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Dreizehntes Kapitel.
Dunkle Wolken

Aus dunkler Wolke zuckt der Blitz:
Es treffen sich die Heere.
Nun, stolzes Heer des Alten Fritz,
Nun wahre deine Ehre!

In später Abendstunde des zehnten Oktober kehrte Frau v. Fiedler aus Erfurt zurück, wo sie schöne Stunden mit ihrer Tochter verlebt hatte, wenn auch der Ernst der Zeit wie ein Dämpfer auf jeder freudigen Empfindung lag. Sie hatte auch ihre alte Freundin, die Oberhofmeisterin, jetzige Gräfin v. Voß, wiedergesehen und eine lange, eingehende Unterredung mit der Königin gehabt, durch welche ihre tiefe Teilnahme und Verehrung für diese seltene Frau noch erhöht worden war. Auf ihrem Rückwege hatte ferner, rollender Donner sie begleitet, und sie mußte sich mit banger Sorge sagen, daß dort im Osten der erste Zusammenstoß der feindlichen Heere stattfinde, daß ihr einziger Sohn vielleicht im Feuer stehe. Heiße Gebete um Behütung des Teueren stiegen unablässig aus ihrer Seele auf; sollte es ihr, der alternden Frau, beschieden sein, den Sohn in der Blüte seiner Jahre zum zweitenmal zu verlieren? Sie bebte vor dem Gedanken zurück – und hatte doch nicht das verzweifelnde Gefühl innerer Auflehnung gegen etwas Unerträgliches, das sie damals so unaussprechlich gemartert hatte. In den Strudel der Revolution hatte Gerhard sich leichtsinnig, ohne Notwendigkeit gestürzt; jetzt ging er auf den Wegen seiner Mannespflicht, und wenn Gott das Schwerste über ihn verhängte, so fiel er im ehrenvollen Kampfe für das Vaterland.

Als sie vor dem Schlosse hielt, kam ihr Lotte zuerst entgegen: »Willkommen, mein teures Mütterchen!« rief sie ihr zu, »wie froh bin ich, Sie wiederzusehen, es war so einsam hier!«

»Wie geht es den Kindern?« war Frau v. Fiedlers erste Frage.

»Thea ist längst zu Bett gegangen, und Maltus ist mit seiner Mutter fortgefahren«, war die Antwort.

»Fortgefahren? wohin?«

»Zu Onkel Gerhard; es kam ein Brief von ihm, der Marion und Maltus schleunigst zu sich beschied; sie gönnte sich wenig Zeit zur Vorbereitung und fuhr bald nach Ihnen fort.«

»Zu Gerhard? unmöglich! Er steht bei der Vorhut, dem Feinde zunächst – was sollten dort Frauen und Kinder? Es muß ein Irrtum sein! Ruft mir den Amtmann.« Sie sank in einen Sessel, ihre Gedanken wirbelten wild durcheinander.

»Marion hat einen Brief an Sie zurückgelassen, der wird sicher alles erklären,« sagte Lotte erschreckt, »ich hole ihn schnell.«

Regungslos erwartete die Freifrau ihre Rückkehr, nie in ihrem Leben hatte sie ein so lähmendes Gefühl gehabt; sie konnte nur das eine denken: »Maltus ist fort!« Lotte brachte den Brief, den ihre Pflegemutter hastig erbrach, er knisterte in ihren zitternden Händen, und die Schriftzüge flogen vor ihren Augen hin und her; erst nach einer Weile konnte sie seinen Inhalt lesen und begreifen. Er lautete also:

 

Madame! Ich verlasse Ihr Haus, weil ich es nicht ertragen kann, einem Manne anzugehören, welcher die Waffen gegen meine Nation und meinen großen Kaiser trägt. Ich habe ihm offen und ehrlich die Wahl gestellt, entweder auf seine Stelle in der feindlichen Armee oder auf mich zu verzichten – er hat das letztere erwählt. Ich bin also in meinem Recht, wenn ich mein Wort wahr mache und fortgehe, ebenso, wenn ich meinen Sohn mit mir nehme, denn er soll nicht zu einem Feinde meines Vaterlandes erzogen werden. Dagegen lasse ich Ihnen meine Tochter; sie hat immer mehr zu Ihnen als zu mir gehört, und ich fürchte, es fließt in ihren Adern mehr deutsches als französisches Blut. Machen Sie keinen Versuch, meine Flucht zu hindern, ich werde mich so schnell als möglich unter den Schutz meiner siegreichen Landsleute stellen, unter dem ich sicher geborgen bin. Der deutsche Himmel hat immer wie ein Alp auf meiner Seele gelegen, ich werde erst wieder frei aufatmen, wenn ich in meinem Frankreich bin. Adieu für immer!

Marion.

 

»Herzlos und kindisch in jedem Atemzuge!« sagte Frau v. Fiedler in tiefer Bitterkeit zu sich selbst. Aber Maltus – was wurde aus ihm? O, warum war sie fortgefahren, statt diese Kinder zu behüten, die ihr Sohn ihr so warm ans Herz gelegt hatte, die an ihrer Mutter keinen Schutz besaßen? Als der Amtmann kam, schloß sie sich mit ihm ein; ihm mußte sie die ganze Lage der Dinge klarlegen, vor allen anderen Ohren sollte die Schmach, welche dem Hause Fiedler durch eins seiner Glieder angetan worden war, so lange als möglich verborgen bleiben. Ebner war lief erschrocken, seine bange Ahnung so schnell erfüllt zu sehen; er entschuldigte seine Nachgiebigkeit gegen die Wünsche der jungen Frau, – aber wie hätte er es sich erlauben dürfen, die Wahrheit ihrer Worte in Zweifel zu ziehen? Um alles Aufsehen zu vermeiden, wollte er in der Frühe des nächsten Morgens selbst ausreiten, um der Spur der Entflohenen zu folgen; vielleicht hatte sie ein unvermutetes Hindernis gefunden und ließ sich zur Umkehr bewegen, obgleich ein Vorsprung von drei Tagen dies sehr zweifelhaft machte.

Schlaflos lag Frau v. Fiedler auf ihrem Lager, von bitteren Vorwürfen und tödlicher Angst gefoltert; erst gegen Morgen nahm ein unruhiger Schlummer ihre Sinne gefangen. Aber auch er brachte ihr keine Ruhe, wirre Träume spannen den Faden ihrer Gedanken weiter fort. Ihr träumte, sie irre in einem dunkeln Walde umher, der voll Dornen und gähnender Abgründe war, immer nach Maltus rufend, immer nach seiner Spur suchend, die in der tiefen Finsternis doch nicht zu erkennen war. Da hörte sie plötzlich aus weiter Ferne einen Ruf: »Großmutter, Großmutter, rette mich!« Mit einem Ruck fuhr sie empor, sie war ganz wach und lauschte in die Nacht hinaus. War es ein Traum, war es Wirklichkeit gewesen? Die Worte hatten so vertraut und deutlich geklungen, wenn auch so schwach und leise, als hätte sie einer mit seiner letzten Kraft hingehaucht. Sie vernahm nichts weiter, und doch war es ihr, als ob ein leises Ächzen und Stöhnen von unten heraufklänge. Es mochte ein Hund oder der Wind sein, aber es ließ der erregten Frau keine Ruhe; schnell stand sie auf, warf ein warmes Morgengewand über, ergriff die kleine Lampe, die in ihrem Zimmer brannte, und eilte mit lautlosen Schritten durch das schlafende Haus. Sie öffnete die Haustür und sah hinaus; es war noch finster, ein feiner Regen fiel wie ein feuchter Schleier herab. Die Luft war still und unbewegt. Schon wollte sie mit einem Seufzer der Enttäuschung die Tür schließen, da war es ihr, als sähe sie auf der letzten der steinernen Stufen einen dunkeln Gegenstand liegen; sie leuchtete hinaus – es schien ein menschlicher Körper zu sein; sie beugte sich zu ihm herab – großer Gott, konnte es wirklich ihr Maltus sein? Schlief er – war er tot? Er regte sich nicht, er hörte nicht auf ihre Stimme, er gab kein Lebenszeichen von sich, als sie ihn mit Aufbietung all ihrer Kräfte in ihre Arme nahm und mühsam ins Haus trug. Ihr rann der Schweiß von der Stirn, und ihre Knie zitterten von der übermäßigen Anstrengung, aber sie mochte nicht um Hilfe rufen; sie legte den leblosen Körper sanft auf den Steinboden der Halle nieder und eilte hinauf, um Lotte zu wecken. Die war jung und stark, umsichtig und verständig; sie würde ihr helfen, Maltus ohne Aufsehen nach oben zu schaffen.

Eine halbe Stunde später lag der Knabe sicher gebettet im Zimmer der Großmutter; man hatte ihm die nassen Kleider ausgezogen und den Schmutz der Straße von Gesicht und Händen gewaschen. Zwar war er dabei nicht zu vollem Bewußtsein erwacht, aber er hatte einzelne verständliche Worte gemurmelt: »Maman, Maman, laß mich, ich kann nicht – Großmutter, hilf mir!« – das war fürs erste Trost und Beruhigung genug. Nun lag er in tiefem, sanftem Schlafe, neben seinem Lager aber kniete Frau v. Fiedler, und Dank und Bitte flossen wie Ströme aus ihrem Herzen. Ach, es gab so vieles zu erbitten und doch fast noch mehr zu danken; hatte doch Gott ihr eignes Versehen wieder gutgemacht und ihr das teuerste Kleinod ihres Hauses wiedergegeben!

Maltus schlief bis in den nächsten Tag hinein; als er endlich die Augen aufschlug und um sich blickte, war ein leidenschaftlicher Tränenstrom seine erste Lebensäußerung. Er schlang die Arme um den Hals der Großmutter und verbarg sein Antlitz an ihrer Brust. »Was habe ich getan?« schluchzte er, »ich habe meine liebe, kleine Maman verlassen, die ich beschützen und gegen alle Feinde verteidigen wollte! Aber konnte ich denn anders? Ich hatte es ja meinem Vater gelobt, ihr nur dann zu folgen, wenn es sich mit der Ehre unseres Hauses vertrüge, – aber heimliche Flucht, Lug und Trug – sind das nicht häßliche Flecken auf unserer Ehre? Durfte ich zum Feinde übergehen, gegen den mein Vater kämpft? Großmutter, es riß mir das Herz entzwei, Maman zu verlassen – habe ich recht daran getan?«

Das alles kam so abgebrochen, unter so viel Tränen und Schluchzen heraus, daß Frau v. Fiedler die Worte nur mit Mühe verstand, doch begriff sie sogleich den Widerstreit in der Seele des Knaben. »Ich danke Gott, mein Maltus,« sagte sie unendlich liebevoll, »daß Er dir Kraft gab, den rechten Weg einzuschlagen und den schweren Kampf zu bestehen. Du hast wie ein echter Fiedler gehandelt, und dein Vater wird mit dir zufrieden sein. Vielleicht kehrt auch deine Mutter wieder zu uns zurück.«

»Bist du ihr sehr böse, Großmutter?« fragte er leise und ängstlich.

»Böse nicht, mein Kind, nur sehr traurig, daß sie unsere traute Heimat nicht liebgewinnen konnte; aber vielleicht wird sie ihr in der Fremde schöner und freundlicher erscheinen, und die Liebe zu ihren Kindern läßt sie den Rückweg finden. Wir wollen Gott alle Tage darum bitten, daß Er sie zu uns führe.«

Erst nach und nach erfuhr Frau v. Fiedler alle Einzelheiten dieser zwiefachen Flucht. Auch ihrem Sohne hatte Marion anfangs vorgespiegelt, daß sie zu ihrem Gatten reisen wolle, und ihm erst am Schluß der ersten Tagereise ihre wirkliche Absicht eröffnet. Er hatte sich dieser heftig widersetzt und alles versucht, sie davon abzubringen; als aber seine Bitten und Tränen wirkungslos an ihrem Entschlusse abprallten, da hatte er sich in wildem Trotz gegen sie aufgebäumt und war in offener Empörung von ihr geschieden. Er war die Straße zurückgelaufen, die sie gekommen waren, so schnell ihn seine Füße tragen wollten; zuweilen hatte ihn ein mitleidiger Bauer eine Strecke Weges in seinem Wagen mitgenommen, da er aber keinen Pfennig Geld besaß und viel zu stolz war, um jemand anzusprechen, so hatte er nachts im Freien geschlafen und bei Tage gefastet. Mit Aufbietung seiner letzten Kraft hatte er die Heimat erreicht und war an ihrer Schwelle bewußtlos zusammengebrochen.

Gegen Abend ließ sich der Amtmann melden; erst jetzt dachte die Freifrau daran, daß er ausgeritten sei, um Marions Spuren zu folgen. Er sah sehr ernst und erregt aus. »Wir müssen jeden Versuch aufgeben, die Frau Baronin einzuholen,« sagte er hastig und ohne Einleitung; »die Neuigkeiten, die ich unterwegs erfuhr, lassen unsere Lage in einem sehr drohenden Lichte erscheinen. Das erste Zusammentreffen der vereinten preußischen und sächsischen Truppen mit der französischen Armee ist für uns sehr schlecht abgelaufen: unsere Vorhut ist bei Saalfeld total geschlagen und zersprengt worden. Prinz Louis Ferdinand ist gefallen, viele Offiziere sollen tot und verwundet sein.«

»Und mein Sohn?« fragte Frau v. Fiedler, während sie sich an die Lehne eines Stuhles klammerte, um sich aufrecht zu erhalten.

»Unser Herr Baron wurde mir nicht namentlich genannt, wir dürfen also hoffen, daß er verschont geblieben ist. Aber das französische Heer ergießt sich unaufhaltsam über unser Thüringer Land; es kann jeden Tag zur Entscheidungsschlacht kommen, und Gott weiß, ob sie nicht in unserer nächsten Nähe geschlagen wird.«

Die alte Dame bedeckte ihre Augen mit der Hand, ihr Herz schrie bei diesen Aussichten um Mut und Kraft gen Himmel, aber schnell gewann sie ihre Fassung wieder. »Was können wir tun, um den kommenden Gefahren zu begegnen?« fragte sie mit ruhiger Würde.

»Die Wertsachen in sicheren Gewahrsam bringen, gnädigste Frau, das Haus für ungebetene Gäste instandsetzen und Vorkehrungen treffen, um etwaige Flüchtlinge der Unsrigen vor Verfolgung zu schützen. Will's Gott, so bleiben wir Sieger im Kampf, aber wer kann es wissen? Es gilt für alle Fälle gefaßt zu sein.«

In rascher Wechselrede wurden die nötigen Schritte erwogen, und in kurzer Frist ging man mit Umsicht und Tatkraft ans Werk. Der Zugang zu dem uralten Turm, der hundert Schritt oberhalb des Schlosses den Berggipfel krönte und aus seinem grünen Dickicht von Efeu und verwildertem Buschwerk kaum noch herausragte, wurde hergestellt; seine gewaltigen Mauern und eisenbeschlagenen Türen boten einen sicheren Versteck dar, den so leicht kein Uneingeweihter finden konnte. Dorthin trug man die Kostbarkeiten des Hauses, dort stattete man ein Gemach mit allem Erforderlichen aus, damit es im Notfall als Versteck dienen könne. Ein förmlicher Wachdienst wurde eingerichtet; oben auf dem Türmchen des Schlosses und auf dem höchsten Punkt im Dorfe wurde fortwährend Ausschau gehalten, eine Anzahl schnellfüßiger Buben mußte stets bereit sein, um Botschaften zwischen dem Schulzenhof von Tannenrode und dem Herrenhause von Scharfeneck hin und her zu tragen.

Tag und Nacht vergingen in peinlicher Erwartung; da gab der Wächter vom Turm ein Zeichen; alsbald kam ein kleiner Bote herabgesprungen und meldete, es komme ein großer Leiterwagen mit militärischer Begleitung auf das Dorf zu; gleich darauf kam ein Junge aus Tannenrode angerannt, um zu sagen, daß verwundete Offiziere auf Scharfeneck Obdach suchten. Schleunigst wurden die letzten Vorkehrungen getroffen; als der Wagen ins Gittertor einbog und langsam die Allee herauffuhr, war alles zum Empfange der Ankömmlinge bereit. Frau v. Fiedler stand vor der Tür, ihre Augen umflorten sich, ein Zittern überfiel sie – war ihr Sohn dabei, oder schickte er ihr nur seine wunden Kameraden zu sorgsamer Pflege?

Die Diener halfen zuerst einem Offizier mit verbundenem Kopf heraus, der zweite trug den Arm in der Binde und hinkte stark, aber beide konnten noch ohne Hilfe gehen; ihre Gesichter waren bleich und niedergeschlagen, als sie sich vor der Hausfrau verbeugten. »Wir hoffen, Ihre Güte nicht allzulange in Anspruch zu nehmen, Frau Baronin,« sagte der ältere, »aber leider ist Ihr Herr Sohn schwerer getroffen ...«

»Wo ist er?« unterbrach sie den Sprechenden.

»Wir bringen ihn – wollen Sie die Güte haben, ins Haus zu treten? Sein Anblick könnte ...«

Sie war schon die Stufen hinabgeeilt, ehe jener noch ausgesprochen hatte, und blickte angstvoll in den Wagen hinein, – war das ihr Gerhard, der vor wenigen Wochen als Bild männlicher Kraft und Frische von ihr geschieden war? Es schien ein Toter zu sein, der dort auf Stroh und Kissen lag, nur das leise Stöhnen, das seine Überführung bis ins Zimmer begleitete, zeigte an, daß in der stillen Gestalt noch Leben sei. Der eiligst herbeigerufene Arzt sprach der trauernden Mutter Mut ein: noch sei die Möglichkeit einer Genesung nicht ausgeschlossen, nur gehöre vollkommene Ruhe für Leib und Seele dazu, denn jede unvorsichtige Bewegung, jede Erregung des Gemütes könnte verhängnisvoll werden und eine innerliche Verblutung herbeiführen. Zentnerschwer fiel dieser Ausspruch auf das Herz der Mutter, – wie sollte es möglich sein, dem Kranken in dieser Zeit Erregungen fernzuhalten? – Stunde auf Stunde saß sie am Lager des Sohnes und lauschte voll Furcht und Hoffnung auf seine unregelmäßigen Atemzüge. Unwillkürlich flogen ihre Gedanken zurück in eine längst vergangene Zeit; fast fünfzig Jahre waren verflossen, seit sie als ein junges Mädchen so am Bette ihres Vaters wachte, den man mit der Todeswunde im Herzen aus der Leuthener Schlacht zurückgebracht hatte. Damals hatte es ihren Kummer wenig gelindert, daß die Schlacht gewonnen war; heute verschärfte es ihren Schmerz noch, daß diese Opfer nicht einmal einen Sieg erkauft hatten.

Einmal, als sie den Umschlag auf seiner Stirn erneuerte, schlug er die Augen auf. »Wo bin ich?« flüsterte er. »Daheim, bei deiner Mutter!« »O, dann kann ich ruhig schlafen!« Die herbe Falte zwischen den Augen glättete sich, ein friedlicher Ausdruck breitete sich über die schmerzerfüllten Züge, und wie ein Kind in Mutterhut schlief er sanft wieder ein.

Am nächsten Morgen erwachte er etwas kräftiger und mit vollem Bewußtsein. »Wo ist Marion?« war sein erstes Wort.

»Sie ist augenblicklich nicht zu Hause, mein lieber Sohn,« erwiderte die Mutter mit freundlicher Ruhe, »aber mache dir keine Sorgen darum, sie kehrt wohl bald zurück.«

Diese Antwort schien ihm eine Erleichterung zu gewähren. »Wie sie triumphieren wird!« sagte er seufzend; »sie hat unsere Niederlage vorausgesagt – sie wird sich ihrer freuen, o, es ist zu bitter!«

»Ihr erlaget der Übermacht!« tröstete Frau v. Fiedler, »ein Vorpostengefecht ist noch keine Entscheidungsschlacht.«

»Sie werden immer die Übermacht haben!« versetzte er düster. »Marion hatte recht: Napoleon ist zum Herrscher der Welt bestimmt, er haucht jedem seiner Soldaten etwas von seinem unbesieglichen Geiste ein, und wenn sie sich auf uns stürzen, so zermalmen sie uns! – Was machen Hartenstein und Senden?« fragte er nach einer Pause.

»Der Arzt gibt die beste Hoffnung für beider baldige Genesung.«

»Gott sei Dank! Zwei wackere Offiziere sind gerettet – das Vaterland wird sie brauchen.«

Seine Mutter strich ihm sanft über Stirn und Wangen, und unter ihrer milden Berührung schlossen sich die müden Augen von neuem.

Nur ungern verließ die Freifrau Gerhards Krankenzimmer, doch hielt sie es für Pflicht der Gastlichkeit, sich persönlich von dem Ergehen der beiden Offiziere zu überzeugen, und nahm daher mittags an der Familientafel teil. Die Unterhaltung bewegte sich natürlich nur um Kriegsereignisse. »Wir haben Unglück gehabt,« sagte Leutnant v. Senden, »aber Gott verhüte, daß das Gefecht von Saalfeld zu einer bösen Vorbedeutung für diesen Feldzug werde. Wir haben die schönste Armee der Welt, und sie ist jedem Feinde gewachsen!«

»Aber sind nicht ihre Führer etwas zu betagt?« fragte der Magister bescheiden. »Der Herzog von Braunschweig mag einst ein trefflicher Kriegsheld gewesen sein, aber er ist ein Siebziger wie ich, und man meinte, es hätte ihm schon vor vierzehn Jahren in der Champagne an der nötigen Entschlossenheit gefehlt.«

»Was hat uns bei Saalfeld das jugendliche Feuer unseres heldenmütigen Prinzen Louis Ferdinand genützt?« fragte der Hauptmann v. Hartenstein trübe. »Es hat ihn in den Tod getrieben und uns doch nicht den Sieg errungen.«

»Standen Sie dem Prinzen persönlich nahe?« fragte Frau von Fiedler teilnehmend.

»Meine Stellung als Generalstabsoffizier hatte mich in letzter Zeit in seine unmittelbare Umgebung geführt,« erwiderte er, »und ich hatte reichlich Gelegenheit, sein geniales Wesen und seinen hochgebildeten Geist kennen zu lernen. Es fiel mir auf, daß er, der früher immer zum Kriege gedrängt hatte, der Napoleon so grimmig haßte und ihn zu bekämpfen brannte, daß er jetzt voll düsterer Ahnungen wahr. »Unsere Armee«, sagte er in seiner freimütigen Weise, »sieht von außen vortrefflich aus, sie hat einen Parademarsch, den keine andere ihr nachmacht, jeder Knopf sitzt auf der rechten Stelle, – aber ich fürchte, der Geist des großen Friedrich ist aus ihr entflohen, sie ist nur noch eine leblose Maschine. Ich sehe Schlimmes für uns voraus, aber ich weiß auch, daß ich unseren Sturz nicht überleben werde.««

»Wer spricht von Sturz!« warf Senden unmutig ein, »der Prinz litt wohl an galligen Launen!«

»Als Louis Ferdinand mit seinem Gefolge in Rudolstadt eintraf,« fuhr der Hauptmann fort, »gab der Fürst ihm zu Ehren ein glänzendes Ballfest; wer hätte es damals geahnt, daß dieser ritterliche Alcibiades, der so heiter und anmutig mit den Damen zu scherzen wußte, in wenig Tagen ein trauriges Ende finden würde! In der Stille der Nacht, nachdem die Gäste sich verzogen hatten, setzte er sich ans Klavier und strömte seine innersten Empfindungen in freien Phantasien aus. Ich bin kein Musiker, aber dieses Spiel ergriff mir die tiefste Seele; es lag alles darin, heldenhafte Begeisterung und banges Vorgefühl, übermütiger Siegesjubel und Verzweiflung der Besiegten; zum Schlusse aber klangen alle die wilden Harmonien in eine leise, wehmutsvolle Totenklage aus, als ob man einen Helden zu Grabe trüge. Das war sein Schwanengesang – seine Ahnung hat ihn nicht betrogen!«

Tiefbewegt hörten die Tischgenossen dieser Schilderung zu. »Es war ein trauriger Anfang,« sagte Frau v. Fiedler, »aber vielleicht sollte er nur eine Mahnung von oben sein, alle Kräfte zusammenzuraffen, und doch nicht der eigenen Kraft allein zu vertrauen. Die letzte Entscheidung hält doch Gott der Herr in seiner Hand! Wie denken die Herren über ihre eigene Zukunft?«

»Ich hoffe, in wenigen Tagen so weit zu sein, um einen Gaul zu besteigen und meinen Pallasch zu schwingen,« rief der Leutnant, »mir zittern alle Glieder vor Ungeduld, den Franzosen die Hiebe heimzuzahlen, die sie mir bei Saalfeld versetzt haben.«

»Ich werde leider Ihre Gastfreundschaft etwas länger in Anspruch nehmen müssen,« sagte der Hauptmann, »doch gibt mir der Arzt die Hoffnung, daß meine Kopfwunde in etwa vierzehn Tagen geheilt sein werde; auch dann werde ich hoffentlich noch Gelegenheit finden, den Feind zu bekämpfen.«

»Ich brauche Sie wohl nicht erst zu versichern, daß jeder deutsche Offizier uns ein hochwillkommener Gast ist«, sagte die Hausfrau mit warmer Herzlichkeit; dann erhob sie sich, um zu ihrem Sohn zurückzukehren, bat aber die Herren, sich nicht stören zu lassen, und trug Lotte auf, ihre Stelle zu vertreten. Das junge Mädchen hatte bisher nur bescheidenen Anteil an der Unterhaltung genommen, doch legte ihr Gesicht beredtes Zeugnis davon ab, wie anziehend die besprochenen Gegenstände für sie waren; jetzt verwickelte Herr v. Senden sie in ein lebhaftes Gespräch, während der Magister sich von Hartenstein über einige militärische Punkte belehren ließ. Maltus, der immer noch blaß und kummervoll aussah, hörte aufmerksam zu, der kleinen Thea aber wurde die Sache langweilig; sie schlüpfte unbemerkt aus dem Zimmer und stahl sich dahin, wohin ihr zärtliches, kleines Herz schon längst verlangte: an das Bett ihres Vaters.

Frau v. Fiedler war gerade im Nebenzimmer damit beschäftigt, alles Nötige für ihren Patienten vorzubereiten, und hörte daher die leichten Schritte nicht. Die Kleine stand eine Weile still und betrachtete die stumme Gestalt, die so ganz verändert aussah und ihr mit den geschlossenen Augen und der weißen Binde um die Stirn einen unbeschreiblich traurigen Eindruck machte. Ihr wurde sehr weh ums Herz, sie warf sich über den Kranken und streichelte ihm zärtlich Wangen und Hände. »Wach' auf, mein Väterchen, wach' auf!« rief sie in flehendem Ton, »sage mir, daß du deine Thea noch liebhast!«

Er schlug die Augen auf, und ein müdes Lächeln spielte um seine bleichen Lippen. »Mein kleiner Liebling!« flüsterte er.

»O Väterchen,« plauderte sie ganz beglückt, »ich bin froh, daß du wieder da bist! Nun wirst du auch schnell wieder gesund, nicht wahr? Warum hast du Mama nicht gleich mitgebracht?«

»Sie war nicht bei mir, wo ist sie?«

»Aber sie sagte doch, sie wollte zu dir reisen, und nahm Maltus mit; Lotte und ich blieben ganz allein hier. Maltus ist freilich zurückgekehrt, aber allein; er will mir nicht sagen, wo Mama geblieben ist, und hieß mich nur den lieben Gott alle Tage bitten, daß er sie uns zurückführen möchte. Hat sie sich auf dem Wege verirrt? Ich ängstige mich sehr um sie, denn niemand weiß, wo sie ist.«

In diesem Augenblick erschien die Großmutter auf der Schwelle und blieb starr vor Schrecken stehen, als sie das kindliche Geplauder hörte. Sie trat auf das Kind zu und zog es mit fester Hand vom Bett fort. »Geh hinaus und warte, bis du gerufen wirst«, sagte sie mit gedämpfter Stimme und doch so ungewöhnlicher Strenge, daß Theas Gesichtchen sich zum Weinen verzog. Sie blickte hilfesuchend auf ihren Vater, der ihr mit den Augen freundlich zuwinkte. »Komme bald wieder zu mir, mein Liebling«, sagte er, und sie nickte, unter Tränen lächelnd, und sprang getröstet von dannen. Schweigend besorgte Frau v. Fiedler ihre Geschäfte, sie fürchtete sich vor der unvermeidlichen Frage, der sie bisher vorsichtig aus dem Wege gegangen war.

»Verschweige mir nichts, Mutter,« sagte Gerhard plötzlich, »ich sehe, daß Marion ihre Drohung wahr gemacht hat.«

»Ich weiß von keiner Drohung, mein Sohn.«

»Aber ich – sie ist zu den Franzosen entflohen.«

»Ich fürchte es, – aber Maltus ist wieder hier, Gott hat ihn sichtbar behütet. Der liebe Junge hat sich sehr brav benommen, das ist ein großer Trost in dieser trüben Zeit.« Sie verweilte noch längere Zeit bei diesem Punkt, um seine Gedanken von diesem gefährlichen Gegenstande abzuziehen, aber er erwiderte nichts darauf; still und teilnahmlos lag er da und murmelte nur zuweilen halblaute Worte vor sich hin. »Arme kleine Marion!« hörte sie ihn mehrfach seufzen, und der Name erregte jedesmal eine Erbitterung in ihrer Seele, gegen die sie vergebens ankämpfte.


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