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Ein verlorner Sohn

Wes ist das Licht, das durch die trübe
Sternlose Nacht so tröstend blinkt?
Das Lämpchen ist's der Mutterliebe,
Das heimwärts dem Verlornen winkt.

Ein armes Weib in enger Klause
Wohnt dort, ihr Haupt ist altersschwer;
Vor Jahren zog vom Elternhause
Der einz'ge Sohn fort übers Meer.

An ihres Fensters kleine Scheibe
Sie nächtlich drum die Lampe stellt,
Daß, wenn zurück ihn Sehnsucht treibe,
Der düstre Pfad ihm sei erhellt.

Denn »heute muß er wiederkehren!«
Entfachend jener Lampe Schein,
Spricht täglich sie mit bittren Zähren,
Eh' sie des Abends schlummert ein.

Und wenn sie früh die müden Glieder
Vom Lager hebt, beim Morgenrot,
Ruft betend sie: »Heut kehrt er wieder!« – –
Sie weiß es nicht, daß längst er tot ...

Es hat die Nachbarin, die gerne
Das Neuste stets im Dorf erzählt,
Auch einen Sohn jenseits des Meeres,
Der drüben blieb und sich vermählt.

Der hat es ihr schon längst geschrieben,
Daß tot der Sohn der Alten sei;
Jedoch der armen Frau zuliebe
Bewahrt sie das Geheimnis treu.

Und wenn sie Sonntags in der Kirche
Die Alte fragt: »Nun kehrt er bald?«
Spricht lächelnd sie: »Geb's Gott«, die Tränen
Im Aug' rückdrängend mit Gewalt.

Im Zorne war er einst geschieden
Fort übers Meer zum fernen West,
Doch sie kann sterben nicht in Frieden,
Eh' sie ihr Kind ans Herz gepreßt.

Siech ist ihr Leib, grau sind die Haare,
Und ihre Hände zittern schon,
Doch spinnt und darbt sie, daß sie spare,
Wenn heim er kehrt, für ihren Sohn.

O Mutterliebe! Quell der Schmerzen,
Von Gottes ew'gem Angesicht
Abglanz im sünd'gen Menschenherzen,
Du harrst, du hoffst und zweifelst nicht!

Laß trostreich deine Leuchte blinken,
In dunkler Nacht den hellsten Stern,
Der Tag, wo du den Sohn wirst finden,
Harr' aus und hoff', ist nicht mehr fern!

Günther Walling.


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