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Eine russische Rekrutierung.

Zu Anfang des Monats November bemerkte ich beim Passieren der Stadt Tula an der Thüre des Gemeindehauses jene mir so wohlbekannte Menge, in deren Lärm sich die Weinstimmen der Männer und die Klagerufe der Mütter und Frauen mengten. Es gab dort Rekrutierung. Ich bin niemals im Stande, an diesem Schauspiel vorüberzugehen, ohne mich aufzuhalten; es zieht mich unwiderstehlich gegen meinen Willen an. Ich gesellte mich der Menge zu, schauend, fragend, und ich war erstaunt über die Freiheit, mit welcher man dieses große Verbrechen am helllichten Tage und inmitten einer Stadt begeht.

Wie alljährlich am 1. November in allen Marktflecken und allen Dörfern dieses Rußlands mit seinen hundert Millionen Einwohnern, haben die Starosten die auf den Listen verzeichneten Männer versammelt – häufig ihre eigenen Söhne – um sie in die Stadt zu bringen. Unterwegs trank man, ohne daß die Älteren die Rekruten daran gehindert hätten; wäre es doch zu grausam, wenn man sich zu einem solchen Unsinn hergeben, Weib, Mutter und alles, was man liebt, verlassen müßte – bloß um ein passives Zerstörungswerkzeug zu werden – ohne sich vorher durch den Wein zu betäuben.

Da gleiten sie nun in den Schlitten dahin, fluchend, singend, gegen einander kollernd und die Nacht in den Schenken verbringend. Des Morgens haben sie sich neuerdings mit ungezählten Gläsern Mut zugetrunken und sich dann vor dem Gemeindehaus versammelt.

Sie stehen da in ihre ganz neuen Schlafpelze gehüllt, gestrickte Tücher um den Hals, die Augen von Trunkenheit aufgedunsen; die einen wilde Schreie ausstoßend, um sich anzuregen, die andern still und traurig; sie drängen sich zur Thüre, ihre Reihe abwartend, umringt von den Müttern und Frauen, die die Augen voll Tränen haben. Andere drängen sich in der Vorhalle des Rekrutierungs-Bureaus zusammen.

Im Innern ging während dieser Zeit die Arbeit rasch von statten. Man öffnet nun die Thüre und der Wächter ruft Peter Sidorow. Dieser schreckt zusammen, bekreuzigt sich und tritt in einen kleinen Raum mit einer Glasthüre, wo sich die Dienstpflichtigen entkleiden. Ein Kamerad Peter Sidorows, welcher tauglich befunden wurde und zähneklappernd aus dem Kommissionssaale herauskam, kleidete sich hastig an. Sidorow hat es gehört und sieht übrigens an dem Gesicht seines Genossen, daß er für tauglich erklärt wurde. Er will ihn ausfragen, aber man drängt ihn weiter und befiehlt ihm, sich ohne Verzug auszuziehen. Er legt seinen Schafspelz ab, seine Schuhe, indem er den einen mit Hilfe des andern abstreift, dann seine Weste; jetzt zieht er das Hemd über den Kopf, und mit hervorstehenden Rippen, ganz nackt, am ganzen Körper zitternd, betritt er den Saal, einen Geruch von Wein, Tabak und Schweiß ausströmend und nicht wissend, was mit seinen muskulösen Armen beginnen.

Im Saal, an ersichtlicher Stelle, hängt in vergoldetem Rahmen das Bild des Kaisers in voller Parade, den großen Orden am Hals; und in einer kleinen Ecke das Heiligenbild, den dornengekrönten Christus im Hemd darstellend. Inmitten des Raumes steht ein mit grünem Tuch bedeckter Tisch, auf dem sich verschiedene Papiere und ein dreieckiger, von einem Adler überragter Gegenstand, genannt der Spiegel der Gerechtigkeit, befinden.

Rings um den Tisch sitzen die Mitglieder der Kommission mit behäbiger und ruhiger Miene. Einer von ihnen raucht eine Zigarette, ein anderer blättert in einem Aktenstoß.

Sobald Sidorow eingetreten ist, naht sich ihm der Wächter, stellt ihn unter das Maß, ihm roh das Kinn emporstoßend und die Füße zurechtsetzend. Der Herr mit der Zigarette nähert sich – es ist der Arzt – und ohne ihm ins Gesicht zu sehen, befühlt er mit Widerwillen den Körper des Rekruten, mißt, auskultiert ihn, läßt ihm den Mund durch den Wächter öffnen, heißt ihn atmen, sprechen. Jemand schreibt irgend etwas nieder. Endlich, ohne ihn ein einziges Mal ordentlich angesehen zu haben, sagt er: »Gut! Der Folgende!« Und mit ermüdeter Miene setzt er sich wieder.

Neuerdings drängt der Soldat den jungen Mann weiter. Dieser wirft rasch sein Hemd über, so gut es eben geht, in der Hast die Öffnung der Ärmel nicht findend, schlüpft in seine Hose, zieht seine Stiefel an, sucht sein Halstuch und seine Mütze, nimmt den Pelz unter den Arm und man führt ihn in den Rekrutierungssaal zurück, wo man ihn durch eine Bank von den anderen trennt. Hier waren die diensttauglich befundenen. Ein Bursche, Bauer wie er, aber aus einer entfernten Provinz, bereits Soldat, mit einem Gewehr, an dessen Spitze das Bajonett ragt, überwacht ihn, bereit, ihn zu durchbohren, falls der Einfall ihm käme, zu fliehen.

*

Mittlerweile schiebt sich die Menge der Väter, Mütter und Frauen, von Polizisten getrieben, zur Thür, ängstlich, zu erfahren, wer gut befunden und wer freigesprochen wurde. Da tritt ein Befreiter mit der Mitteilung heraus, daß Peter behalten wird, und gleichzeitig hört man einen Schrei der jungen Frau Peters, für welche dieses Wort »behalten« eine Trennung von vier oder fünf Jahren bedeutet.

In diesem Augenblick erscheint in einem Wagen ein Mann mit langen Haaren, in ein Gewand gehüllt, das ihn von den anderen unterscheidet; er nähert sich der Thür des Gemeindehauses und der Wächter bahnt ihm einen Weg durch die Menge. Es ist der »Vater«, welcher gekommen ist, um den Eid abzunehmen. Und dieser »Vater« also, der in der Überzeugung lebt, daß er der auserwählte, ausschließliche Diener Christi sei, und der selbst nur zu häufig die ihn umgebende Lüge nicht sieht, betritt den Rekrutierungssaal, wo die Einberufenen seiner harren. An die Stelle des Gewandes wirft er etwas wie einen Brokat-Vorhang um, schiebt seine langen Haare darüber, öffnet dieses selbe Evangelium, in dem es verboten ist, zu schwören, nimmt das Kreuz, legt beides auf das Evangelienpult, und alle diese unglücklichen jungen Leute, wehrlos und getäuscht, wiederholen nach ihm die Lüge, die er in einem ruhigen, alltäglichen Ton ausspricht. Er liest und sie wiederholen: »Ich verspreche und schwöre bei dem allmächtigen Gott und vor seinem heiligen Geist ... etc ... alle diejenigen zu verteidigen (d. h. durch den Totschlag), die man mir bezeichnen wird und alles zu thun, was mir Männer, die ich nicht kenne und welche mich brauchen, befehlen werden, um meine Brüder zu unterdrücken und die Verbrechen zu begehen, durch die jene in ihrer Stellung erhalten werden.«

Alle Rekruten wiederholen blöde diese wilden Worte. Dann entfernt sich dieser sogenannte »Vater«, fest überzeugt, seine Pflicht gewissenhaft und genau erfüllt zu haben, während diese betrogenen jungen Leute versichert sind, daß diese albernen, unverständlichen Worte, welche sie eben ausgesprochen, sie für die ganze Zeit ihres Dienstes von jeder menschlichen Verpflichtung lossprechen und ihnen neue, ernster zu nehmende schaffen: die des Soldaten.

Und dieser Akt wird öffentlich begangen und niemand erhebt die Stimme, den Betrügern und Betrogenen zuzurufen: »Bedenkt! es ist die häßlichste und niederträchtigste Lüge, die nicht nur eure Körper, sondern auch eure Seelen ins Verderben stürzt!«

Aber niemand thut das. Im Gegenteil, nach vollzogener Handlung tritt der Oberst, wie um sich über die Rekruten lustig zu machen, mit feierlicher Miene in den Saal, welcher sie einschließt und ruft ihnen militärisch zu: »Guten Morgen, Jungen, ich gratuliere Euch zu Eurem Eintritt in den Dienst des Zaren!« Und die Unglücklichen stottern (jemand hat es sie bereits gelehrt) mit ihrer ungewandten Zunge und noch erschöpft von den Excessen des vorhergehenden Tages, einige Worte, welche ihre Zufriedenheit auszudrücken scheinen.

Die Menge der Verwandten wartet noch immer an der Thüre. Die Frauen, die Augen von Thränen gerötet, haben den Blick auf die Thüre gerichtet. Sie öffnet sich endlich und die »diensttauglich Erklärten« treten schwankend und doch bemüht, guten Muts zu erscheinen, heraus. Sie vermeiden es, die Ihren anzusehen. Mit einem Male werden die Jammerrufe der Mütter und Frauen laut. Die einen werfen sich in ihre Arme und weinen, die anderen machen gute Miene zum bösen Spiel, andere wieder trösten sie. Die Mütter, die Frauen, wissend, daß sie nun verlassen Zurückbleiben würden, ohne ihre natürlichen Stützen – für drei, vier oder fünf Jahre – schreien und jammern laut. Die Väter sprechen wenig. Sie schnalzen nur traurig mit der Zunge und seufzen. Sie wissen, daß sie die Gehilfen, welche sie erzogen und herangebildet haben, nicht wiedersehen werden, daß es keine sanften und fleißigen Ackerbauer mehr sein werden, die zurückkehren, sondern dem einfachen, gesunden Leben entwöhnte liederliche, unbrauchbare Kerle.

Endlich besteigt die Menge die Schlitten und schlägt die Richtung nach den Gasthöfen und Wirtshäusern ein, und durcheinander tönen mit verdoppelter Stärke die Gesänge, das Schluchzen, die weinheiseren Schreie, das Jammern der Mütter und Frauen, die Klänge der Drehorgel und die Verwünschungen. Sie schleudern ihr Geld in den Schenken und Garküchen hin, aus welchen die Regierung eine ihrer Haupteinnahmen bezieht. Und das Fest beginnt, welches in ihnen das Bewußtsein der Ungerechtigkeit, der sie zum Opfer fallen, erstickt. Dort bleiben sie zwei oder drei Wochen und betrinken sich fast ununterbrochen.

Dann versammelt man sie am festgesetzten Tag und unterrichtet sie in den militärischen Übungen.

Die Unterrichtenden sind Menschen, gleich ihnen, mit dem einzigen Unterschied, daß sie schon vor einem, zwei oder drei Jahren betrogen und verdummt wurden. Die Mittel, sie zu belehren, sind die Lüge, die Verblödung und der Branntwein. Und es vergeht nicht ein Jahr, so werden diese jungen, an Leib und Seele gesunden Leute, die vormals vernünftig und gut waren, ebenso verwilderte Geschöpfe wie ihre Lehrer.

»Wohlan, setzen wir den Fall, Dein Vater wollte fliehen; was thätest Du?« fragte ich einen der jungen Soldaten.

»Ich würde ihn mit meinem Bajonnet durchbohren«, antwortete er mit dieser blöden, den Soldaten eigenen Stimme, – »und wenn er sich entfernte, müßte ich auf ihn feuern«, fügte er hinzu, sichtlich stolz, zu wissen, was er thun müßte, wenn sein Vater fort wollte.

Ist dann der brave Bursche tiefer als eine Bestie gesunken, dann ist er das geworden, was er für jene sein muß, die ihn als Werkzeug der Gewaltthätigkeit benützen. Er ist fertig: der Mensch ist verloren und ein neues Werkzeug der Gewaltthätigkeit geschmiedet. Und all das geht jeden Herbst vor sich, in ganz Rußland, bei helllichtem Tag, inmitten der Stadt, bei vollem Wissen und Sehen aller, und der Betrug ist so geschickt gemacht, daß, obwohl jedermann ihn fürchtet, niemand sich davon befreien kann.

Leo Tolstoi.

 

Berichtigungen eingearbeitet. joe_ebc


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