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Zweites Kapitel.
Neues aus Paris

Weh, wenn sich in dem Schoß der Städte
Der Flammenzunder still gehäuft,
Das Volk, zerreißend seine Kette,
Zur Eigenhilfe schrecklich greift!

( Schiller.)

Das Leben in Scharfeneck war schnell wieder in die gewohnte Ordnung zurückgekehrt, welche durch den fürstlichen Besuch für kurze Zeit unterbrochen worden war. Man lebte hier nach festen Regeln und hatte wenig Beziehungen zur Außenwelt, denn Frau v. Fiedler hatte nach dem Tode ihres Gatten den früheren Verkehr fast ganz fallen lassen, um sich mit ungeteilter Kraft den beiden großen Aufgaben zu widmen, welche fortan ihr Leben ausfüllen sollten: der Erziehung ihrer Kinder und der Oberaufsicht über die Verwaltung ihrer Güter. Auf beiden Gebieten hatte sie treue Helfer gefunden, welche ihr das schwere Werk erleichterten; den Unterricht ihrer Kinder leitete Magister Fiedler, der mit einem seltsamen Ungeschick im Äußeren eine gründliche Bildung und die selbstloseste Hingabe an seinen Beruf verband; neben ihm wachte die blinde Maria wie ein guter Engel, besonders über den Seelen der Kleinen, denen sie in ihrer lauteren Frömmigkeit die höchsten Wahrheiten des Christentums von der Wiege an lieb und vertraut machte. In der Verwaltung aber stand ihr der wackere Amtmann Ebner in rechtschaffener Pflichterfüllung zur Seite; er kannte kein anderes Interesse als das seiner Herrschaft und schaffte vom Morgen bis zum Abend nur für sie. Es war in der Tat, wie Prinzessin Luise sagte, ein patriarchalisches Verhältnis zwischen dem Herrenhause und dem kleinen, grünumrankten Häuschen des Amtmanns, welcher den Fiedlers seit dreißig Jahren treu gedient hatte; die beiderseitigen Familien hatten Freud' und Leid miteinander geteilt, in beiden waren Kinder geboren und wieder zu Grabe getragen worden, und ein Band enger Gemeinschaft in Spiel und Unterricht hatte die Überlebenden vereint. Seitdem Gerhard, der einzige Sohn und Erbe des Fiedlerschen Namens, aus die Universität gezogen war, hatte seine Mutter nur noch zwei Töchter um sich, die heranwachsende Gabriele und die sechsjährige Dora; doch konnte man die kleine Lotte fast dazu rechnen, das verwaiste Kind einer frühe verstorbenen Tochter des Amtmanns, welches bei den Großeltern freundliche Aufnahme gefunden hatte, als Doras Spielgefährtin aber den größten Teil des Tages im Herrenhause zubrachte.

Wieder war ein Gast auf Scharfeneck eingekehrt, diesmal ein wohlbekannter, oft gesehener, der aber, wenigstens von der Jugend, mit sehr geteilten Gefühlen begrüßt wurde. Fräulein Arabella v. Fiedler, die Schwester des verstorbenen Gutsherrn, lebte gewöhnlich in dem altberühmten Frauenstift zu Quedlinburg, dem bis vor kurzem Prinzessin Amalie, die Schwester des großen Königs, als Oberin mit fürstlichem Ansehn vorgestanden hatte. Wie das Stiftsfräulein ihrer Schwägerin gegenüber in der tiefen Fensternische saß, bildete ihre Erscheinung einen merkwürdigen Gegensatz zu der der Hausfrau; diese sorgte wenig um den Eindruck, den sie machte, ihre dunkle Kleidung war zwar von feinem Stoff, aber vom einfachsten Schnitt und floß in reichen Falten um die hohe Gestalt; ihr noch immer volles, von Silberfäden durchschossenes Haar war unter einer Haube fast verborgen, aber die einfache Würde ihres Auftretens trug immer noch einen Hauch von der Anmut und Schönheit früherer Jahre. Fräulein Arabella dagegen, obgleich sie einige Jahre älter war, wollte gern noch die Jugendliche spielen; ihr Antlitz mit den scharfen Zügen trug deutliche Spuren künstlicher Nachhilfe; Schminkdöschen und Puderbüchschen hatten an den Rosen und Lilien dieser Wangen sicher den größten Anteil. Sie war der stattlichen Tracht treu geblieben, welche seit den Tagen Ludwigs des Fünfzehnten die ganze gebildete Welt beherrscht hatte; ihr Oberkörper war fest eingeschnürt, das Kleid bauschte sich über einem Reifrock, der weit entblößte Hals war nur durch ein durchsichtiges Tüchlein verhüllt, auf dem das große, goldene Stiftskreuz prangte, ihre hochgetürmten Haare waren leicht gepudert. Das Ganze gab ein vortreffliches Bild einer Zeit, die im Absterben war und sich vergeblich gegen die anstürmenden Wogen einer neuen Epoche wehrte.

»Ich erwartete, Gerhard hier zu finden,« sagte Fräulein Arabella, »seine Vakanz kann doch noch nicht zu Ende sein.«

»Er hat mich um Erlaubnis gebeten, in diesen Ferien eine Reise nach England zu machen, und wird wohl vor Weihnachten nicht nach Hause kommen.«

»In der Tat, Frau Schwägerin, ich hätte Ihre Liebe für den einzigen Sohn höher estimiert! Fällt Ihnen eine so lange Trennung gar nicht schwer? Mein Bruder hätte hierzu sicher nie seinen Konsens gegeben!«

»Sie irren, liebe Bella; es war immer die Absicht meines seligen Gatten, Gerhard in die Welt zu schicken, ehe er sich auf der heimischen Scholle fest ansiedelte. Und vollends jetzt! Ein Sohn darf nicht an der Schürze der Mutter hängen, er muß es lernen, sich frei in der Welt zu bewegen und ein Mann zu werden, wenn er sein Eigentum vorsichtig verwalten, seine Untergebenen beherrschen will. Da muß die Sehnsucht des Mutterherzens schweigen vor dem Gebot des nüchternen Verstandes.«

Fräulein Arabella schwieg, aber ihr wiederholtes Kopfschütteln zeigte deutlich, daß sie keineswegs einverstanden sei. »Ist der junge Ebner immer noch sein Reisekompagnon?« fragte sie nach einer Weile.

»Ja, gottlob! Er erfüllt seine Aufgabe mit treuer Hingabe, und mir ist es eine Beruhigung, die überschäumende Jugend meines Gerhard in so guten Händen zu wissen. Walter Ebner ist ihm an Ernst und Erfahrung überlegen und kann ihn von mancher Unbesonnenheit zurückhalten.«

»Ich verstehe Sie nicht, Frau Schwägerin«, sagte Fräulein Bella in scharfem Ton. »Ich würde zu der Noblesse eines Fiedlers, des Erben verschiedener adliger Geschlechter, stets viel mehr Konfidenz haben als zu der philiströsen Solidität, eines jungen Menschen von niedrigem Herkommen. Aber es scheint wirklich, als ob die Bourgeoisie Ihrer Mutter stärker in Ihnen vertreten wäre als das edle Blut Ihres Vaters!«

Frau v. Fiedler antwortete nicht auf diesen Ausfall; scheinbar unbewegt nähte sie an ihrer Arbeit fort, ohne den Blick zu dem erzürnten Antlitz ihres Gegenüber zu erheben.

»Wie steht es um Gabrielens Edukation?« hob das Fräulein wieder an. »Endlich werden Sie doch einsehen müssen, daß die Gesellschaft hier im Hause – eine bäurische Heilige, ein pedantischer Schulmeister und ein paar wilde Amtmannsbuben – einer jungen Dame von Distinktion nicht mehr konvenieren kann! Geben Sie mir Gabriele nach Quedlinburg mit; dort, in einem auserwählten Cercle hochadliger Damen, wird sie leicht das feine savoir-vivre akquirieren, das sie hier unmöglich lernen kann.«

»Ich danke Ihnen, liebe Bella,« versetzte Frau v. Fiedler ruhig, »ich möchte Gabrielens Unterricht noch nicht unterbrechen und glaube außerdem, daß sie unter den Flügeln ihrer Mutter am besten aufgehoben ist.«

Ehe das Fräulein antworten konnte, meldete der eintretende Diener, daß die Botenfrau aus Eisenach heimgekehrt sei – ein willkommener Ruf, dem die Hausfrau ohne Zögern folgte. War doch die alte Frau ein Hauptglied in der Verbindung des abgelegenen Schlößchens mit der großen Welt, da sie jede Woche in Wind und Wetter, Kitze und Kälte nach der Stadt pilgerte, um Briefe und Zeitungen von der Post abzuholen und die kleinen Bedürfnisse des täglichen Lebens einzuhandeln. Auf dem großen Steintisch der Eingangshalle waren die Einkäufe ausgebreitet, und mit Staunen mußte man ihre Menge mit der dürftigen Gestalt des Weibleins vergleichen, welches sie auf seinem Rücken meilenweit herangeschleppt hatte. Nun gab Mutter Marthe, wie man sie weit und breit nannte, mit geläufiger Zunge ihre Erläuterungen dazu und berechnete alles genau auf Heller und Pfennig, ohne eine andere Hilfe als ihr Gedächtnis; denn lesen und schreiben hatte sie nie gelernt oder es längst vergessen. Inzwischen hatten sich die Bewohner des Hauses in der Halle versammelt; die Ankunft der Botenfrau war immer ein frohes Ereignis, welches das stille Gleichmaß der Tage angenehm unterbrach, denn sie brachte gewöhnlich für jeden etwas mit und dazu noch eine Menge von Neuigkeiten, die in der Stadt von Mund zu Munde gingen.

Die Freifrau hatte die Abrechnung beendet und hielt nun die verschlossene Ledertasche in der Hand, auf welche die Blicke erwartungsvoll gerichtet waren. Sie enthielt eine Menge von Papieren und Briefschaften, Zeitungen für den Herrn Magister, verschiedene Schriftstücke für den Amtmann, einen Brief an Gabriele und einen an sie selbst; »von Gerhard!« sagte sie mit einem beglückten Lächeln. Nachdem sie alles verteilt hatte, ging sie in ihr Privatkabinett, das von jedem im Hause als gleichsam geheiligter Boden betrachtet wurde, und wo niemand sie zu stören wagte. Dort, wo die Bilder derer, die ihr die teuersten waren, von den Wänden liebevoll auf sie herabschauten, hatte sie in der Einsamkeit der letzten Jahre manchen schweren Kampf durchgestritten und im Gebet in mancher Prüfungsstunde gerungen, bis sie wieder Mut und Kraft fühlte, ihr Kreuz auf sich zu nehmen und unverzagt weiter zu schreiten; dort öffnete sie den Brief ihres Sohnes, an dem ihr Herz mit namenloser Zärtlichkeit hing, und von dem sie Großes erwartete. Wie wenig ahnte Fräulein Bella, mit welchem geheimen Weh die Mutter den teuern Sohn in die Ferne hatte ziehen lassen, wie schmerzlich sie Tag für Tag die Trennung empfand!

Der Brief war sehr umfangreich und enthielt ein genaues Tagebuch, abwechselnd strahlten die Augen der Leserin vor Freude oder füllten sich mit Tränen der Rührung, wenn sie las, wie treu ihr Gerhard ihrer gedachte, wie bestrebt er war, sie an allem teilnehmen zu lassen, was ihm begegnete und ihn beschäftigte. Aber plötzlich fiel ein Schatten auf ihre Stirn, ein leiser Ausruf des Schreckens entfuhr ihr, und in offenbarer Unruhe las sie den Brief zu Ende. Dann durchmaß sie in tiefen Gedanken den kleinen Raum, bis sie endlich klingelte und dem Diener befahl, den Amtmann zu rufen.

»Ich habe soeben eine Nachricht erhalten,« begann sie, als jener eintrat, »die mich ebensosehr überrascht als beunruhigt; Gerhard schreibt mir, daß er die Absicht habe, von London nach Paris zu reisen, und da der Brief ungewöhnlich lange – fast fünf Wochen – unterwegs gewesen ist, so muß er längst dort angekommen sein. Hat Ihnen Walter etwas darüber geschrieben?«

»Die Post hat mir eben einen Brief von ihm gebracht,« erwiderte der Amtmann in bekümmertem Ton; »mein Sohn schreibt mir, daß er alles mögliche getan habe, um unsern jungen Herrn von der unbesonnenen Unternehmung zurückzuhalten, aber nicht durchgedrungen sei, und daß er nichts Besseres hätte tun können, als ihn zu begleiten.«

»Ich glaube es und bin Walter dankbar dafür«, sagte Frau v. Fiedler mit Nachdruck. »Ich sehe mit Bekümmernis, daß Gerhard von dem Taumel der neuen Ideen ergriffen ist und dem Wunsch nicht widerstehen konnte, sie an ihrer Quelle zu studieren. Vielleicht wird er dort am leichtesten davon geheilt werden; denn wie mir scheint, ist dieser Strom sehr unlauter und reißt, neben einigen alten Mißbräuchen, vieles fort, was die Grundlage des menschlichen Lebens und Gedeihens ausmacht. Mir bangt aber auch für die persönliche Sicherheit unserer Söhne in so wild bewegten Verhältnissen.«

»Ich bitte Euer Gnaden, sich nicht zu sehr zu beunruhigen,« meinte der Amtmann; »sicher werden selbst die französischen Revolutionsmänner es nicht wagen, sich an einem friedlichen Reisenden, einem deutschen Freiherrn, zu vergreifen, und ich vertraue darauf, daß Walter lieber sein Leben opfern als seinem jungen Gebieter ein Leid geschehen lassen würde.«

Die Dame reichte dem wackeren Manne die Hand. »Ich setze unbedingtes Vertrauen in Walters Liebe und Treue, und ich hoffe, Gott wird unsere Kinder in Seinen gnädigen Schutz nehmen und unbeschädigt aus diesem Höllenrachen hinausführen! Inzwischen lassen Sie uns von dieser Reise schweigen, bis wir nähere Nachrichten haben.«

Ebner verbeugte sich zustimmend; er war stets mit den Wünschen seiner Gebieterin einverstanden.

Sobald es dunkelte, pflegten die Hausgenossen in Scharfeneck sich um den großen Tisch des einfachen Wohnzimmers zu versammeln, die Frauen mit einer Arbeit, die Knaben mit einer leichten Schnitzerei oder dergleichen in den Händen, während der Magister etwas Passendes vorlas und allerlei Erläuterungen daran knüpfte. So wurde der Familienkreis mit dem Besten bekannt gemacht, was die ältere und neuere Literatur hervorgebracht hatte, Klopstock und Lessing, Voß und Gleim und manche andere fesselten in ihren auserwähltesten Werken die Zuhörer, den tiefsten Eindruck aber machten auf die empfänglichen Herzen die wunderbaren Dichtungen Goethes und die erhabenen Gesänge des jugendlichen Schiller. Alle liebten diese Stunden – nur Fräulein Bella nicht; für ihr aristokratisches Gefühl war es eine arge Anfechtung, daß neben dem Magister die »Amtmannsbuben« saßen, daß Mamsell Jettchen, die langjährige Haushälterin, und sogar Fanny, die treue Zofe, am unteren Ende des Tisches bescheiden ihre Plätze einnahmen und, etwas entfernt von den übrigen, die blinde Maria mit ihrem ewigen, groben Strickstrumpf an der Seite des Kamins saß. Das Stiftsfräulein hatte schon oft versucht, gegen die hergebrachte Sitte zu eifern, aber ihr Widerspruch fand taube Ohren; denn auf ihre häuslichen Einrichtungen gestattete ihr Frau v. Fiedler, so sehr sie den Frieden liebte, nicht den geringsten Einfluß. Sie stellte jener freundlich anheim, während der Vorlesung auf ihrem Zimmer zu bleiben, aber dazu konnte sich Fräulein Arabella nicht entschließen; sie mußte ihre eigne Gesellschaft wohl herzlich langweilig finden.

Heute erschien der Magister nicht wie sonst mit einem Buche, sondern mit mehreren Zeitungsblättern in der Hand.

»Ich möchte mir erlauben,« sagte er mit einer tiefen Verbeugung gegen die Hausfrau, »einige Schilderungen der letzten Vorgänge in Paris mitzuteilen, welche die Augsburger Allgemeine Zeitung in anschaulicher Darstellung bringt. Sie lassen einen tiefen Blick in das furchtbare Verderben der französischen Zustände tun und zeigen deutlich, wohin es führt, wenn ein Volk sich von dem Gehorsam gegen Gott und seine heiligsten Pflichten lossagt.«

Alle blickten gespannt auf den Sprecher, das Thema erregte bei jedem das lebhafteste Interesse; denn so selten man sich im allgemeinen mit Politik befaßte, und so wenig die spärlichen Zeitungen für Verbreitung solcher Kenntnisse taten, so waren doch die Ereignisse in Frankreich zu gewaltig, um sie unbeachtet zu lassen. Niemand merkte, daß Frau von Fiedler bei den Worten des Magisters erblaßt war und verstohlen die Hand auf das bang klopfende Herz drückte.

Der Zeitungsschreiber schilderte aus eigner Anschauung die wilde Aufregung, in der ganz Paris sich befand, die stets erneuten Aufstände, welche ihre Spitze immer deutlicher gegen den König und die Königin richteten, welche letztere sich sowohl durch ihre deutsche Abkunft wie durch manche Unvorsichtigkeit den Haß der unteren Klassen zugezogen hatte. Rasende Volkshaufen hatten zu wiederholten Malen das Tuilerienschloß erstürmt und den König und die Seinen roh beschimpft; endlich hatte man Eltern und Kinder in den Temple geführt, wo sie jetzt in harter Gefangenschaft schmachteten.

Tränen erstickten die Stimme des Magisters, auch seine Zuhörer weinten vor Mitleid und Empörung. »Die Schurken!« rief Max Ebner, ein hübscher, vierzehnjähriger Knabe, mit blitzenden Augen und geballter Faust. »Wie durften sie das wagen? Aber warum tun sich nicht alle redlichen Leute zusammen, um diese Abscheulichen aus dem Lande zu jagen und die Ordnung wiederherzustellen?«

»Wir müssen einen Kreuzzug durch ganz Deutschland predigen«, rief der jüngere Bruder Hans, »und dem guten König zu Hilfe kommen!«

»Und der schönen, unglücklichen Königin!« sagte Gabriele traurig. »O Gott, wie konnten sie es über das Herz bringen, Hand an sie und ihre zarten Kinder zu legen?«

»Der Herr wird sie verschlingen in seinem Zorn, Feuer wird sie fressen!« murmelte die blinde Maria mit gefalteten Künden.

Mit strengen und strafenden Blicken sah Fräulein Bella auf die Sprecher, welche sie, mit Ausnahme ihrer Nichte, für gänzlich unberechtigt hielt, hier eine Meinung zu äußern; in ihren Augen stand dies Vergehen nicht viel tiefer als die Auflehnung gegen die königliche Autorität.

»Aber diese Nachrichten sind schon mehrere Wochen alt,« sagte Frau v. Fiedler mit geheimem Herzklopfen, »vielleicht hat seitdem das Volk an seine Brust geschlagen, und die Ruhe ist längst wiederhergestellt.«

»Leider kann ich diese Hoffnung nicht bestätigen,« versetzte der Magister ernst; »die neueste Zeitung bringt einen Bericht aus den ersten Septembertagen, wonach neue, entsetzliche Taten die Hauptstadt in Schrecken gesetzt haben. In einer Nacht hatte der Gemeinderat eine allgemeine Haussuchung angesetzt; jeder, der einer königstreuen Gesinnung oder eines Widerspruchs gegen die Machthaber verdächtig war, wurde in die Gefängnisse abgeführt. Aber noch nicht genug! Auch im sicheren Gewahrsam schienen die Gegner die ›Sache der Freiheit‹ noch zu gefährden, daher ließ man der Rachsucht, dem wütenden Haß des Straßenpöbels freie Hand. Tausende von Priestern, Schweizern und Adligen fielen unter den mörderischen Händen dieser blutdürstigen Würgerbanden, kein Stand, kein Geschlecht wurde verschont. In Laforce töteten die Mörder die Prinzessin von Lamballe, die treueste Freundin des Königs, und trugen ihr abgetrenntes Haupt auf einer Pike vor das Fenster der Königin. Es war, als sollten die alte und die neue Zeit durch einen breiten Blutstreifen voneinander getrennt werden.«

Ein schauderndes Schweigen folgte diesem entsetzlichen Bericht; keiner wagte zu diesem Übermaß unmenschlicher Roheit ein Wort zu sagen. Regungslos saß Frau v. Fiedler da – ihr einziger Sohn befand sich mitten in diesem Wirbel entfesselter Leidenschaften; würde er allen Gefahren entgehen, durfte man in diesem wilden Wirrwarr auf Gerechtigkeit, auf Beobachtung des Gastrechts hoffen? – Eine tiefe Niedergeschlagenheit hatte sich aller bemächtigt; stiller als sonst wurde das Abendessen eingenommen, und nach dem Gebet, in welchem der Magister mit warmer Innigkeit aller unschuldig Verfolgten gedachte, ging man schweigend auseinander. Als Gabriele mit ihrer Mutter allein war, umschlang sie diese mit Zärtlichkeit. »Geliebte Mama,« flüsterte sie ihr zu, »Sie müssen sich mit mir freuen; Luise hat mir geschrieben – welch einen Brief! Sie liebt mich, sie liebt mich! O, Sie glauben nicht, wie glücklich mich das macht! Aber Sie müssen mein Glück teilen, sonst wäre es nicht vollkommen.«

Mit starkem Willen unterdrückte Frau v. Fiedler ihre eignen schmerzvollen Gedanken und wendete ihre ganze Aufmerksamkeit der Tochter zu. »Laß mich hören, mein Kind,« sagte sie liebevoll, »ich bin bereit, an deiner Freude teilzunehmen!« Das junge Mädchen setzte sich auf einen niedrigen Sessel zu ihren Füßen und las ihr mit glühenden Wangen die warmen Ergüsse eines unschuldigen Herzens vor, das zum erstenmal in dem Gefühl der Freundschaft schwelgt. Mit Freudentränen in den Augen blickte Gabriele zu dem gütigen Antlitz auf, das ihr lauschend zugekehrt war. »O Mutter,« sagte sie tief bewegt, »bin ich nicht glücklich im Besitz einer solchen Freundin?«

Die Mutter küßte sie auf die Stirn. »Gott erhalte dir deine Wonne ungetrübt, mein liebes Kind! Genieße dankbar jede sonnige Stunde – wer weiß, wie bald der Sturm über uns hereinbricht.«


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