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I.

Hausmeister Sörensen erhob sich langsam von seinem Lager, während er einen forschenden Blick auf die ruhig schlafende Gestalt im zweiten Bette warf.

Eine warme, stickige Luft herrschte in dem engen Schlafraum; ein Brodem, der von menschlichen Ausdünstungen und den ewig feuchten Kalkwänden herrührte, machte das Atmen schwer. Aber die Sörensens spürten es schon gar nicht mehr. Sie waren es gewohnt und waren fest überzeugt davon, daß das Wohnen in einer feuchten Wohnung nun einmal ihr Schicksal sei.

Sörensen setzte sich auf den Bettrand und ließ die Beine, die in wollenen Unterhosen steckten, unschlüssig herunterbaumeln. Das Entsetzen, welches das Traumbild bei ihm hervorgerufen hatte, stand immer noch in seinem grauen, spitzen Gesicht. Er stieß einen halb unterdrückten Seufzer aus und fuhr sich mit einer verzweifelten Geste durch das ungekämmte Haar, das grotesk von seinem Schädel abstand. Dann erhob er sich und schlüpfte mit den nackten Füßen in die Pantoffeln, die auf dem abgetretenen Bettvorleger standen.

Die Atemzüge der schlafenden Frau gingen rasselnd und unregelmäßig. Sie lag mit zur Seite geneigtem Kopf da; ihre Züge waren gespannt mit einem Ausdruck voller Unruhe. Auch sie schien schlecht zu träumen.

Der Schein einer Laterne, die vor dem Hause stand, hellte den Raum ein wenig auf; er drang durch die vorgezogenen Gardinen und zauberte eine seltsame, fast geisterhafte Blässe auf das Gesicht der Schlafenden.

Eine Weile betrachtete Sörensen seine Frau sinnend, dann griff er mit einer jähen Hast nach seiner Hose, die auf einem Stuhl lag, und schlüpfte hinein. An der Tür nahm er einen alten schwarzen Mantel vom Haken und zog ihn sich fröstelnd über die Schultern. Noch einmal warf er einen forschenden Blick auf das Bett, in dem seine Frau schlief und trat dann, so wenig Geräusch wie nur möglich machend, auf den Flur hinaus.

Zähneklappernd zündete er die alte, verrußte Petroleumlampe an, die auf einer alten Truhe im Flur stand, zog fröstelnd den Mantel über der Brust zusammen und riegelte vorsichtig die Wohnungstür auf.

In diesem Augenblick öffnete sich im Hintergrunde des langen Flurs eine zweite Tür, und ein junges, etwa achtzehn Jahre altes Mädchen trat im Nachtgewande heraus. In der Rechten trug es einen Leuchter, den es hoch über den Kopf hielt.

»Vater?« rief das junge Mädchen mit halblauter Stimme. Sörensen warf zusammenschreckend den Kopf herum.

»Was willst du, Estrid?« fuhr er seine Tochter mit gedämpfter Stimme an. Der Schreck über ihr plötzliches Erscheinen saß ihm noch in allen Gliedern.

»Ich wachte auf, als die Tür ging«, sagte Estrid stockend. »Ich dachte – –« Instinktiv schwieg sie, um nicht den Zorn ihres Vaters noch weiter zu reizen.

»Geh schlafen!« murmelte er mit abgekehrtem Gesicht. »Es ist mir eben eingefallen, daß ich unten eine Tür zu schließen vergessen habe. Das läßt mir keine Ruhe. Du kennst mich ja.«

Unschlüssig blieb er stehen, hielt die geöffnete Tür in der Hand und schaute verdrießlich nach dem Mädchen hin.

»Geh' ins Bett! Du erkältest dich sonst.«

Estrid Sörensen gehorchte und zog die Tür ihres Zimmers hinter sich zu. In ihrem Zimmer blieb sie eine Weile stehen und lauschte angstvoll in die Stille der Nacht hinaus. Sie hätte gar zu gern gewußt, was ihr Vater so spät noch vorhatte, aber die Furcht vor seinem Zorn bannte sie in den kleinen Raum, der so schmal war, daß er nur eine Bettstelle und einen winzigen, wurmstichigen Nachttisch faßte. Das einflüglige Fenster war zur Hälfte geöffnet; es quietschte wimmernd in seinen Angeln, wenn der Nachtwind gegen den Rahmen drückte.

Eine ganze Weile hatte sie schon lauschend gestanden, als sie endlich die Tür, die unten auf den Hof führte, mit größter Vorsicht öffnen hörte. Rasch löschte sie die Kerze, zwängte den lockigen Blondkopf zwischen Fenster und Rahmen hindurch und spähte angestrengt in den dunklen Schacht des schmalen Hofes hinunter.

Sie vermochte nichts zu sehen, aber sie vernahm deutlich die schlürfenden Schritte ihres Vaters. Jetzt blieb er stehen. Sie hörte das Klappern der Schlüssel und das Quietschen des ungeölten Schlosses, als der Schlüssel darin herumgedreht wurde. Dann war alles still. Eine Katze begann ihren traurig-schaurigen Nachtgesang, der bald in ein wütendes Kreischen und Fauchen überging. Wieder wurde es still. Der einzige Laut, der noch zu hören war, kam von der Küche her, wo es vom Wasserhahn eintönig ins Becken tropfte.

Der schmale Schlund, in den Estrid hinunterblickte, war eigentlich kein Hof, sondern eher eine schmale Gasse, die hufeisenförmig um einen viereckigen Hausblock herumlief und nach dem Erbauer dieses – weniger unter dem Gesichtspunkt des Schönen, als dem des Praktischen gebauten – Gebäudekomplexes kurzweg »Peddersens Gasse« genannt wurde.

An der Vorderseite sowohl des Hauptgebäudes, als auch der zu beiden Seiten sich rechtwinklig anschließenden Nebengebäude befanden sich im Erdgeschoß allerlei Kramläden, die sich mit ihren Waren den Bedürfnissen der in der Umgebung wohnenden kleinen Leute und Arbeiter angepaßt hatten. Darüber bis unter das Dach hinauf lagen kleine, feuchte Wohnungen. Diese sogenannten »Vorderwohnungen« waren kaum besser als die Hinterwohnungen, die sich über den Kleinbetrieben in Peddersens Gasse befanden. Sie waren nur teurer.

Alle Wohnungen waren dunkel, eng und sonnenlos, was daher kam, daß der gesamte Baukomplex von hohen grauen Fabrikbauten eingeschlossen wurde. Die Wände und Mauern waren mit schwärzlichem, unansehnlichen, regenverwaschenen Mörtel bedeckt, so daß höchstens einige kärglich blühende Topfblumen hinter den Fenstern der kleinen Wohnungen etwas Freundliches in das graue Einerlei der Umgebung brachten.

In den Kellern und Erdgeschossen der Häuser von »Peddersens Gasse« befanden sich in der Hauptsache Lagerräume und kleine Fabrikbetriebe. Irgendwo mußten Südfrüchte lagern, denn ein süßer Duft von Orangen schwebte immerfort über einer gewissen Ecke des Hofes.

Da gab es weiter eine kleine Druckerei, wo kleine bleiche Arbeiterinnen hinter halbblinden Scheiben die weißen Papierbögen in die Presse legten. In einer Schlosserwerkstätte hörte man den ganzen Tag das Klingen der Hämmer auf den Ambossen und das Stampfen der Werkzeugmaschinen. Schließlich befand sich irgendwo noch eine »Gesellschaft zur Verwertung tierischer Fette«, die einen ekelerregenden Geruch von fauligem Fleisch und ranzigem Fett verbreitete.

Sörensen hatte das würfelförmige Vorderhaus, in welchem er als Hausmeister des gesamten Gebäudekomplexes eine kleine Wohnung im vierten Stock hatte, durch einen hinteren Ausgang verlassen und stand nun in dem schmalen, holprig gepflasterten Schlauch, der sich Peddersens Gasse nannte.

Seine schwach leuchtende Laterne hatte in dieser unfreundlichen, lichtlosen Aprilnacht etwas Tröstliches. Ihr Licht war wärmer, lebendiger als das kalte, im Nachtwinde flackernde Licht der beiden Gaslaternen, die die Eingänge zu Peddersens Gasse notdürftig erhellten.

Vor dem schwarzen Schlund einer mit einem eisernen Geländer versehenen Kellertreppe machte Sörensen halt und hob die Laterne in die Höhe. Das regenverschmierte und verwitterte Schild, welches er vor einigen Monaten selbst an dieser Stelle angebracht hatte, hing noch dort:

HIER SIND GUTE, TROCKENE
LAGERKELLER IN JEDER
GRÖSSE ZU VERMIETEN.
NÄHERES BEIM HAUSWART.

Der Hausmeister seufzte leise, angelte mit dem pantoffelbekleideten Fuß nach der ersten Stufe und stieg dann steifbeinig die Treppe hinunter. Das Licht in seiner trüben Laterne flackerte unstet, wenn der unfreundliche Nachtwind in die Zuglöcher hineinblies.

Sörensen drückte auf die Klinke und entdeckte, daß die Kellertür unverschlossen war. Leise über seine eigene Nachlässigkeit fluchend, stieß er die Tür vollends auf. Er hob die Laterne hoch und leuchtete in den langen, weißgetünchten Gang hinein, in dem er das polternde Geräusch fliehender Ratten zu vernehmen meinte. Dann gab er sich einen Ruck und begann, langsam den Gang hinunterzuschlürfen, ohne vorher das elektrische Licht einzuschalten.

Als er an den zweiten Quergang kam, blieb er stehen und lauschte. Ein ängstlich gespannter, ja gequälter Ausdruck kam in sein Gesicht. Er seufzte nochmals und wandte sich dann nach links.

Nach etwa zwanzig Schritten gelangte er an eine eiserne Tür, wo er die Laterne auf den Fußboden stellte. Lange suchte er in seinem gewaltigen Schlüsselbunde nach dem richtigen Schlüssel. Als er ihn endlich gefunden hatte und in das Schloß steckte, mußte er zu seinem größten Ärger feststellen, daß man es versäumt hatte, auch diese Tür ordnungsgemäß zu verschließen. Diese Nachlässigkeit kam allerdings nicht auf sein Konto, sondern auf das Konto derjenigen Leute, die einen der Kellerräume hinter dieser Tür gemietet hatten.

Nachdem er die eiserne Tür hinter sich gelassen hatte, ging er etwa zehn Schritte geradeaus und folgte dann einem Gang, der in den äußersten Teil dieses Gebäudes zu führen schien. Hier kam er an eine hölzerne Tür, die mit einem Vorhängeschloß gesichert war.

Eine ganze Zeit starrte Sörensen dieses kleine, billige Schloß wie ein Wunderding aus einer anderen Welt an, ehe er sich daran zu schaffen machte. Dann stieß er die hölzerne Tür auf und trat ein, wobei ihm der Schein seiner Laterne in grotesk auf- und abtanzenden Bewegungen folgte.

Der Raum war nur klein; kaum, daß er zwanzig Quadratmeter faßte. Schwer atmend stellte er die Laterne auf eine spinnwebüberzogene Kiste an der linken, vor Feuchtigkeit glitzernden Wand und schaute sich angstvoll um.

Diesen Keller hatte Sörensen in seinem gräßlichen Traum ganz deutlich vor sich gesehen.

Sechs schneeweiße Rosse mit wehenden Mähnen und blutroten Nüstern, erstarrt im ersten Ansatz zum formvollendeten Sprung, lehnten an den feuchten Wänden des kleinen Raumes. Fast schien es, als wollten sie geradewegs auf den nächtlichen Eindringling zu und ihn einfach über den Haufen rennen.

Der Hausmeister starrte die hölzernen Pferde an, als sähe er sie zum ersten Male. Plötzlich verzerrte sich sein Gesicht. Eine lähmende Furcht überkam ihn und schüttelte ihn so stark, daß er sich ächzend auf die alte Kiste niedersetzen mußte, auf die er seine Laterne abgestellt hatte. Wild schaute er in dem Raume umher, als erwartete er, jeden Augenblick könne irgend etwas Furchtbares passieren. Aber es geschah nichts. Alles blieb still ringsum; nur die Lampe auf der Kiste blakte leise und warf schwarze Rußflöckchen in die Luft.

Sörensens Gedanken wanderten in die Vergangenheit zurück. Er dachte an jenes kleine dürftige Männchen, das damals die hölzernen Pferde in den Keller gebracht hatte. Deutlich sah er das eingefallene Gesicht mit den vom Trunk glasigen Augen vor sich. Ja, er vermeinte sogar den scharfen Branntweingeruch zu spüren, der dem Munde des alten, ganz verkommenen Mannes entströmt war.

Sein suchender, grübelnder Blick glitt von den Holzpferden ab und sog sich an dem Zementfußboden fest. Der sah aber auch wirklich gar zu toll aus! Wer mochte ihn wohl so zugerichtet haben. – Der alte Mann, der den Keller gemietet hatte? – Ja! Wer wohl sonst? – Aber konnte es nicht sein, daß er von selber zersprungen war? – Vielleicht hatte er Frost bekommen, und dann hatten die Ratten das Übrige getan.

Sörensen dachte wieder an seinen Traum und begann zu frösteln. Es war kalt in dem muffig feuchten Keller. Langsam erhob er sich und rieb nachdenklich die Handflächen aneinander.

»Werde morgen mit Herrn Harian über die Geschichte reden«, murmelte er vor sich hin. »Hätte ihm übrigens schon längst sagen müssen, daß es Zeit wird, endlich einmal Rattengift auszulegen.«

Plötzlich stieß er einen lauten Schrei des Entsetzens aus und sprang zur Seite. Hatte sich nicht dort auf der Erde zwischen den Zementscherben etwas bewegt? – Wie vom Donner gerührt, stand er da und starrte auf die betreffende Stelle. Sein ausgemergelter Körper zitterte heftig – vielleicht wegen der feuchten Kellerkälte, vielleicht aber auch wegen des Entsetzens, das ihn gepackt hatte und ihm immer noch wie eine Flut eisigen Wassers über den Rücken lief.

Da! – – Zwischen Zementscherben, Lehm und schwarzer Erde lugte ein schwarzer Kopf mit zwei funkelnden Knopfaugen hervor! Die spitze Nase war in witternder Bewegung. Als Sörensen nach der Laterne griff und sie emporhob, schoß das widerliche Vieh, eine große ausgewachsene Ratte, aus dem Loch in der Erde heraus und verschwand polternd hinter den hölzernen Rössern, die tot und empfindungslos an der Wand standen.

Mit aschfahlem Gesicht, am ganzen Körper zitternd, die blutleere Stirn mit Schweißperlen bedeckt, starrte der Hausmeister ihr nach. Seine Lippen zuckten krampfhaft.

Endlich riß er sich zusammen, nahm die Laterne an sich und trat auf den Gang hinaus. Mit flatternden Händen schloß er die Tür und brachte das kleine, billige Vorhängeschloß wieder an seinen Platz. Dann schlurfte er eiligst den Weg zurück, den er gekommen war.

»Morgen werde ich mit Herrn Harian reden«, murmelte er vor sich hin, als er die Kellertür verschloß. Und als er in die nachtkalte Luft hinaustrat, wiederholte er es noch einmal mit lauter Stimme, wie wenn er sich selber in seinem Entschluß hätte bestärken wollen.


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