mögest! – Nimm diesen Ring, Mutter, das uralte Kleinod unseres Hauses, und bewahre du ihn auf; wenn mein Sohn sich einst für Deutschland entscheidet, so gib ihm denselben, daß er ihn mit Ehren trage, wie seine Ahnen es seit Jahrhunderten taten; im anderen Falle soll er mit dir begraben werden. – Lebt alle wohl, habt Dank für eure Liebe und Treue – bewahrt sie auch meinen Kindern!«

Er sank zurück; unter leisem Schluchzen verließen alle das Zimmer, Mutter und Sohn blieben allein. Als die Sonne unterging, beleuchtete ihr letzter Strahl ein stilles Totenangesicht.

Um dieselbe Stunde hörte man in Tannenrode das Knallen von Schüssen, lautes Pferdegetrappel und wildes Geschrei; ein Häuflein fliehender Reiter – man konnte bei der Eile nicht erkennen, ob es Preußen oder Sachsen waren – jagte in rasendem Lauf durchs Dorf, dem Walde zu, in dessen Dickicht es verschwand. Gleich danach kam ein Trupp französischer Chasseurs desselben Weges dahergesprengt und verlangte wetternd und fluchend, zu wissen, wo jene geblieben wären. Die wenigen auf der Straße vorhandenen Leute, welche ihre Sprache nicht verstanden, antworteten nur mit Achselzucken und unverständlichen Gegenreden; da zogen die Soldaten ihre Säbel und hieben mit der flachen Klinge auf die Dorfbewohner ein. Im Nu war der stille Ort in lauter Aufregung; schreiend liefen die Geschlagenen davon, aber schon waren die Chasseurs abgesessen und folgten ihnen nach; sie schlugen heftig an die Türen und verschlossenen Fensterläden und verlangten gebieterisch Einlaß, Speise und Trank; wer nicht sogleich öffnete, dessen Haus ward mit Gewalt erbrochen und alles schonungslos fortgenommen, was den übermütigen Siegern gefiel. Hier und da kam es zu Streit und Gewalttat; einige der Männer widersetzten sich zornig den frechen Eindringlingen, aber die Frauen flehten um Gnade und suchten die Feinde durch gefügigen Gehorsam milder zu stimmen. Da tönten plötzlich helle Pfeifen und Trommelwirbel von fern, der regelmäßige Tritt einer marschierenden Truppe ließ den Boden erzittern. Die Chasseurs horchten betroffen auf, der Trompeter gab das Zeichen zum Sammeln, alle eilten zu ihren Pferden und ritten den Anrückenden entgegen.

Die Dorfbewohner atmeten auf, aber die Erlösung sollte nur kurze Zeit dauern; wie ein breiter Strom ergoß sich bald darauf ein Regiment französischen Fußvolks unter dem lauten Ruf: » Vive l'empereur!« über den ganzen Ort. Diesmal waren viele Offiziere dabei, und die Sache wurde mit mehr Ordnung, wenn auch nicht mit viel mehr Schonung betrieben; der Schulze und die Dorfältesten wurden vorgefordert und ihnen in kurzen, befehlenden Worten aufgegeben, den Soldaten gute Quartiere anzuweisen und sie anständig zu verpflegen, widrigenfalls man kurzen Prozeß mit den Aufsässigen machen und ihre Häuser in Brand stecken werde. Zitternd versprachen die Häupter der Gemeinde, ihr möglichstes zu tun; nur für den Stab des Regiments, der morgen nachkommen sollte, wollte sich kein passendes Unterkommen finden; man schlug daher das Herrenhaus zu Scharfeneck vor. Dorthin brach ein Offizier mit einer Abteilung Gemeiner sogleich auf; der Ortsschreiber, der etwas Französisch radebrechte, mußte sie führen.

Es war schon dunkel, als der Trupp vor dem verschlossenen Tor ankam; tiefes Schweigen hing über Haus und Hof, lag doch dort oben ein Toter, den jeder von ganzem Herzen bedauerte. Laut dröhnten die Kolbenschläge der ungeduldigen Soldaten gegen den Torflügel, der sich alsbald auftat; der Amtmann, der von dem Einrücken der Feinde bereits benachrichtigt war, trat ihnen entgegen und empfing den Offizier mit ernster Höflichkeit. Er stellte bereitwillig Quartier und Verpflegung zur Verfügung, verhieß die beste Aufnahme des Obersten und seines Gefolges für morgen im Herrenhause und bat nur, dieses heute zu schonen, da eine Leiche darin läge. Da er fließend Französisch sprach und alle Ansprüche befriedigte, so war die Verständigung nicht schwer; bald waren alle ungebetenen Gäste untergebracht, und da keiner Grund zur Klage fand, so schien wenigstens für diese Nacht der Friede bewahrt zu sein.

Im Arbeitszimmer ihres seligen Gatten hielt Frau v. Fiedler die Totenwacht an der Bahre ihres Sohnes, neben ihr Maltus, der es sich als Ehrenpflicht ausgebeten hatte, bei dem teuern Vater zu wachen. Aber als Stunde um Stunde verrann, waren ihm die Augen schwer geworden, er hatte den müden Kopf auf den Schoß der Großmutter gestützt und war eingeschlummert. Im Hintergrunde des Zimmers saßen die beiden Getreuen, Franz und Fanny, und nebenan Lotte an Theas Bettchen; die Kleine war wohl die einzige, die in dieser Nacht die gewohnte Ruhe fand; sie hatte sich satt geweint und verschlief nun Trauer und Sorge, welche alle anderen Bewohner wach erhielten. Der Morgen fing kaum an zu dämmern, als lauter Lärm am Hoftor alle erschrocken auffahren ließ; ein Haufe französischer Tirailleurs drang in den Hof und verlangte Unterkommen; die Leute gebärdeten sich wie toll, sie hörten auf kein gütliches Zureden, sondern tobten wild durcheinander, schimpften auf die Kameraden, die es sich hier bequem machten, während sie die ganze Nacht hätten marschieren müssen, und drohten Türen und Fenster einzuschlagen, wenn man ihnen nicht sofort das Herrenhaus öffne. Vergebens suchte der Amtmann sie zu beruhigen; vergebens bat er den Offizier, Ordnung und Gehorsam aufrecht zu halten – der Leutnant erklärte, die Soldaten gehörten nicht zu seinem Regiment, er wäre daher nicht für sie verantwortlich, und damit drehte er sich ruhig auf die andere Seite.

Man hatte unterdessen die Haustür aufgeschlossen, und der wilde Haufe drang in das schweigende Schloß ein; rücksichtslos polterten sie über Treppen und Gänge und stürmten in die Zimmer, welche für die erwarteten hohen Offiziere bereitstanden. Umsonst suchte Mamsell Jettchen mit ihrem breiten Rücken die Gastbetten zu decken und dabei mit unendlicher Zungenfertigkeit auseinanderzusetzen, daß diese durchaus nicht für gemeine Soldaten bestimmt seien; sie wurde durch die Übermacht schnell beiseite gedrängt, der eine gab ihr einen Stoß, der andere einen derben Kuß, und gegen diese Vereinigung von Gewalt und Zärtlichkeit war die brave Seele, trotz ihrer sittlichen Entrüstung, machtlos. Während einige Soldaten sich mit ihren beschmutzten Uniformen auf die schneeweißen Betten und seidenen Steppdecken warfen, schrien andere nach Wein, noch andere verlangten nach dem Hausherrn, dessen Pflicht es sei, seinen Gästen aufzuwarten. Da tat sich die Tür auf, und auf der Schwelle erschien Frau v. Fiedler; die hohe, schwarzgekleidete Gestalt mit dem schwarzen Trauerschleier, unter dem das bleiche Gesicht mit den großen Augen förmlich zu leuchten schien, wirkte wunderbar beschwichtigend auf die tobende Gesellschaft; und als sie mit ernster Stimme bat, die Ruhe eines Toten zu achten, der seinen ehrenvollen Wunden erlegen sei, da schwiegen auch die wüstesten Gesellen einigermaßen beschämt und versprachen, den Lärm einzustellen, wenn man ihre Forderungen befriedige. Man mußte sie freilich im Besitz der Zimmer lassen, aber wenigstens wurde es für eine Weile wieder still im Hause.

Nur in der großen Küche im Erdgeschoß blieb es lebendig; da wurde die ganze Nacht hindurch gekocht, gebraten und gebacken, und Mamsell Jettchen kommandierte ihre Untergebenen wie ein Offizier seine Soldaten. Dazwischen liefen ihr die dicken Tränen über die rundlichen Backen. »O du grundgütiger Herrgott!« schluchzte sie, »was ist das für eine Heidenwirtschaft! Oben liegt unser junger, gnädiger Herr kalt und tot auf der Bahre, unsere alte Gnädige selbst sieht aus, als wollte der Jammer ihr das Herz zerbrechen, und dabei ist Haus und Hof voll von diesem wilden, feindlichen Volk, und wir müssen uns hier abstrapazieren, um die wüsten Mäuler satt zu machen, und kochen und braten, als sollte eine Hochzeit gefeiert werden! Und die junge Gnädige, die doch die Nächste bei dem Toten wäre, ist weg – keiner weiß, wo, und keiner spricht ein Sterbenswörtchen von ihr – o du mein Heiland, was ist das für eine sündhafte Welt, die meine alten Augen noch sehen müssen! Es stößt einem ja rein das Herz ab!« Sie zog die Schürze über das Gesicht und weinte und schluchzte zum Erbarmen.

»Sie sagen ja, Mamsellchen,« meinte eins der Küchenmädchen, »die junge Frau wäre zu den Franzosen gegangen; sie hätt' es halt immer mit den Welschen gehalten.«

»Willst du den Mund halten, du Grünschnabel!« rief Mamsell Jettchen, indem sie die Schürze schnell herunterzog und die Magd mit zornfunkelnden Augen anblitzte. »Solch ein Kuck-in-die-Welt will sich unterstehen, über seine Herrschaft zu schwatzen? Schäl' deine Kartoffeln, du Naseweis, und laß mich solch ungewaschenes Zeug nicht noch einmal hören!«

Das Mädchen schwieg ganz erschrocken, und man hörte eine Weile nur das Brodeln in den Kesseln und das Klappern der Gerätschaften. Da ward die Tür aufgerissen, ein paar Soldaten traten ein; sie schienen heute viel menschenfreundlicher gesonnen als in der Nacht, denn sie eilten gleich auf die jungen Dirnen zu, suchten sie zu umarmen und sehr handgreiflich mit ihnen zu scherzen. Aber da erhob sich Mamsell Jettchen zu ihrer ganzen Höhe. »Was soll das heißen?« rief sie erbost und stemmte beide Arme in die Seiten. »Hier bin ich Herr und leide keine solchen unmanierlichen Späße! Raus, Kujon! allons, Musjö! kusch dich – oder – – Dort hat der Zimmermann das Loch gelassen!« Ihre Mienen und Gebärden redeten eine Sprache, die selbst den Franzosen verständlich war; lachend folgten sie der Weisung des energisch ausgestreckten Fingers und verließen die Küche.

Man merkte, daß die bewaffnete Macht ihre Nachtruhe beendet hatte, das Hin- und Herlaufen, das Rufen und Schreien steigerte sich bald wieder zum wüsten Lärm; trotz der größten Mühe konnte der Amtmann es nicht erreichen, daß die Soldaten in Reih' und Glied antraten, um ihr Frühstück in Empfang zu nehmen, es blieb vielmehr ein wirres Durcheinander, ein Drängen und Stoßen, Streiten und Fluchen, welches die ganze Umgebung des Hauses mit lautem Getöse erfüllte. Der Wirrwarr hatte den höchsten Grad erreicht, als auf der Landstraße Hufschlag ertönte. Bald darauf erschien am Gittertor eine Schar von Offizieren; es war der Oberst mit seinem Stabe. Seine Gegenwart, seine kurzen Kommandoworte brachten schnell Ordnung und Ruhe unter die verwilderte Schar, der Leutnant erschien eiligst auf dem Platze, und der Amtmann atmete erleichtert auf.

Er führte die Herren in die für sie bestimmten Zimmer und bat wegen der noch nicht ganz vertilgten Spuren der Eindringlinge um Entschuldigung; dabei kam das ungehörige Betragen der Tirailleurs zur Sprache, welche der Oberst streng zu bestrafen verhieß. Sein Aussehen kam Ebner merkwürdig bekannt vor, aber er suchte vergebens in seiner Erinnerung nach, wo er ihn schon gesehen haben könnte. Auch der Franzose schien hier nicht unbekannt zu sein; er erkundigte sich mit Interesse nach der Familie, hörte mit offenbarer Teilnahme von dem Tode des Freiherrn und ließ sich erzählen, was aus den Töchtern des Hauses geworden sei. Gegen Mittag schickte er seinen Kammerdiener und ließ die Hausfrau um eine Unterredung bitten; seufzend entschloß sie sich dazu, ihn zu empfangen, aber sie durfte es ja nicht abschlagen und empfand schmerzlich die drückende Notwendigkeit, mit dem Feinde über das Begräbnis ihres Sohnes zu sprechen.

Als Frau v. Fiedler in ernster Würde das Besuchszimmer betrat, kam ihr der fremde Offizier schnell entgegen, verbeugte sich ehrfurchtsvoll und küßte ihr die Hand. »Ich beklage es tief, Frau Baronin,« sagte er mit weicher, wohlklingender Stimme, »daß der Ratschluß eines mächtigen Schicksals, dem wir Sterbliche gehorchen müssen, mich zwingt, als Feind dieses Haus zu betreten, das mich einst mit gütiger Gastfreundschaft aufnahm, in dem ich unvergeßliche Tage und Wochen verleben durfte.«

Erstaunt heftete die Freifrau den Blick auf sein Gesicht: » Monsieur le comte de Malthême!« sagte sie nach einigen Sekunden in höchster Überraschung; »sicher hätte ich nie erwartet, Sie in dieser Gestalt wiederzusehen – den vertriebenen Aristokraten, den begeisterten Anhänger seines unglücklichen Königs im Dienste der Revolution!«

Er zuckte die Achseln. »Die Revolution ist tot, gnädige Frau; der sie gebändigt hat, ist der gewaltigste Mann, der je auf einem Throne saß. Le roi est mort, vive l'empereur! Ich bin Franzose und kämpfe für den unsterblichen Ruhm meines Vaterlandes, auf dessen Siege ich stolz bin!«

Sie senkte in tiefer Trauer das Haupt. »Auf Ihrer Seite ist der Sieg und der Ruhm, auf unserer Schmerz und Verlust. Sie kämpfen für Ihr Vaterland, mein Sohn hat für das seinige den Tod gefunden; aber als ein tapferer Soldat werden Sie auch dem gefallenen Feinde die letzte Ehre nicht versagen und mir gestatten, die Überreste meines einzigen Sohnes ungestört neben denen seines Vaters zur Ruhe zu legen.«

»Es versteht sich von selbst,« erwiderte der Graf verbindlich, »daß Sie in diesem Punkte alles nach Ihren Wünschen einrichten; ich selbst werde es mir zur Ehre rechnen, Ihren Herrn Sohn zu seiner Ruhestätte zu begleiten, und ich schätze mich glücklich, einen kleinen Teil meiner Dankbarkeit gegen Sie und Ihr Haus dadurch abzutragen, daß ich Ihnen die Belästigungen einer fremden Einquartierung nach Kräften erleichtere. Mich selbst ruft der Wille meines Kriegsherrn zwar bald auf einen anderen Schauplatz, aber ich hoffe, daß man meine strengen Befehle auch in meiner Abwesenheit genau befolgen wird.«

»Ich danke Ihnen,« sagte Frau v. Fiedler warm, indem sie ihm die Hand reichte, »und ich freue mich, in dem Offizier des neuen Kaiserreiches den Mann von vornehmer Gesinnung wiederzufinden. Gestatten Sie mir noch eine Frage: Was ist aus der Königin von Preußen geworden? Ich bin um ihr Schicksal in um so größerer Sorge, als das meiner Tochter unzertrennlich damit verbunden ist.«

»Man sagt, sie sei auf dem Wege nach Berlin,« versetzte Malthême; »doch will ich um Fräulein v. Fiedlers willen dringend hoffen, daß sie es schleunigst wieder verläßt, denn unsere Armee ist gleichfalls auf dem Wege dorthin, und es gibt wenig, was sie aufhalten könnte.«

»Aber wir haben doch noch Festungen, heldenmütige Offiziere, tapfere Soldaten,« wandte die Freifrau ein, »unmöglich kann an einem Tage das alles vernichtet sein!«

»Festungen?« fragte der Graf mit mitleidigem Lächeln; »Erfurt hat sich gestern mit zehntausend Mann und reichen Vorräten einem Reitertrupp ergeben, andere werden folgen. Die Niederlage bei Jena und Auerstädt wirkt wie schleichendes Gift auf Preußen und macht Männer zu Weibern, während auf unserer Seite der eine gewaltige Sieg immer Größeres erzeugt und aus jedem gemeinen Manne einen Helden macht.«

Die Worte schnitten der gebeugten Frau tief in die Seele, und doch konnte sie nicht verhehlen, daß sie die Wahrheit enthielten.

Am folgenden Tage fand das Begräbnis statt, der Graf v. Malthême folgte wie ein Leidtragender, französische Soldaten gaben dem Toten die letzten Ehrenbezeigungen in sein Grab mit. Bald darauf verabschiedete sich der Oberst und ritt mit seinem Stabe davon; auch die Mannschaften zogen ab, bis auf eine kleine Besatzung, welche die Gegend beständig durchstreifen und eine dauernde Verbindung mit der Festung Erfurt aufrechthalten sollte. Doch verhielten sich die Leute, die nur von einem Unteroffizier befehligt wurden, ganz manierlich und schlossen gute Freundschaft mit den dienenden Bewohnern von Scharfeneck. Die beiden Offiziere mußten eine Weile in ihrem Versteck bleiben, bis es endlich gelang, sie heimlich fortzuschaffen.


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