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In Ketten liegt das Vaterland,
Im stillen glüht die Rache.
O Knabe, bleib mit Herz und Hand
Treu der gerechten Sache!
Es war im März des Jahres 1809, als zwei Männer auf das Herrenhaus zu Scharfeneck zuschritten, beide durch grüne Joppen und Jägerhüte als Forstbeamte, wenn auch sehr verschiedener Grade, gekennzeichnet. »Melden Sie mich bei der gnädigen Frau, Franz«, sagte der eine – es war der Oberförster Ebner – zu dem Diener, der ihnen in der Halle begegnete. »Ihr wartet hier, Freundchen, bis ich euch rufen lasse«, fügte er, gegen seinen Begleiter gewendet, hinzu. Neugierig und prüfend betrachtete Franz den Wartenden, dessen kraftvolle Gestalt und sichere Haltung mit dem grauen Vollbart und der groben Kleidung nicht recht im Einklang zu stehen schien. »Wo ist Er denn zu Hause, Kamerad?« fragte er den Jäger zutraulich.
»In der Mark.«
»Und was will Er hier bei uns?«
»Stellung suchen.«
»So, Stellung suchen?« wiederholte der Diener, etwas geärgert durch die kurze Art des anderen, »glaubt Er denn, die offenen Stellen hierzulande warten nur auf hergelaufene Fremde?«
»Das ist nicht Seine Sache.«
»Oho, wir sind ja höllisch kurz angebunden! Wer schon so lange das Vertrauen unserer gnädigen Frau Baronin besitzt wie ich, der hat wohl ein Recht zum Fragen. – Weiß Gott, der hochnäsige Patron kommt mir bekannt vor,« brummte er vor sich hin, »ich möchte wetten, die Stimme hätte ich schon gehört.« In diesem Augenblick ging Lotte durch die Halle, der alte Jäger nahm seinen Hut ab und verneigte sich tief vor ihr. Sie wollte mit flüchtigem Nicken vorübergehen, aber der vornehme Anstand des Grußes erregte ihre Aufmerksamkeit; sie blieb auf der Schwelle stehen und betrachtete den Mann, der seinen Hut schon wieder tief in die Augen gedrückt hatte; auch ihr schien er eine unbestimmte Erinnerung zu wecken.
Jetzt wurde der Fremde in das Zimmer der Freifrau gerufen; kopfschüttelnd sah Franz ihm nach. »Ich weiß gar nicht, was der Oberförster hier jetzt so viel zu tun und mit der Gnädigen zu verhandeln hat,« sagte er zu sich selbst, »alle Wochen beinahe ist er hier, und die Unterredungen nehmen kein Ende. Da steckt etwas dahinter! Bloß um einen neuen Jäger handelt es sich nicht, dazu brauchte nicht just der Herr Ebner viele Meilen weit herzukommen. Ich glaube, – ich glaube, – es ist etwas mit den verwünschten Franzosen im Werk, – und Zeit wäre es wahrlich, diese unleidlichen Mosjös, die unsere guten Freunde sein wollen und uns bis aufs Blut schinden, zum Lande hinauszujagen!« –
Als der Jäger in das Arbeitszimmer eintrat, erhob sich Frau v. Fiedler von ihrem Sitz. »Willkommen!« sagte sie und ging dann den beiden voran in ihr Privatkabinett, dessen Tür sie hinter ihnen sorgfältig schloß. Der Fremde beugte sich über ihre Hand, die er an seine Lippen zog. »Endlich!« sagte die Freifrau, »endlich darf ich Sie selbst begrüßen! Ich habe Ihnen lange voll Sehnsucht entgegengesehen – was bringen Sie für Kunde aus Preußen und Österreich? Ich bitte, nehmen Sie Platz und berichten Sie mir ausführlich, wie unsere gute Sache steht.«
»Gottlob, ich kann Ihnen Erfreuliches melden, gnädige Frau«, erwiderte der Angeredete. »Überall fängt es an sich zu regen, die schwarze Nacht weicht allmählich einer vielverheißenden Dämmerung; die schlafenden Seelen erwachen aus ihrer dumpfen Betäubung, sie besinnen sich wieder auf ihren Gott im Himmel und ihr Vaterland auf Erden, sie erkennen ihre Schmach und sehnen sich nach Freiheit. Das erhabene Beispiel Spaniens, das sich dem Tyrannen nicht fügen will, das seinen Armeen, seinen Marschällen den Ruhm der Unbesiegbarkeit entreißt, wirkt wie ein belebender Hauch auf alle Völker; warum sollen wir uns dem Spanier nicht gleich achten? fragen die besten Männer an allen Enden. In Österreich geht eine herrliche Begeisterung durch das ganze Land; Freiwillige aller Stände strömen zu den Fahnen, reichlich fließen die Gaben zur Ausrüstung der Kämpfer, zur Pflege der Verwundeten. Auch in Tirol gärt es mächtig; die biederen Bergbewohner wollen sich der Bestimmung des verhaßten Napoleon, der sie dem neuen bayrischen Königreiche zugeteilt hat, nicht unterwerfen, sondern bei Österreich bleiben. Sie haben zu ihren Stutzen gegriffen und richten das sicher treffende Rohr auf Bayern und Franzosen, um Gut und Blut für die alten Gewohnheiten der Väter und ihren lieben Kaiser Franzl zu wagen. Wie der Blitz ist der Aufstand durch das ganze Land gezuckt, und die ehrenfesten Männer, die an der Spitze stehen, ein Andreas Hofer und Speckbacher, sichern ihm den Erfolg.«
»Und wie verhält sich Preußen zu dieser Bewegung?« fragte die Freifrau, die den Worten des Redners mit tiefer Aufmerksamkeit gefolgt war.
»Es ist kein Zweifel, daß der König mit seinem Herzen ganz auf seiten Österreichs steht, daß er, und noch mehr die hochherzige Königin, dringend wünscht, sich dem Kampfe gegen den Bedrücker anzuschließen. Aber die Vorsicht, die ängstliche Gewissenhaftigkeit, welche dem König eigen sind, lassen ihn noch zu keiner offenen Erklärung kommen, um so weniger, als ihm der Einfluß des mächtigen, kraftvollen Ministers v. Stein leider wieder entzogen ist, und dessen Nachfolger Altenstein ganz zu den Zaghaften gehört, die sich vor Napoleons Geist beugen und vor seiner Ungnade zittern. Aber auch hier ist die Sehnsucht nach Erlösung in tausend Herzen übermächtig geworden; zu sehr lastet der Druck der Fremdherrschaft auf dem mißhandelten Lande. Der Tugendbund hat überall Freunde und Anhänger, er vereint die Besten des Volkes in glühender Vaterlandsliebe und heiliger Entrüstung wider den Tyrannen. Laut ertönt von Berlin aus die Stimme des unerschrockenen Professors Fichte, welcher die Deutschen an ihren hohen Beruf mahnt, auf der Grundlage echter Sittlichkeit und Religiosität die wahre Unabhängigkeit und Freiheit zu erstreben. Unser lieber Ebner hier kann es Ihnen sagen, wie durch ganz Preußen, bis weit über die Elbe hin zu den Landstrichen, die in westfälischer und französischer Gefangenschaft schmachten, das Wehen des Geistes zu spüren ist, der die Sklavenketten des verhaßten Korsen zerbrechen soll.«
»Ebner hat mir manches von seinen Wanderungen berichtet,« versetzte Frau v. Fiedler; »es freut mich in tiefster Seele, zu hören, daß überall das heilige Feuer aufglimmt und viele treue Hände geschäftig sind, es zu schüren. Aber es tut mir weh, daß mein Preußen an dem Freiheitskampf Österreichs keinen Teil haben soll!«
Der verkleidete Agent rückte noch etwas näher an die Dame heran. »Es sind auch in Preußen große Dinge im Werk,« flüsterte er ihr so leise zu, als könnten selbst die Wände ihn belauschen; »durch die abgerissenen Provinzen, die jetzt zum Königreich Westfalen gehören, geht eine Verschwörung, die bis nach Berlin reicht und Beamte, Offiziere und Bauern umfaßt. Zu gleicher Zeit wollen Major v. Schill, der das Berliner Husarenregiment befehligt, Oberst v. Dörnberg, der Kommandierende der westfälischen Jägergarde, und der preußische Hauptmann v. Katt losbrechen, Magdeburg überrumpeln, König Jérôme gefangennehmen und die fremden Truppen aus dem Lande treiben. Gelingen diese Hauptstreiche, so können wir sicher auf eine Erhebung, besonders in hessischen und sächsischen Landstrichen rechnen, und dann wird dem übermütigen Kaiser Napoleon ein Pfahl ins Fleisch getrieben, mit dem er, neben dem Kriege gegen Österreich, doch schwer fertig werden dürfte.«
»Das ist sehr kühn geplant«, sagte Frau v. Fiedler nachdenklich. »Was wird aus den Verschwörern, wenn der Streich mißlingt?«
»Er kann nicht mißlingen, der Boden ist zu vortrefflich vorbereitet für die blutige Saat!« rief der Fremde, und mit gleich wieder gedämpfter Stimme fuhr er fort: »Für den schlimmsten Fall zählen wir auf unsere guten Freunde, zu denen in erster Linie Sie, gnädige Frau, gehören; Ihr alter Turm hat schon manchem von uns in diesen Schmerzensjahren eine sichere Zuflucht geboten; dürfen wir auch jetzt wieder darauf rechnen?«
»Gewiß!« versetzte die Freifrau, indem sie dem Patrioten warm die Hand drückte; »Scharfeneck steht mit ganzer Kraft zu den Männern der Freiheit! O, daß meine alten Augen es noch sehen dürften, wie die fremden Eroberer vertrieben, wie mein deutsches Vaterland von der Zwingherrschaft befreit würde! Ich habe wenig Freude mehr empfunden, seit ich meinen Sohn hingeben mußte, aber wenn ich meinem Gerhard die Kunde bringen könnte, daß Deutschland frei ist, dann hätte ich diese Trauerjahre nicht umsonst durchlebt! – Doch Sie werden müde und hungrig sein,« brach sie schnell ab, »gedulden Sie sich hier ein paar Minuten, mein lieber Hauptmann; meine Lotte soll Ihnen eine Erfrischung hierher bringen, so werden wir Ihr Geheimnis besser wahren, als wenn ich Sie zum Essen unter die Dienerschaft schickte.«
Sie ging hinaus und kam bald, von Lotte gefolgt, zurück, welche auf einem Teebrett einen Imbiß nebst einer Flasche Wein und Gläsern trug, die sie auf einen Tisch des Arbeitszimmers ordnete. Die Herren traten ein; Onkel Max Ebner wurde herzlich von ihr begrüßt, aber voll Erstaunen sah sie hinter ihm den Jäger erscheinen, der zuerst ganz fremd tun wollte, nach einem fragenden Blick auf die Freifrau aber auf das junge Mädchen zutrat und ihr die Hand bot. »Sie kennen mich natürlich nicht, Fräulein Lotte,« sagte er lächelnd, »aber dennoch muß ich eine alte Bekanntschaft in Anspruch nehmen.«
In Lottens Wangen stieg eine lebhafte Röte auf. »Sind Sie es wirklich, Herr von ...« »Hartenstein«, wollte sie in höchster Überraschung sagen, schluckte aber den Namen herunter, als er schnell den Finger auf die Lippen legte. »Ich bin der Jäger Hubert, der hier eine Stelle sucht,« sagte er bedeutsam, »lassen Sie niemand etwas anderes hören. Ich dachte übrigens, ich hätte mich gut verstellt.
»Ihr Gesicht hätte ich auch kaum wiedererkannt, aber die Stimme läßt sich nicht verändern. Wie ist es Ihnen ergangen, seit Sie unseren alten Turm verließen, Herr – Hubert?«
»Wie kann es einem deutschen Manne in dieser Zeit ergehen? Ich schlug mich damals glücklich bis nach Ostpreußen durch, aber die Wunden von Saalfeld machten es mir unmöglich, an den letzten Kämpfen meines unglücklichen Vaterlandes gegen Napoleon teilzunehmen. Nur mit dem Worte konnte ich meinem Könige dienen; unter allerlei Verkleidungen habe ich die verschiedenen Provinzen durchstreift, um die Ängstlichen und Schwachen zu stärken, die Schläfer zu wecken, den Verzweifelnden einen Hoffnungsstrahl anzuzünden.«
»Sie haben Ihrem Lande dadurch vielleicht mehr genützt, als wenn Sie mit dem Schwerte dreingeschlagen hätten«, meinte Lotte. »Was ist aus dem Leutnant v. Senden geworden?«
»Er steht unter dem Major v. Schill in Berlin; ich habe ihn kürzlich gesprochen und ihn wieder voll hoffnungsvoller Begeisterung gefunden. Er würde mich beneiden, wenn er wüßte, daß ich in Scharfeneck sein und mit Ihnen sprechen darf,« fügte Hartenstein leiser hinzu, »denn er bewahrt diesem Hause und seinen Bewohnerinnen eine sehr warme Erinnerung.«
»Sie kommen jetzt aus Kassel, lieber Ebner,« wendete sich die Freifrau an den Oberförster, »wie haben Sie dort die Zustände gefunden?«
Er zuckte die Achseln. »Trostlos, wie es unter einem so leichtsinnigen und charakterlosen Fürsten wie Jérôme nicht anders sein kann. Die neue Gesetzgebung mag manches Gute enthalten, aber sie hat noch gar keine Wurzeln im Lande geschlagen, und die üppige Schwelgerei des Hofes mit den unablässigen Festen, mit dem bunten Schwarm von Abenteurern, den sie herbeizieht, vergiftet die alte Zucht und Ehrbarkeit des braven Hessenvolkes. Es war mir merkwürdig, immer wieder einen Ihnen wohlbekannten Namen zu hören: eine Hauptrolle am Hofe spielte die Gräfin v. Malthême.«
»Ich hörte auch schon davon«, erwiderte die Freifrau, »und war sehr erstaunt, zu vernehmen, daß unser ehemaliger Hausgenosse verheiratet sei. Welcher Art mag die Gattin sein, die er sich erwählt hat?«
»Gesehen habe ich sie nicht,« gab Ebner zur Antwort, »doch spricht die ganze Stadt von ihr, von ihrer Verschwendung, ihren ausschweifenden Launen, von den feenhaften Festen, womit sie den lebenslustigen König immer aufs neue zu überraschen und zu fesseln weiß. Das Volk nennt sie das welsche Hexchen, denn es liegt in ihrer Macht etwas Unheimliches, Dämonisches. Ihr Gatte kämpft in Spanien, kann also ihren Liebhabereien keinen Zügel anlegen, doch soll sie eine ältere dame d'honneur im Hause haben. Gewiß ist es nur ein wunderlicher Zufall, gnädige Frau, daß diese Ihren Namen führt.«
»Eine Fiedler?« sagte die Freifrau erschrocken, »sollte Arabella – – aber nein, nein, das wäre ja unmöglich!« –
Unterdessen hatte Maltus, der in den letzten drei Jahren dem Knabenalter fast ganz entwachsen war, nach Beendigung seiner Lehrstunden still das Haus verlassen und mit schnellem Schritt den Weg nach Tannenrode eingeschlagen. Man sah ihn sonst fast nur in Gesellschaft seines Hofmeisters, mit dem er in inniger Freundschaft verbunden war, – nicht des alten Magisters, der fast ganz in den wohlverdienten Ruhestand getreten war, sondern eines jüngeren, frischeren Mannes, des Dr. Hans Ebner, der seit einem Jahr den Unterricht der beiden Geschwister übernommen hatte. Aber heute ging Maltus ohne ihn aus, denn der Gang, den er vorhatte, duldete keinen Zeugen; auch seiner Großmutter, der er sonst ein unbegrenztes Vertrauen schenkte, hatte er nichts davon gesagt. Gestern in später Abendstunde hatte ihm ein barfüßiger Junge geheimnisvoll ein Briefchen zugesteckt, mit der Weisung, es ganz allein zu lesen; es hatte nur wenige Zeilen enthalten, aber es hatte einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht. »Wenn Sie noch eine Erinnerung an Ihre Mutter bewahren, die nie aufgehört hat, in zärtlicher Liebe ihres Erstgebornen zu gedenken,« stand darin in französischer Sprache geschrieben, »so kommen Sie morgen Mittag in das Wirtshaus zu Tannenrode, aber allein, und ohne mit irgend jemand davon zu sprechen. Jeder Versuch, einen Dritten in die Zusammenkunft hineinzuziehen, würde diese scheitern lassen und eine Annäherung für immer unmöglich machen.«
Die halbe Nacht hindurch hatte der Jüngling über diese Botschaft gegrübelt; ein heimliches Tun hinter dem Rücken der Seinen war seiner offenen, lebhaften Natur sonst ganz fremd; aber er wußte auch, daß seiner Großmutter, so mild und gütig sie sonst war, jede Erwähnung seiner Mutter eine Pein war. Er selbst mußte ja deren Handlungsweise verurteilen, er hatte keine Entschuldigung dafür, und doch hatte er nie aufgehört, seine kleine Maman zu lieben und sich nach einer Kunde von ihr zu sehnen. Sollte er eine Gelegenheit, von ihr zu hören, vielleicht gar sie selbst zu sprechen, vorübergehen lassen? Nein, er wollte sehen und prüfen und danach der teueren Frau, die Vater- und Mutterstelle bei ihm vertrat, treulich Bericht erstatten.
Gespannt und etwas befangen betrat er das kleine Wirtshaus, das er nie zuvor aufgesucht hatte; er wußte nicht recht, nach wem er fragen sollte, aber die Wirtin, die ihn kannte, kam ihm zuvor. Sie sagte ihm, daß er schon ungeduldig erwartet würde, und führte ihn in ein Zimmer, in dem Maltus sich zuerst ratlos umsah, denn nach dem hellen Märzsonnenschein draußen erschien es fast dunkel. Da öffnete sich eine Tür, eine kleine, zierliche Gestalt erschien auf der Schwelle, sie streckte die Arme nach ihm aus und rief in sanftem Ton: »René!«
Wie ihm der Klang ins Herz drang! Seit länger als zwei Jahren hatte ihn niemand so genannt, es war der Name, mit dem ihn nur seine Mutter gerufen hatte. Er stürzte vor ihr auf die Knie, und indem er sie mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit umschlang, rief er unter ausbrechenden Tränen: » Maman, liebe, süße Maman! Habe ich dich endlich wieder? O, warum hast du uns jemals verlassen?«
Sie strich über seine dunkeln Locken und küßte ihn auf die Stirn. »Laß das, René,« sagte sie ruhig, »vielleicht kannst du es jetzt noch nicht begreifen, daß es Empfindungen in unserer Seele gibt, die stärker sind als das Gefühl der alltäglichen Pflicht. Aber steh auf und setze dich zu mir, wir wollen wie verständige Menschen über alle diese Dinge sprechen. Trockne deine Tränen; nur die Deutschen müssen alles beweinen, aber ich hoffe, in deinen Adern fließt das Blut deiner französischen Mutter.«
Maltus erhob sich, die Rede klang kühl genug, um die stürmischen Wogen in seiner Brust zu dämpfen. »Laß mich nur die Laden öffnen,« sagte er, »es ist so dunkel hier, daß ich dich kaum erkennen kann, und ich will meine schöne Maman doch recht deutlich sehen und jeden Zug ihres lieben Gesichtes studieren.«
»Nein, René, ich liebe die grelle Beleuchtung nicht; mir ist dieses Dämmerlicht gerade angenehm. Ich kann ganz gut sehen, wie sehr du gewachsen bist, und daß du, gottlob! wie ein Franzose aussiehst.«
»Meinst du?« fragte er ein wenig empfindlich, »ich bin immer stolz darauf, wenn man mir sagt, daß ich auch meinem Vater ähnlich sehe; die Gestalt z. B. habe ich doch von ihm.«
»Mag sein, mein Sohn; mir ist die äußere Länge gleichgültig, wenn du nur ein Herz für Ruhm und wahre Größe hast! Du bist nun alt genug, um einzusehen, wie hoch der französische Genius den schwerfälligen deutschen Michel überragt, wie unfähig dieser ist, sich gegen das erdrückende Übergewicht unserer körperlichen und geistigen Kraft zu wehren. Halb Europa liegt unserem großen Kaiser zu Füßen, fast alle Fürsten, vor allem die deutschen, müssen ihm wie treue Vasallen gehorchen; wenn er die Stirn runzelt, so zittern sie; wenn er gütig zu ihnen spricht, so küssen sie dankbar seine Hand. Du hättest sie sehen sollen, wie ich sie voriges Jahr auf dem Fürstenkongreß in Erfurt sah! Selbst Herr v. Goethe, der große Dichter, auf den diese kleinen Deutschen so stolz sind, fühlte sich durch die Herablassung unseres kaiserlichen Herrn, durch ein Wort des Lobes aus seinem Munde unermeßlich geehrt und erhoben! Ist es dir wirklich gut genug, René, diesem Volke von geschlagenen Sklaven und demütigen Knechten anzugehören? Muß es nicht jeden jungen Mann, dem Ehrgeiz und Ruhmbegier die Brust schwellen, unwiderstehlich locken, zu den Siegern statt zu den Besiegten zu gehören? Wenn du mein echter Sohn bist, wenn die dumpfe Enge eurer kleinen deutschen Welt noch nicht jeden Funken eines größeren Sinnes, eines höheren Strebens in dir ertötet hat – dann kannst du nicht zaudern, für welche Seite du dich zu entscheiden hast.«
Maltus hatte sie ungestört ausreden lassen; sein Inneres war von zwiespältiger Empfindung bedrängt: Scham über die Knechtung des Landes seiner Väter, Bitterkeit gegen die übermütigen Unterdrücker, eine heiße Sehnsucht nach Sieg und Freiheit und zu dem allem eine unwiderstehliche Bewunderung für den Mann, der die Welt mit dem Ruhme seiner unvergleichlichen Taten erfüllte, stritten in seiner Seele um die Oberhand. »Ich habe noch kein Recht, mich zu entscheiden,« sagte er endlich, wie aus einem Traum erwachend; »der letzte Wille meines Vaters unterwirft mich noch für drei Jahre der Vormundschaft meiner Großmutter; dann erst kann ich selbständig eine Partei ergreifen.«
»Noch drei Jahre engherziger Knechtschaft! Armer Junge, du dauerst mich! Aber versprich mir wenigstens, in diesen Jahren keinen Tag vergehen zu lassen, ohne dich ernstlich zu fragen, was besser sei, Herr oder Knecht, Hammer oder Amboß zu sein? Sobald du deinen Entschluß gefaßt hast, René, so zeige ihn mir an; ich habe einflußreiche Freunde, durch die ich dir den Eintritt in unsere Armee und ein schnelles Vorschreiten verschaffen kann. Willst du mir schreiben, so richte deinen Brief an die Gräfin v. Malthême in Kassel ...«
»Ich hoffe, Maman, du stehst jener Frau nicht besonders nahe,« unterbrach sie Maltus mit gefalteter Stirn.
»Warum nicht? Was weißt du von ihr?«
»Ich hörte von ihr sprechen, und es geschah nicht in dem Tone der Achtung und Ehrerbietung, wie ich es von einer Freundin meiner Mutter wünschte.«
»Torheit! Das ist wieder die deutsche Erbärmlichkeit, die alles mit dem kleinsten Maßstabe mißt! Wir Franzosen haben einen weiteren Gesichtskreis. Aber es ist Zeit, daß wir scheiden, René, sonst würde man dich zu Hause vermissen, und ich verlange das feste Versprechen von dir, daß du keine Silbe über diese Zusammenkunft sagst. Gib mir die Hand darauf.«
»Ich tue es ungern, Maman, denn ich habe nie ein Geheimnis vor meiner Großmutter.«
»Ich sollte meinen, ich stünde dir noch näher als jene, und seiner Mutter zu gehorchen, dürfte selbst einem deutschen Pedanten keine Gewissensbisse machen. Ich verlasse mich auf deine Ehrenhaftigkeit, René – nun geh!«
»Und dies soll alles sein, was ich von dir sehe und höre?« rief er mit einem tiefen Seufzer. »Du hast mir nichts von deinem jetzigen Leben erzählt, du hast nicht nach dem meinigen, nicht einmal nach Thea gefragt!«
»Freilich – Thea – was macht das Kind?«
»Sie ist ein liebes, kleines Wesen, das mit einem Herzen voll warmer Zärtlichkeit noch immer an dir hängt; sie ist wie eine liebliche Blume, zart und farblos, aber voll süßen Duftes!«
»Deutscher Schwärmer!« sagte Marion, mitleidig lächelnd. »Ich kann die Kleine nicht einmal grüßen lassen, denn auch sie darf nichts von meinem Hiersein erfahren. Adieu, mein Sohn, bewahre meine Worte in deinem Herzen! Auf Wiedersehn im Lager der französischen Sieger!«
Sie reichte ihm ihre Hand zum Kusse; still, mit gesenktem Haupt ging Maltus der Tür zu, an der er traurig zurücksah; dann stürzte er noch einmal auf sie zu, umschlang und küßte sie mit stürmischem Ungestüm und verließ Zimmer und Haus, ohne sich umzusehen, wie von einer unsichtbaren Macht getrieben – er fühlte, daß er für immer von seiner Mutter geschieden sei, und gedachte ihrer fortan wie einer Toten. Marion betrachtete vor dem Spiegel ihre verschobene Frisur und rief ihre Kammerzofe herein. »Ich fürchte, er hat zu viel deutsches Blut in sich,« sagte sie seufzend; »auch sieht er zum Erschrecken groß und kräftig aus. Nein, nein, es wäre nicht gut, einen so erwachsenen Sohn neben sich zu haben; es ließe mich viel zu alt erscheinen! Und ich will noch jung und reizend sein und mein Leben genießen, von dem ich schon zu viele Jahre in diesem trübseligen Deutschland vertrauert habe! Bestelle den Wagen, Nanon, und laß uns diese freudlose Stätte fliehen – Kassel ist Frankreich, und Frankreich ist das einzige Paradies, das ich kenne!«