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Europa, das bislang vergletschert,
Ist aus dem Winterschlaf erwacht,
Der Forschungstrieb ersteht aufs neue
Und wird zu vollem Glanz gebracht.
Man baut die prächtigsten Museen
Und stellt dort alle Funde auf,
Die von der Vorzeit Kunde geben
Und der Kultur Entwicklungslauf.
Gelehrte schreiben dicke Bücher
Und streiten sich wie heute auch,
Um Wert und Schönheit der Antike
Und ihrer Werke Nutzgebrauch.
Es werden über Vas' und Ciste
Viel Hypothesen aufgestellt,
Und an der Hand der Kunstgeschichte
Ihr dunkler Inhalt aufgehellt.
Da findet man, in Schutt begraben,
Ein rätselhaftes Instrument,
Das man als klassisch sehr bewundert,
Doch dess' Bestimmung niemand kennt.
Nachdem der Rost und Schmutz beseitigt,
Zeigt glänzend sich ein dickes Rohr,
Geschlossen an der Hinterpforte,
Weitoffen nur am Ausgangsthor:
»Was konnt' das schwere Ding bedeuten?
Ward es verwendet zur Musik?
War's eine Riesen-Orgelpfeife,
Ein prähistorisch' Flötenstück?
»War es ein Trinkhorn für Giganten?
Aus dem sie schöpften ihre Kraft,
Wenn sie's mit einem Zuge leerten,
Zum Rand gefüllt mit Gerstensaft?
»Dient' einstens es zu Kultuszwecken?
War es ein mystisches Symbol?
Vielleicht sogar in finstern Zeiten
Der damals Gläubigen Idol?« –
Es schwankt der Professoren Meinung,
Man zieht die Frage hin und her,
Versucht verschied'ne Disziplinen –
Umsonst, die Lösung ist zu schwer.
Da, endlich, wird ein Stein entziffert,
Auf dem die Antwort deutlich stand;
Und durch den Inhalt wird's begreiflich,
Daß niemand sie von selber fand:
Man braucht' das Rohr zum Massenmorde,
Der euphemistisch hieß »Der Krieg«,
Und opferte nach alter Sitte
Die Hunderttausende dem Sieg.
Und weil der Totschlag gut kanonisch,
(Das Mittel heiligte der Zweck),
So taufte man das Ding »Kanone«
Und blies damit die Gegner weg.
Rudolf Graf Hoyos.