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Dritter Teil.
Mit Gott für König und Vaterland


Zwanzigstes Kapitel.
Von der Großen Armee

In stolzen Schwärmen flogen sie aus,
Die Welt zu unterjochen,
Doch ihrer wen'ge sind wieder nach Haus
Mit lahmen Flügeln gekrochen.

Es war zu Ende des Jahres 1812. Im Herrenhause zu Scharfeneck brannten die Weihnachtslichter, die Kinderstimmen waren verklungen, die Gaben verteilt, dankend verließen die Leute die Halle. »Ein gesegnetes neues Jahr für Euer Gnaden!« sagte der alte, halbblinde Schäfer, indem er Frau v. Fiedler, die im Lehnstuhl saß, die Hand küßte.

»Vielen Dank, mein alter Thomas!« erwiderte die Freifrau gütig. »Wir beide sind nun schon die Ältesten im ganzen Ort, seit der Herr Magister heimgegangen ist, und für uns wird unser himmlischer Vater wohl auch bald den besten Segen bereithalten – einen sanften Tod!«

»Wie Gott will!« versetzte der Alte mit seiner zitternden Stimme. »Aber ehe ich von hinnen scheide, möchte ich's doch gern noch erleben, daß der Antichrist von seinem Thron gestoßen wird und seinen verdienten Lohn empfängt.«

»Wir beten schon lange darum, Thomas, aber der Herr will uns immer noch nicht erhören.«

»Nein, Er braucht diesen Napoleon noch, um die Welt für ihre Sünde zu züchtigen; aber haben Eure Gnaden nur Geduld, lange kann's nicht mehr dauern. Der Wunderstern im vorigen Jahre hatte etwas zu bedeuten, solche Zeichen werden nicht umsonst an den Himmel gesetzt. Und alle die merkwürdigen Träume, die mir seit dem Herbst immer wieder kommen, die haben auch einen Grund; mein Gott hat mir schon manchmal im Schlaf die Zukunft offenbart.«

»Was träumt Ihr denn, Thomas?«

»Ich träume von weiten, weiten Schneefeldern,« sagte der alte Mann in geheimnisvollem Tone, »mit vielen tausend Menschen darauf, aber sie rühren sich nicht, sie sind starr und kalt; darüber hin aber leuchtet es wie rote Glut von einem unauslöschlichen Feuer. Manchmal kommt auch Leben in die starren Leiber, aber sie kriechen nur langsam vorwärts, stumm und ohne Laut – es ist ein Elend, sie anzusehen. Das ist des Herrn Strafgericht über die Übermütigen!«

Frau v. Fiedler blickte ernst vor sich hin. »Es fliegen dunkle Gerüchte durch die Luft,« erwiderte sie halb flüsternd, »als ob die ungeheure Armee des französischen Kaisers von einem schrecklichen Geschick ereilt worden sei, aber wir wissen noch nichts Bestimmtes darüber. Vielleicht haben Eure Träume recht, Thomas, wir wollen es abwarten. Lebt wohl, mein guter Alter, wir sprechen uns wieder.«

Es war still geworden in der Halle, nur die vier Damen des Hauses waren noch um den Christbaum vereint und schauten gedankenvoll in die flimmernden Kerzen. »Das erste Weihnachtsfest ohne Maltus!« flüsterte Thea träumerisch.

»Schon das dritte ohne meine Königin!« seufzte Gabriele.

»Und das siebente unter der Fremdherrschaft,« fügte die Freifrau hinzu, »o Herr, wie so lange!«

»Und doch verkündet es immer wieder Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen, und es muß doch recht behalten!« sagte Lotte mit ihrer frischen Stimme, die stets geradeswegs aus einem frischen, freudigen Herzen zu kommen schien.

»Ich habe den Mut verloren, daran zu glauben,« versetzte Gabriele traurig, »mir scheint, Gott hat sein Angesicht von Deutschland abgewandt. Muß nicht Preußen dem Ungeheuer Napoleon, dem schnöden, wortbrüchigen Tyrannen, gehorsame Heeresfolge leisten? müssen nicht preußische Soldaten und Offiziere unter französischen Fahnen gegen ihre besten Freunde, die Russen, kämpfen? O, es ist zu bitter!«

»Als ich jung war, mein Kind,« erwiderte die Freifrau, »waren die Russen die gefürchtetsten Feinde unseres großen Königs; die Freundschaften der Fürsten sind sehr wandelbar und können sich schnell wieder ändern.«

»Aber Frankreich ist immer der Erbfeind Preußens gewesen, Mutter; es ist Unnatur, daß wir an seiner Seite stehen, und ich weiß, daß es den König in tiefster Seele kränkt. Mein armer König, was muß er empfunden haben, als er im letzten Frühjahr in Dresden erscheinen und Napoleons ergebenen Diener spielen mußte! als der herzlose Mann ihn mit der Frage empfing: Sie sind Witwer? Wahrlich, er konnte es ganz genau wissen, daß er selbst der Mörder unserer Engelskönigin war, daß nur seine Bosheit und Tücke ihr das Herz gebrochen hatte!«

Eine Pause folgte der bitteren Klage, dann klang es von Theas Lippen sanft und leise:

»Nicht leichten Kampfes siegt der Glaube,
Solch Gut will schwer errungen sein;
Freiwillig tränkt uns keine Traube,
Die Kelter nur erpreßt den Wein
Und will ein Engel himmelwärts,
Erst bricht im Tod ein Menschenherz.«

(Körner.)

Und in frischem, kräftigem Ton fuhr Lotte also fort:

»Herz, laß dich nicht zerspalten
Durch Feindes List und Spott.
Gott wird es wohl verwalten,
Er ist der Freiheit Gott!

Laß nur den Wütrich drohen,
Dort reicht er nicht hinauf!
Einst bricht in heil'gen Lohen
Doch deine Freiheit auf.

Glimmend durch lange Schmerzen
Hat sie der Tod verklärt,
Aus Millionen Herzen
Mit edlem Blut genährt.

Drum laß dich nicht zerspalten
Durch Feindes List und Spott.
Gott wird es wohl verwalten,
Er ist der Freiheit Gott!«

(Körner.)

»So ist es recht, ihr lieben Kinder«, sagte Frau v. Fiedler freundlich, indem sie eine Träne trocknete. »Laßt euch Glauben und Hoffnung nicht rauben! Ihr seid noch jung und könnt noch manchen Wandel erleben! Nur wir Alten müssen darauf verzichten lernen, das Ziel unserer Wünsche mit eigenen Augen zu schauen; aber unser Herr spricht ja: Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.« Sie reichte den jungen Mädchen ihre Hände, welche jene mit zärtlicher Ehrerbietung an ihre Lippen zogen.

Die vier Damen, welche jetzt, neben der Dienerschaft, die einzigen Bewohner des Scharfenecker Schlosses waren, boten sehr verschiedenartige Erscheinungen dar, und ein poetisch gerichtetes Gemüt hätte sie füglich mit den vier Jahreszeiten vergleichen können. Frau v. Fiedlers ehrwürdiges Haupt deckte der Schnee des Alters, ihre hohe Gestalt war gebeugt, und sie stützte sich gern auf einen jüngeren Arm. Die Trauer um den einzigen Sohn und um die Schmach des Vaterlandes hatte sie zur Greisin gemacht; nur die schönen, klaren Augen waren unverändert und zeigten, daß das innere Leben noch von ungetrübter Frische sei. Ihre Tochter Gabriele war vor der Zeit gealtert; der leidenschaftliche Schmerz um ihre Königin, der seinen Ausdruck in einem persönlichen Hasse gegen Napoleon fand, drückte ihrem Wesen etwas Finsteres und Verschlossenes auf; die tiefe Schwermut, die über ihr lag, hatte nicht, wie bei ihrer Mutter, den Charakter sanfter Milde, sondern den einer herbstlichen Herbigkeit. Auch fühlte sie sich auf die Dauer in der Heimat nicht befriedigt; anfangs zwar hatte die tiefe Stille und Zurückgezogenheit ihrem verwundeten Herzen wohlgetan, aber sie hatte so lange im Mittelpunkt der Ereignisse gelebt, mit so vielen bedeutenden Menschen verkehrt und war mit ihren lebhaftesten Interessen so sehr in der königlichen Familie und deren Umgebung festgewurzelt, daß es ihr bald vorkam, als wäre sie daheim in der Verbannung. So hoch sie ihre Mutter verehrte, so empfand sie doch täglich, daß sie dieser nicht unentbehrlich sei; für alle die unzähligen Fragen und Angelegenheiten des täglichen Lebens war Lotte längst in ihre Stelle getreten, und Gabriele fühlte, daß sie im Vaterhause immer nur wie ein lieber und geehrter Gast, nicht wie ein notwendiges Glied betrachtet wurde. Sie war viel zu stolz, um es sich einzugestehen, daß sie auf ihre Nachfolgerin eifersüchtig sei, und doch konnte sie zuweilen eine bittere Regung nicht unterdrücken, daß das fremde Mädchen ihrer Mutter näher stände als die eigene Tochter.

Lotte war ein glücklich geartetes Menschenkind; gesund und kräftig an Leib und Seele, wirkte sie auf ihre Umgebung wie ein Hauch frischer Luft; wer in ihre treuherzigen Augen blickte und ihr heiteres Lächeln sah, dem wurde wohl zumute, und wen sie unter ihre Obhut nahm, der fühlte sich sicher geborgen. Strahlte sie in sommerlicher Frische, so glich Thea einem Frühlingstage, der seine Knospen noch nicht ganz entfaltet hat. Sie hatte von ihrer Mutter nur die kleine, zierliche Gestalt überkommen, sonst war alles an ihr deutsches Erbe: blonde Locken ringelten sich um ein zartes Gesichtchen mit träumerischen, blauen Augen; das Köpfchen trug sie meist schüchtern gesenkt und schien überhaupt einer Stütze zu bedürfen, um sich daran zu lehnen. Sie war Lottens unzertrennliche Begleiterin und tat gern, was diese sie hieß, denn sie hatte noch nicht gelernt, sich als ganz erwachsen und selbständig zu fühlen; heimlich sehnte sie sich nach der Zeit zurück, da sie ein Kind war und mit dem geliebten Bruder zu Dr. Hans Ebner in die Schule ging, – ja, das waren glückliche Jahre gewesen! –

Die Lichter waren herabgebrannt und erloschen, die Damen hatten sich aus der weiten Halle, die trotz des flackernden Kaminfeuers immer frostig blieb, in das behagliche Wohnzimmer zurückgezogen und sprachen von vergangener Zeit und fernen Lieben, unter denen Maltus den ersten Platz einnahm. Er hatte vor einem Jahre die neu begründete Universität zu Berlin bezogen, und Dr. Ebner hatte ihn dorthin begleitet, um eine Stelle als Hilfsgeistlicher in der Hauptstadt anzunehmen. Maltus' Briefe, die voll jugendlicher Frische und übersprudelnder Lebendigkeit waren, bildeten fast die einzige Abwechselung in dem stillen, zurückgezogenen Leben der Scharfenecker; sie spiegelten die Stimmung der studierenden Jugend treu und anschaulich wider, ihre stürmische Vaterlandsliebe, ihren glühenden Tyrannenhaß, ihren schwärmenden Genuß an allen Erzeugnissen der Poesie. Goethe war diesen Jünglingen schon ein überwundener Standpunkt; sie konnten dem Altmeister der deutschen Dichtung seine Bewunderung für Napoleon, sein Verzweifeln an einer Wiedergeburt Deutschlands nicht verzeihen. Schiller, der Sänger der Freiheit, Heinrich v. Kleist mit seinem düsteren Haß gegen den Unterdrücker, Arndt, Körner und Schenkendorf, das waren die Dichter, für die sie schwärmten, der gewaltige Freiherr vom Stein, Blücher, Scharnhorst und Gneisenau die Staatsmänner und Feldherren, von denen sie das Heil erwarteten, Fichte und Schleiermacher die Professoren, auf deren Worte sie schwuren. Es klang schön und hoffnungsvoll, wenn Maltus von alledem berichtete, was er und seine Freunde dachten und träumten, – aber waren die begeisterten Wünsche der Berliner Studenten mehr als jugendliche Träume? waren sie bestimmt, einmal Leben und Wirklichkeit zu werden? Der Feldzug Napoleons gegen Rußland, der die streitbaren Männer von halb Europa unter den Fahnen des unbesiegbaren Imperators vereinte, schien alle solche Gedanken in das Reich der Phantasie zu weisen. Jedenfalls fühlte sich die Freifrau jetzt völlig beruhigt über die Frage, für welche Nationalität sich Maltus entscheiden würde, und sie wurde auch nicht ungeduldig, als er sie bat, seine Heimkehr bis zu ihrem eigenen Geburtstage verschieben und erst dann seine feierliche Erklärung abgeben zu dürfen. –

Die Unterhaltung wurde durch den Eintritt des alten Franz unterbrochen, welcher meldete, Mutter Marthe bäte dringend darum, eine von den Damen zu sprechen. »Mutter Marthe?« fragte Lotte erstaunt, »die war ja vorhin mit den Enkeln hier und kann erst wenige Stunden zu Hause gewesen sein. Was mag nur die Alte wollen?« Sie ging hinaus und kam bald darauf mit glühenden Wangen wieder. »Sie bringt eine merkwürdige Botschaft,« sagte sie erregt, »ihr Jochen ist plötzlich heimgekehrt – ihr wißt, er war mit nach Rußland gezogen – und soll die seltsamsten Dinge erzählen, von furchtbaren Niederlagen und einer gänzlichen Zertrümmerung des ganzen Heeres. Er selbst ist krank und elend, und Mutter Marthe bittet dringend um Hilfe für ihn. Ich möchte gleich hinaufgehen und nach ihm sehen.«

»Ich komme mit«, sagte Gabriele hastig. »Wenn er wahr spräche – welch ein Weihnachtsgeschenk für das geknechtete Deutschland! Gott im Himmel, sollten die geflüsterten Nachrichten doch ein Körnchen Wahrheit enthalten? Ich wagte bisher nicht, ihnen Glauben zu schenken.«

Schnell wurde ein Korb mit Wein und Lebensmitteln gepackt, und die beiden Damen schritten durch den tiefen Schnee, der im hellen Mondschein leuchtete und unter den Schritten in der scharfen Kälte knisterte, den Abhang hinauf zu Mutter Marthes kleinem Häuschen.

Auf dem niedrigen Bett der Alten lag eine totenbleiche Gestalt von gespenstischer Magerkeit; die unnatürlich großen Augen richteten sich mit einem angstvollen Blick auf die Eintretenden, die knochigen Hände streckten sich wie zur Abwehr aus, sanken aber kraftlos herab. »Es sind ja die guten Fräuleins vom Schlosse, Jochen,« sagte Mutter Marthe beruhigend; »sei doch vernünftig, mein alter Junge, hier tut dir keiner mehr etwas. Er denkt immer, die Kosaken wären noch hinter ihm her,« setzte sie erklärend hinzu, »sie haben den armen Schelmen Tag und Nacht keine Ruhe gelassen.«

Lotte fühlte nach des Kranken Puls. »Er ist zum Erschrecken schwach«, sagte sie bedauernd und flößte ihm etwas Wein ein, den er gierig hinuntertrank. »Nur nicht zuviel auf einmal,« warnte sie; »der arme Mensch scheint ganz verhungert zu sein und muß sich erst vorsichtig an Speise und Trank gewöhnen.«

Ungeduldig wartete Gabriele darauf, Jochen auszufragen; die lange Vorbereitung schien ihr unerträglich. »Seid Ihr wirklich in Rußland gewesen, und kommt Ihr von dort?« fragte sie dringend.

»Ja, ja, Euer Gnaden,« erwiderte der Mann in heiserem Ton, der zuweilen durch einen dumpfen Husten unterbrochen wurde, »ich hab' all das bodenlose Elend durchgekostet, und ein reines Wunder ist es, daß ich hier wieder daheim bin. Viele tausend gute Kameraden sind dort in den mörderischen Schlachten gefallen oder in Schnee und Eis verdorben; haufenweise sind sie in die Beresina gestürzt und ertrunken oder auf dem Rückwege vor Hunger gestorben. Wir waren ein stolzes Heer, als wir auszogen, aber jämmerlich klein und zerschlagen sind wir heimgekehrt – und das alles hat allein dieser Napoleon auf seinem Gewissen, den Gott dafür in die tiefste Hölle verdammen wolle!«

»Sprecht nicht so gottlos, Jochen,« sagte Lotte verweisend, »dankt lieber dem Herrn, daß er Euch errettet hat!«

»Redet weiter, Mann, erzählt mir alles,« drängte Gabriele, »ich will Euch reich für die Anstrengung belohnen.«

»Ich mag kein Geld, Fräulein,« sagte Jochen, »wir hatten in Moskau die Fülle davon, Gold und Edelsteine, aber kein Brot; Brot ist besser als Gold, und ein Gericht Kartoffeln mit Salz unter einem sicheren Dach ist die beste Gottesgabe.«

»So seid Ihr wirklich in der alten Zarenstadt Moskau gewesen?«

»Jawohl, Euer Gnaden. Als wir es von fern erblickten, da jubelten wir; die dreihundert Türme und goldenen Kuppeln funkelten und gleißten im Sonnenschein, daß es uns die Augen blendete, und wir meinten, nun hätte alle Not ein Ende. Aber drinnen war's schauerlich, alle Straßen so öde, alle Türen verrammelt, kein Laut zu hören, kein Mensch zu sehen! Wir schlugen die Türen ein und drangen in die Häuser und Paläste – da sah es prächtig aus, und der gemeine Soldat wohnte wie ein Fürst. Aber in einer Nacht fing es an zu knistern und zu prasseln, und ehe man sich's versah, da schlugen an hundert Stellen zugleich die Flammen auf, der Sturm fuhr darein, als wäre er bestellt, und bald war alles ein Feuermeer. Die Dächer und Mauern stürzten krachend zusammen, von den Türmen floß das geschmolzene Blei wie Wasser – wehe dem, den es traf! Das war ein Schreien und Jammern, ein Ächzen und Fluchen, ein Drängen und Stoßen – hu, mir graust, wenn ich daran denke!«

»Redet nicht so viel, Jochen,« sagte Lotte beschwichtigend, als ein langer Hustenanfall den lebhaften Bericht unterbrach, »Ihr könnt uns die Geschichte ein andermal erzählen.«

»Nein, nein, laß ihn, ich muß alles hören,« fuhr Gabriele dazwischen; »erholt Euch, Freund, und dann sprecht weiter.«

»Als die Stadt heruntergebrannt war,« fuhr Jochen nach einer Pause fort, »da mußte selbst der gottverfluchte Kaiser einsehen, daß in Rußland kein Ruhm für ihn zu holen sei, und er kehrte um. Über das Schlachtfeld von Borodino zogen wir, das noch mit Blut und Leichen bedeckt war; immer kälter wurde es – o, so bitter kalt! Die Pferde konnten auf dem Glatteis nicht mehr fort, sie stürzten scharenweise zu Boden; jeder von uns warf alles weg, was ihm zu schwer wurde, Waffen und kostbare Beutestücke, die ja nicht wärmten und nicht zu essen waren. In Moskau war es uns zu heiß geworden, hier fror uns das Mark in den Knochen. Und dazu diese Teufel, die Kosaken, die immer hinten und vorn waren, in warmen Pelzmänteln auf kleinen, flinken Pferden, mit langen Lanzen, und uns keine Ruhe ließen. Wenn ich die Augen zumache, gellt mir immer noch ihr wildes Hurra in den Ohren, und aus jedem Schlaf fahre ich auf und zittere am ganzen Leibe.«

»Mein armer Junge!« sagte Mutter Marthe und streichelte ihm unter Tränen die abgezehrten Wangen; »jetzt bist du ja wieder bei deiner Mutter, die wird dich schon beschützen!«

»Was ist aus dem Kaiser geworden?« fragte Gabriele, die über jede Unterbrechung ungeduldig wurde.

»Er wickelte sich in seinen Pelz, setzte sich in einen Schlitten und fuhr davon, so schnell er konnte – was fragte er nach uns, und was kümmerten ihn die zehntausend Flüche, die ihm seine Soldaten nachschickten!« versetzte Jochen ingrimmig. »In Polen oder Rußland – ich weiß nicht genau, wo es war – hatten wir Weimarer Grenadiere einmal die Wache an seinem Zelt. Da lag er und schlief, als hätte er das beste Gewissen von der Welt, und ich stand draußen und fror und dachte, warum der Herrgott nicht lieber diesen einen schlechten Mann sterben ließe statt all der tausend Unschuldigen. Auf einmal kommt mein Hauptmann ganz blaß heraus und faltet die Hände und sagt ganz laut: »Herr, führe mich nicht in Versuchung!« Und wie er mich sieht, spricht er: »Ich muß fort, Kamerad, kommst du mit?« Das ließ ich mir nicht zweimal sagen, und so schlugen wir uns seitwärts und kamen nach langem Wandern endlich über die preußische Grenze, und nach vier Wochen bin ich wirklich zu Hause angekommen, – ich hätt's nimmer gedacht, daß ich das alte Nest noch einmal sehen sollte! Der Hauptmann aber hat mir's in einer Nacht vertraut, als wir zusammen auf einem Bund Stroh in einem elenden Hüttchen lagen, was ihn so eilends fortgetrieben hat: ein französischer Major hätte ihm den schlafenden Kaiser gezeigt und zu ihm gesagt: ›Ein Stoß – und alles ist vorbei!‹«

Lotte schauderte, aber Gabrielens Augen blitzten, ihr Gesicht drückte mehr Bedauern als Zustimmung aus, doch sagte sie nichts dazu.

Kaum ein Tag verging, an welchem die Damen vom Schlosse nicht das Waldwärterhäuschen besucht hätten; Lotte pflegte, ermahnte und beruhigte unermüdlich; Gabriele konnte sich nicht satt hören an den Schilderungen des furchtbaren Strafgerichtes, welches die Große Armee betroffen hatte. Sie fühlte kein Mitleid mit den zweimalhunderttausend Menschen, welche durch die trotzige Herrschbegier, den wahnsinnigen Hochmut eines Einzigen hingeopfert, ein schreckliches, qualvolles Ende gefunden hatten; teilten sie doch alle die übermütige Verblendung ihres obersten Heerführers, hatten sie doch auf ihrem Auszuge die Länder überfallen wie gefräßige Heuschreckenschwärme, die nicht eher ruhen und rasten, bis sie alles vertilgt und ihren Weg in eine Wüste verwandelt haben. Auch der gemeine Soldat hatte getobt und gedroht, wenn er mittags nicht zwei Gänge erhielt; mit dem Brote, das er nicht verzehren konnte, hatte er empörende Kurzweil getrieben. Die Offiziere hatten ihren Quartiergebern arge Zumutungen gestellt; arme deutsche Pfarrfrauen, denen der Krieg schon oft die dürftige Habe angetastet, hatten sie gezwungen, ihnen den Schinken in Rotwein zu kochen; die stolzen Marschälle aber hatten den deutschen Städten unerhörte Lieferungen auferlegt, um ihre üppigen Mahlzeiten zu bestreiten, ihre bequemen Gewohnheiten zu befriedigen, ihren gewaltigen Troß zu verpflegen. Mochten sie alle ihre wohlverdiente Strafe finden! Endlich, endlich mußte die göttliche Gerechtigkeit doch auch den Hauptschuldigen treffen und das Ungeheuer vertilgen, das die Welt mit Angst und Schrecken erfüllte! So dachte Gabriele in heißem Rachedurst, und tausend deutsche Herzen dachten und fühlten wie sie. –

Eines Tages – es war bald nach Neujahr – fuhren Lotte und Thea nach Eisenach, um einige Einkäufe zu machen. In Tücher und Pelze wohl verhüllt, flogen sie auf der glatten Schlittenbahn fröhlich dahin, bis sie einen langen Zug von Menschen einholten, welchen sie mit Schrecken und Grauen betrachteten. Mühselig, langsam und lautlos schleppten jene sich fort, und es war schwer zu sagen, welcher Art die Leute waren; einige sahen wie Weiber aus, sie hatten Tücher über die Ohren gebunden und Frauenröcke umgehängt, unter denen sie die vor Kälte zitternden Hände verbargen. Manche hatten alte Säcke, zerrissene Pferdedecken, Hunde- und Katzenfelle um die Schultern geschlagen, weiße Nachtmützen, wie sie die Bauern trugen, tief über den Kopf gezogen, die Füße mit Stroh und Lappen umwickelt; kaum einer trug Stiefel, höchstens Filzschuhe oder wollene Socken. Alle sahen krank und elend aus, vielen glänzten Nase und Ohren feuerrot, weil sie früher erfroren gewesen waren, und die matten Augen lagen tief in ihren Höhlen. Hier und da konnte man noch schwache, undeutliche Überreste von Uniformstücken erkennen, eine Bärenmütze, einen zersetzten Soldatenmantel, einen einzelnen Säbel, aber die Mehrzahl bot in ihrer Tracht nur den Anblick bunt zusammengewürfelter Lumpen dar, und der ganze Eindruck des jammervollen Haufens war durchaus kein militärischer.

»Lotte, Lotte, welche Schreckensgestalten!« sagte Thea angsterfüllt, indem sie sich enger an ihre Begleiterin schmiegte: »wo kommen sie her? wo wollen sie hin? mich überläuft es eisig, wenn ich sie ansehe; es ist, als trügen sie Tod und Pestilenz in ihren Gliedern, als müßten sie das Verderben mit sich bringen, wo sie eintreten!«

»Ich glaube,« erwiderte Lotte traurig, »es sind die Trümmer der Großen Armee, welche auszog, um die Welt zu erobern, und heimkehrt wie ein Häuflein armer Sünder. Gott sei ihnen gnädig! Sie büßen furchtbar für eigene und fremde Schuld!«

Schweigend setzten die Mädchen ihren Weg fort; die unschuldige Freude an dem sonnigen Wintertage und der pfeilschnellen Schlittenfahrt war ihnen vergällt; wer konnte noch froh sein neben solchem Elend? Als sie ihre Einkäufe beendet hatten, kam der Trupp eben ins Tor hinein; scheu, mit niedergeschlagenen Augen, schlichen die einst so übermütigen Soldaten des sieggewohnten Kaisers durch die Straßen, als müßten sie sich vor den Blicken der Menschen verbergen. Manchmal schoß einer aus der Reihe, um aus den Küchenabfällen, die seitwärts aufgehäuft lagen, noch etwas Genießbares herauszuziehen; einer nagte an einem Knochen, der andere an einer hartgefrorenen Rübe. Lotte gingen die Augen über, sie trat schnell in ein einfaches Wirtshaus an der Straße ein, schüttete den Rest ihres Beutels auf dem Tische aus und bat, den Unglücklichen dafür etwas warme Speise zu reichen. Der wackeren Wirtin ging der Jammeranblick selbst zu Herzen, sie bereitete eilends einen großen Kessel mit heißem Kaffee und zerschnitt so viel Brot, wie sie gerade vorrätig hatte; dann ließ sie die elende Schar in ihre Küche treten und fing an zu verteilen. Aber sie mußte ihre gute Absicht bald bereuen, denn die durchfrorenen, verhungerten Menschen drängten mit solcher Hast zum Feuer, daß sie sich in die größte Gefahr brachten; Speise und Trank schlangen sie mit tierischer Gier hinab und streckten die Hände immer wieder aus, um noch mehr zu empfangen. Es war, als wäre jedes menschliche Gefühl in ihnen erstorben, als wären sie mit einem unstillbaren Hunger bestraft.

Tief erschüttert kehrten die beiden Mädchen zurück und konnten nur unter Tränen den Eindruck dieses furchtbaren Elends schildern. Viele Wochen hindurch erneuerte das trübe Bild sich Tag für Tag in allen Teilen Deutschlands; auch durch Tannenrode und Scharfeneck zogen bald versprengte Scharen solcher Flüchtlinge, und sie nahmen nicht allein das Mitleid der Bewohner in Anspruch, das ihnen selten versagt wurde, nein, sie ließen ihren Wohltätern oft genug noch die Keime der schrecklichsten Krankheiten zurück, die sie wie einen Fluch mit sich schleppten. So groß war das Schicksal, so unerhört die Niederlage, so unglaublich das Unglück, daß auch die Zweifler gläubig wurden und erschüttert ausriefen: »Hier ist Gott, dies ist Gottes Finger!« Und überall im deutschen Volke erkannte man die Hand des gewaltigen Gottes, der sein nicht spotten läßt, und von Mund zu Mund erklang es:

Mit Mann und Roß und Wagen,
So hat sie Gott geschlagen!
Es irrt durch Schnee und Wald umher
Das große, mächt'ge Franzosenheer.
Der Kaiser auf der Flucht,
Soldaten ohne Zucht!

Mit Mann und Roß und Wagen,
So hat sie Gott geschlagen!
Speicher ohne Brot,
Allerorten Not,
Wagen ohne Rad,
Alles müd' und matt,
Kranke ohne Wagen –
So hat sie Gott geschlagen!

(Volkslied von 1813.)


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