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»Was läuten heute alle Glocken
So feierlich im Mittagsstrahl?«
Die Mutter sprach's zur blüh'nden Tochter
Im bergumschloss'nen Schächental.
Und jene hob vom braunen Rädchen
Der Liebe treuen Blick empor:
»Du irrst, ich höre keine Glocken – –
Es täuscht der wilde Föhn dein Ohr.«
»Und doch hör' ich die Glocken läuten,
So traurig, Kind, und schwerbewegt,
Wie bang sie durch die Lüfte wimmern,
Wenn Tote man zur Ruhe legt.«
Und beide spinnen, beide sinnen,
Und keines stört die stumme Ruh',
Nur schaut die liebe, fromme Tochter
Der Mutter oft verwundert zu.
»Horch, Kind, jetzt betet jemand leise,
Es wird der blinde Bettler sein;
Geh schnell und öffne ihm die Türe
Und führ' ihn nur zu uns herein!«
»O Mutter! Niemand steht ja draußen,
Und keine Seele betet hier,
Du hörst wohl nur des Baches Rauschen,
Das dumpf erschallet bis zu dir.«
Still hört die Mutter diese Worte
Und senkt betroffen ihren Blick;
Sie sinnt, und immer kummervoller
Denkt sie an ihren Sohn zurück.
Er war am Morgen fortgezogen
Mit seiner Herde, eh's noch graut',
Er führte sie zum höchsten Grate,
Wo nur der Aar sein Nest sich baut.
»Mein Kind! Was kann dies wohl bedeuten:
Gebet – und Totenglockenklang?
Wie, wenn dein Bruder ...! – Gott im Himmel;
Mir ist ums Herz so schwer und bang!«
Und beide spinnen, beide sinnen,
Und keines stört die stille Ruh',
Nur schaut die liebe, fromme Tochter
Der Mutter kummervoller zu.
Der Tag verfloß, der Abend nahte,
Der Roßstock glomm im letzten Strahl,
Und jubelnd zogen rings die Hirten
Mit ihren Herden schon zu Tal.
Nur
er allein ist nicht gekommen
Mit seiner kleinen Ziegenschar,
Der blonde Hirt ist ausgeblieben,
Der immer sonst der erste war. –
Schon ist die Nacht hereingesunken,
Schon glänzen Sterne friedlich mild,
Und schon erklang die Aveglocke
Im weiten, schweigenden Gefild.
»O, meine Tochter, kniee nieder!« –
So lispelt's bang beim letzten Ton –
Und sieh! es beten Kind und Mutter
Jetzt für den Bruder, für den Sohn.
Ach, wilder pocht's im Mutterherzen,
Und immer schwärzer wird die Nacht,
Und banger ziehen die Minuten,
Wie Stunden vor der heißen Schlacht.
Und nimmer länger kann sie weilen
Im engen, totenstillen Haus;
Gleich einer aufgescheuchten Taube
Stürzt sie in schwarze Nacht hinaus.
Schwerseufzend wankt sie durch die Wiesen
Bis hin zum Kreuz am Hügelrand,
Und schaut mit tränenfeuchten Blicken
Empor zum grauen Alpenland.
O Wunder! Dort auf Felsenhöhen
Erblickt sie jetzt ein helles Licht,
Ein Licht so rot – – sind's wohl die Sterne?
Doch nein! Der Abendstern ist's nicht. –
»Tot ist er, tot!« – – so ruft sie bebend,
»Kalt liegt er dort – ach, eilt geschwind!
Und steigt hinauf zum Leichengrate,
Bringt mir zurück mein armes Kind!«
Die Männer faßt ein seltsam Grauen;
Denn keiner sieht den Ort erhellt;
Ihr Seelenauge ist geschlossen,
Und stumm für sie die Geisterwelt.
Sie steigen, in der Hand die Fackel,
Zum Grat, von Gemsen nur besucht,
Und irren durch Geröll und Klüfte,
Verschwiegen, wie man Tote sucht.
Und wunderbar! An jener Stätte,
Wo seine Mutter Lichter sah,
Da lag der Hirt, der holde Knabe,
Lag tot in seinem Blute da.
Sie heben auf die junge Leiche
Vom rauhen, blutgetränkten Moos
Und legen sie im Tale drunten
Der bleichen Mutter in den Schoß. – –
Wohl klingen jetzt die Sterbeglocken
Und schallen traurig, schallen bang,
Wie's gestern schon die Mutter hörte,
Als ihren Sohn der Tod umschlang.
Wohl beten jetzt die guten Freunde,
Die Augen selbst von Tränen naß,
Wie's gestern vor der Türe flehte,
Als still im Haus die Mutter saß.