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Kai Vastrup spähte angestrengt in den finsteren Schlund von Peddersens Gasse. Die wenigen Laternen, die den schüchternen Versuch unternahmen, etwas Helligkeit zu spenden, hatten keinen nennenswerten Erfolg mit ihren Bemühungen. Seufzend wandte sich der junge Mann ab, da er doch nichts zu sehen vermochte, und nahm seine Wanderung wieder auf: vom linken Gebäudeflügel bis zum rechten und dann wieder zurück.
Endlich, als es von einer nahen Turmuhr zehn schlug, wurde sein geduldiges Warten belohnt. Von links kamen eilige Schritte, und bald darauf fiel das Licht einer Laterne auf das junge Mädchen.
»Fräulein Estrid!« rief er halblaut.
Sie stieß einen leisen Schrei aus und blieb unwillkürlich stehen. Als sie ihn erkannte, kam sie näher. In ihren Augen stand unverkennbar ein Ausdruck von Furcht, als sie zu ihm aufsah.
»Zufällig sah ich Sie heute abend«, gestand er strahlend. »Ich hatte wirklich nicht gehofft, Sie so rasch wiedersehen zu können. Ich freue mich ja so«, setzte er hinzu, als er zu seinem Befremden bemerkte, daß der seltsame Ausdruck aus ihrem Gesicht nicht weichen wollte. Er betrachtete sie genauer.
»Sie sind so merkwürdig heute abend?« forschte er.
»Ach wo«, entgegnete sie gleichmütig und wich seinem Blicke aus. »Das bilden Sie sich nur ein.«
»Sind Sie krank?« fragte er besorgt weiter. »Oder sind Sie von der neuen Stelle bei Skoernings enttäuscht?«
»O, nein«, erwiderte sie hastig, viel zu hastig, dünkte ihn. »Ich habe mir für heute abend von Frau Skoerning frei geben lassen, da ich mir noch einige Sachen, die ich notwendig gebrauche, holen wollte. Aber ich muß jetzt fort; denn Frau Skoerning sieht es nicht gern, wenn die Mädchen so spät nach Hause kommen. Gute Nacht, Herr Vastrup.«
Eilig wollte sie an ihm vorbei, aber er verstellte ihr kurz entschlossen den Weg.
»Sie sind so abweisend, Fräulein Estrid«, sagte er heiser. »Ich verstehe Sie gar nicht. Oder haben Sie mit einem Male etwas gegen mich?«
»Nein, nein«, rief sie so verzweifelt, daß er sie fassungslos anstarrte.
Sie versuchte, an ihm vorbeizuschlüpfen, aber er hielt sie am Arm fest und stammelte:
»Wenigstens bringe ich Sie bis zur Haltestelle, Fräulein Estrid.«
Dieses Mal widersprach sie nicht. Doch er spürte förmlich, wie sie nach einer Ausflucht suchte.
Plötzlich ertönte ein schauerlicher Gesang aus Peddersens Gasse. Kai wandte sich um und erblickte die unbestimmten Umrisse einer riesigen menschlichen Gestalt, die haltlos umherwankte, bis sie wieder im Dunkeln verschwand.
»Mein Gott, was ist denn das?« rief er verwundert.
Estrid Sörensen schauerte zusammen und drängte sich unwillkürlich näher an ihn heran. »Der schreckliche Neger ist plötzlich wieder da«, flüsterte sie. »Sie wissen doch – der davonlief und sich verborgen hielt, als man ihn auf einen Amerikadampfer bringen wollte, um ihn loszuwerden.«
»Ja, ich entsinne mich. Er scheint sinnlos betrunken zu sein.«
»Ich habe solche Angst vor diesem Menschen! Er sieht so gewalttätig aus.«
»Man muß die Polizei verständigen«, tröstete er sie, »und das am besten sofort, damit er gleich festgenommen wird. Ich werde das erledigen, sobald ich Sie sicher in Ihrer Bahn weiß. Wo ist denn der Mensch eigentlich hergekommen?«
»Das weiß niemand so recht«, antwortete Fräulein Sörensen. »Vater meint, er wäre wohl Heizer an Bord eines amerikanischen oder englischen Dampfers gewesen und von dort desertiert. Er lebte davon, daß er hier und da Gelegenheitsarbeiten verrichtete.
Aber eines Tages fing er das Stehlen an, und da wollte man ihn gerne los sein. Zuerst hatte er den Arbeitern vom Südfruchtlager nur das Frühstück aus den Taschen genommen; aber eines Tages gelang es ihm, sich in das Büro einzuschleichen, wo er sich aus einer unverschlossenen Geldkassette Zweihundert Kronen aneignete.
Am Abend war er wieder schrecklich betrunken; die Polizei nahm ihn fest, und er bekam drei Monate Gefängnis. Als er die abgesessen hatte, sollte er per Schub außer Landes gebracht werden.
Später entdeckte Vater einen fensterlosen Kellerraum, den er selten zu betreten pflegte. In diesem Kellerraum hatte sich der Neger gemütlich eingerichtet; dort hatte er des nachts geschlafen und seinen Raub, wenn er irgendwo etwas hatte stehlen können, in Sicherheit gebracht.
Ein paar Wochen lang blieb er spurlos verschwunden, so sehr die Polizei auch nach ihm suchte. Selbst in seinem Versteck ließ er sich nicht sehen. Die Polizeibeamten, die ihm Tag und Nacht auflauerten, gaben es schließlich enttäuscht auf. Und nun ist er plötzlich wieder da, und kein Mensch weiß, wo er hergekommen ist.«
»Weiß denn Ihr Vater, daß er wieder da ist?« fragte Kai Vastrup.
Estrid Sörensen schüttelte den Kopf. »Vater hat sicher noch keine Ahnung. Sonst hätte er wohl was gesagt. Aber ich wäre eben fast über den Neger gefallen, als ich die Treppe herunterkam. Er lag unten im Hauseingang und schnarchte. Das ganze Treppenhaus riecht fürchterlich nach Branntwein.«
»Wenn Sie in der nächsten Woche wiederkommen, werden Sie vor dem Schwarzen keine Angst mehr zu haben brauchen«, versprach Kai und drückte ihr die Hand.
An der Haltestelle wehte ein kalter Wind. Das Wartehäuschen war leer. Das trübe, flackernde Licht einer einsamen Laterne spiegelte sich in den zahlreichen Pfützen der Straße.
»Wann werde ich Sie wiedersehen?« fragte Kai bittend, als sie im Wartehäuschen vor dem Wind Schutz gefunden hatten. Er drückte sie zaghaft an sich. Sie aber löste sich aus seinem Arm, den er über ihre Schultern gelegt hatte.
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie unsicher. »Ich werde vorderhand wohl kaum Gelegenheit haben, nach Hause zu kommen.« Das Befremdende, Unerklärliche in ihrem Wesen war wieder da. Er erschrak und wußte nicht, was er auf ihre Worte entgegnen sollte.
»Aber Sie haben doch immer einen freien Tag«, stammelte er schließlich. Er sah in dem schwachen Licht nicht, wie sich ihre Augen langsam mit Tränen füllten. Er hörte nur ihre Stimme, die so ungewohnt fremd klang, als sie sagte:
»Quälen Sie mich nicht, Herr Vastrup – es geht wirklich nicht. – Ich kann nicht. – Es darf nicht sein. – – Mein Vater – – –.«
»Ihr Vater kann doch unmöglich etwas dagegen haben, wenn ich mich Ihnen in der ehrbarsten Weise nähere«, rief er zornig. Als sie schwieg, fuhr er mit verhaltener Stimme, in der eine innere Erregung schwang, fort:
»Ich verstehe Sie einfach nicht mehr, Fräulein Estrid? Habe ich nicht Ihr Wort? Sie wissen doch, daß ich Sie zur Frau haben möchte. Unser Geschäft geht so gut, daß ich im nächsten Monat daran denken muß, ein paar Gehilfen einzustellen. Und wenn dann das Trauerjahr zu Ende ist, möchte ich, daß wir Hochzeit halten.«
Mit flehenden Augen bat sie ihn zu schweigen. Langsam schüttelte sie den Kopf. »Es kann nicht sein, Kai. Bitte, bitte, quälen Sie mich nicht länger!«
»Warum nicht?« fragte er zornig.
Sie wandte das Gesicht ab und schwieg. Aber da merkte er plötzlich, wie ihre Schultern zuckten. Zärtlich beugte er sich zu ihr herab und umschlang sie von neuem.
»Sie müssen mir jetzt sagen, was Sie bedrückt, Estrid«, bat er. Stumm schüttelte sie den Kopf.
»Habe ich nicht ein Recht, zu fragen, was Ihr plötzlich verändertes Verhalten zu bedeuten hat?« rief er.
»Bitte fragen Sie nicht! Ich kann Ihnen nichts sagen.« Mit angsterfüllten Augen blickte sie der Straßenbahn entgegen, die auf die Haltestelle zukam. Die Bremsen knirschten. Eine alte Frau mit einem riesigen Korb in der Rechten stieg aus.
»Leben Sie wohl, Kai!« sagte sie mit zitternden Lippen und reichte ihm ihre kleine, weiche Hand.
»Nein!« sagte er entschlossen. »So lasse ich Sie nicht weg.« Sie machte den Versuch zu entfliehen, aber er packte sie mit rauhem Griff an den Schultern.
Der Wagen fuhr bereits wieder an. Der Schaffner stand in dem viereckigen Rahmen des hellerleuchteten Einstiegs und blickte verwundert auf das Paar hinunter.
Estrids Lippen zuckten, und ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen.
»Ich kann Ihre Frau nicht werden, Kai. Sie müssen den Gedanken aufgeben. Es gibt ja so viele hübschere und bessere Mädchen in Kopenhagen, als ich es bin.«
Er zwang sich, ganz ruhig zu bleiben. »Nein«, sagte er mit fester Stimme. »Ich denke gar nicht daran, diesen Gedanken aufzugeben. Und ich will jetzt wissen, was geschehen ist«, beharrte er störrisch. Wie um Gnade flehend, schaute sie mit bebenden Lippen zu ihm auf.
»Bitte, quälen Sie mich nicht länger!« bat sie. »Ich kann es Ihnen nicht sagen. – Nicht heute. –« Sie zögerte einen Augenblick, ehe sie fortfuhr: »Vielleicht macht die Zeit doch alles wieder gut. Vielleicht aber ist der Tag nicht fern, an dem Sie sagen werden: wie gut, daß alles so gekommen ist! Sie werden dann vielleicht dankbar an mich zurückdenken und anerkennen, daß ich nicht schlecht gewesen bin.«
»Sie wissen ja gar nicht, was Sie reden«, stöhnte er. »Irgend jemand muß Sie aufgehetzt haben. – Er schwieg plötzlich und starrte sie an. »Oder ist ein anderer da, um dessentwillen ich gehen muß?« fragte er ängstlich gespannt.
Zu seiner Erleichterung schüttelte sie den Kopf.
»Dann dürfen Sie aber auch nicht so reden, Fräulein Estrid. Und wenn wirklich etwas Schicksalhaftes zwischen uns getreten sein sollte, so müssen Sie mir zum wenigsten versprechen, noch zu warten, ehe Sie eine so bedeutsame Entscheidung treffen. Sie sind ja über die Maßen erregt. Ich spüre förmlich, wie Sie zittern. In solchen Augenblicken trifft man keine weittragenden Entscheidungen, die man hinterher sein Leben lang bereut! Bitte, versprechen Sie mir wenigstens, noch zu warten, ehe Sie den Entschluß fassen, sich endgültig von mir zu lösen.«
»Ja«, würgte sie leise hervor. »Aber«, fügte sie hastig hinzu, wie wenn eine innere Angst sie triebe, »die Entscheidung liegt ja nicht bei mir. Auch ich bin nur ein Opfer, Kai.«
Plötzlich entwand sie sich seinem Griff, und ehe er es sich versah, floh sie schon davon. Er sah sie über die Straße rennen. Nachdem sie den Lichtkreis der nächstliegenden Laterne passiert hatte, verschwand sie im Dunkeln. Fassungslos starrte er ihr nach.
»Estrid! Estrid!« schrie er in die stille Nacht hinaus. Er lief ein paar Schritte vorwärts, dann blieb er stehen.
»Lebe wohl, Kai!« hörte er sie rufen.
»Estrid! Estrid!« rief er nochmals und ballte unwillkürlich die Fäuste vor Zorn. Aber jetzt kam keine Antwort mehr. In der Ferne hupte ein Auto. Die Gaslaternen in der stillen Straße zischten leise und flackerten, wenn der Wind in das Gehäuse hineinblies. – – –
Es schlug gerade elf Uhr, als Kai endlich einsah, daß ein weiteres Suchen sinnlos war. Er hatte ja keine Ahnung, wohin Estrid gelaufen sein mochte. Möglicherweise hatte sie an der nächsten Haltestelle eine andere Straßenbahn bestiegen und war nach Charlottenlund gefahren.
Mit einem dumpfen Gefühl der Benommenheit im Kopfe irrte er noch eine Zeitlang ziellos umher. Tausend Gedanken, die alle mit feinen Nadelspitzen ausgerüstet zu sein schienen, peinigten sein Gehirn. Er überlegte hin und her, was Estrid wohl zu ihrem sonderbaren Benehmen veranlaßt haben mochte, aber er kam zu keinem Ergebnis.
Plötzlich machte er die Entdeckung, daß er wieder vor Peddersens Gasse angelangt war.
Da fiel ihm der Neger ein, von dem Estrid ihm erzählt hatte. Er erinnerte sich dunkel, daß er die riesige Gestalt gesehen hatte, wie sie sich auf die Keller zu bewegt hatte. Natürlich mußte er dafür sorgen, daß sich die Polizei des Burschen gleich annahm.
Er ging ein Stück in Peddersens Gasse hinein und merkte sogleich, daß in dem Mittelgang des Kellers von Block B das Licht brannte. Als er die Treppe hinunterging, stieg ihm der widerliche Geruch billigen Branntweins in die Nase. Angeekelt schüttelte er sich. Dann trat er in den erleuchteten Mittelgang, wo er wie erstarrt stehen blieb.
Auf dem Zementfußboden gewahrte er einen großen dunklen Tropfen. Dann noch einen und ein wenig weiter gleich mehrere. Kein Zweifel: es war Blut!
Kai Vastrup erschrak.
Er folgte der Spur, die immer zahlreicher werdende Tropfen gebildet hatte. Sie führte ihn schließlich nach der eisernen Tür, die unverschlossen war. Er wunderte sich schon gar nicht mehr, daß auch hier das Licht brannte.
Die Blutspur lief den hinteren Gang entlang, führte in einen Quergang und verschwand schließlich hinter einer hölzernen Kellertür, die nur angelehnt war. Eine Weile blieb Kai stehen und lauschte.
Es war ganz still um ihn her; nirgends war auch nur das geringste Geräusch zu hören. Sein Herz schlug zum Zerspringen. Auf Zehenspitzen ging er endlich weiter und stieß die Holztür um einen Spalt weiter auf. Vorsichtig spähte er um die Ecke.
Vor ihm, auf dem Fußboden des Kellerraumes, lag der Neger regungslos in einer mächtigen Blutlache.