Graf Alexej N. Tolstoi
Höllenfahrt
Graf Alexej N. Tolstoi

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XXXIX

»Schau, ein Inselchen, eine Ruine, eine Bucht. ... Wie abgrundtief, wie grün ist das Wasser in der Bucht. Schau, über der Bucht fliegen Vögel, oder sind es geflügelte Menschen? ...«

Dascha hatte die Ellenbogen auf das marmorne Fenstergesims gelegt und sah zum Fenster hinaus. Hinter den dunkeln Wäldern am Ende des Kamennoostrowskij-Prospekts war der halbe Himmel vom Abendrot ergriffen. Am Himmel geschahen Wunder. Iwan Iljitsch saß neben Dascha und sah sie an, ohne sich zu rühren, obwohl er sich nach Belieben hätte rühren können, – Dascha würde aus diesem Zimmer mit den blauen Vorhängen und dem blutroten Widerschein des Abendrots auf der weißen Wand über den gestickten Sofakissen doch nicht verschwinden.

»Mein Gott, wie traurig, wie schön,« sagte Dascha, »wie schön, daß ich bei dir bin. ... Es ist, als schwebten wir in einem Luftballon. ...«

Iwan Iljitsch nickte mit dem Kopf.

»Ich sehne mich so sehr nach Musik,« sagte sie. »So lange habe ich nicht mehr gespielt, so lange der Krieg dauert. ... Bedenke, es ist ja noch immer Krieg. ... Wir aber...«

Iwan Iljitsch machte eine Bewegung. Sie fuhr gleich wieder fort: »Wenn der Krieg zu Ende ist, wollen wir ernsthaft Musik treiben. ... Dann noch eines, Iwan: ich möchte so gern eine Zeitlang am Meere leben ... Erinnerst du dich noch, wie wir beide am Strande lagen und das Meer den Sand beleckte. Erinnerst du dich noch, wie das Meer war: von einem verblichenen Blau. ... Es kommt mir vor, Iwan, als hätte ich dich mein ganzes Leben lang geliebt.« Iwan Iljitsch machte wieder eine Bewegung und wollte etwas sagen, aber Dascha besann sich noch rechtzeitig: – »Der Teekessel kocht über!« Sie lief aus dem Zimmer, blieb aber in der Türe stehen und wandte sich zu ihm um. ... Iwan Iljitsch sah im Halbdunkel nur ihr Gesicht, ihre Hand, die die Portiere hielt, und den Fuß im grauen Strumpf. Dascha verschwand. Iwan Iljitsch stockte wieder der Atem. Er verschränkte die Hände im Nacken und schloß die Augen.

Dascha und Teljegin waren an diesem selben Tage um zwei Uhr nachmittags angekommen. Die ganze Nacht hatten sie im Gange des überfüllten Zuges auf ihrem Gepäck sitzen müssen. Gleich nach ihrer Ankunft begann Dascha alle Sachen auszupacken, alle Ecken zu untersuchen und den Staub zu wischen; sie war über die Wohnung entzückt und beschloß, das Eßzimmer im bisherigen Gastzimmer einzurichten, das Gastzimmer im Schlafzimmer Iwan Iljitschs, sein Schlafzimmer im Eßzimmer und einen Teil der Möbel aus dem Gastzimmer in ihr eigenes Zimmer und aus dem Zimmer Iwan Iljitschs ins Gastzimmer zu stellen. Dies alles mußte sofort gemacht werden. Man rief den Portier herauf, und dieser schob mit Iwan Iljitschs Hilfe die Schränke und Möbel von Zimmer zu Zimmer. Als man mit diesen Umstellungen fertig war, und der Portier sich unter Zurücklassung eines Geruchs von auf Fastenöl gebackenem Kuchen entfernt hatte, hieß Dascha Iwan Iljitsch alle Fenster öffnen und ging, sich zu waschen. Sie plätscherte lange herum, stellte etwas mit ihrem Gesicht und ihren Haaren an und erlaubte ihm nicht, bald ins eine, bald ins andere Zimmer zu treten, obwohl die Hauptaufgabe Iwan Iljitschs während dieses ganzen Tages war, jeden Augenblick Dascha zu begegnen und sie anzuschauen.

Als der Abend anbrach, kam Dascha endlich zur Ruhe. Iwan Iljitsch erschien gewaschen und rasiert im Gastzimmer und setzte sich neben Dascha. Zum erstenmal seit der Stunde, als Dascha und Teljegin in der Nikolai-Kirche ›auf den Hühnerfüßchen‹ Mann und Frau geworden waren, befanden sie sich allein und in Ruhe. Als fürchtete sie diese Ruhe, gab sich Dascha die größte Mühe, kein Schweigen aufkommen zu lassen. Wie sie später Iwan Iljitsch gestand, hatte sie plötzlich Angst bekommen, daß er ihr mit einer eigenen Stimme sagen würde: ›Nun, Dascha? ...‹ Iwan Iljitsch sah, daß Dascha auf der Hut war, und das stimmte ihn traurig.

Sie ging aus dem Zimmer, um nach dem Teekessel zu sehen. Iwan Iljitsch saß mit geschlossenen Augen. Er fühlte mit seiner ganzen Haut die Gegenwart Daschas und den Zauber dieser Gegenwart. Worauf er seine Gedanken auch richtete, alles verschwand für ihn als unwesentlich, und er fühlte mit neuer Schärfe, daß in seine Wohnung ein Geschöpf mit zarter Stimme, mit liebem Gesicht, ein verlegenes, schlankes, leichtes Geschöpf eingezogen war ... und daß es seine Frau sei ... Iwan Iljitsch öffnete die Augen und horchte, wie in der Küche Daschas Absätze klapperten. Plötzlich klirrte dort etwas, etwas war zerbrochen, und Dascha rief klagend: »Eine Tasse!« Iwan Iljitsch fühlte sich im gleichen Augenblick von heißer Freude durchflutet: »Wenn ich morgen früh erwache, so wird es kein gewöhnlicher Morgen sein, es wird Dascha sein!« Er erhob sich schnell von seinem Platz, um zu ihr zugehen und es ihr zu sagen, aber sie erschien selbst in der Türe.

»Ich habe eine Tasse zerschlagen ... Iwan, willst du denn wirklich Tee? ...«

»Nein ...«

Sie ging auf Iwan Iljitsch zu und legte ihm, da es im Zimmer ganz dunkel war, die Hände auf die Schultern.

»Woran hast du gedacht, als ich draußen war?« fragte sie leise.

»An dich.«

»Ich weiß ... Aber was hast du von mir gedacht?«

Dascha hielt ihr Gesicht erhoben, und es schien in der Abenddämmerung mürrisch; in Wirklichkeit lächelte es aber. Ihre Brust hob und senkte sich gleichmäßig. Es fiel Iwan Iljitsch sehr schwer, seine Gedanken zu sammeln, er runzelte ehrlich die Stirn und sagte: »Ich dachte mir, daß ich es so gar nicht zusammenreimen kann: dich und daß du meine Frau bist. Dann begriff ich es auf einmal und wollte zu dir gehen, um es dir zu sagen. Jetzt hab ich es aber wieder vergessen.«

»Ich kann aber beides wohl zusammenreimen,« sagte Dascha.

»Wie?«

»Durch Zärtlichkeit gegen dich. Es ist mir, als sei ich gegangen, immer gegangen und hätte mich plötzlich an dich geschmiegt. Dann auch durch das Vertrauen zu dir. ... Warum reimt es sich aber bei dir nicht zusammen? Glaubst du denn, daß ich an etwas denken kann, was du nicht weißt?«

»Ach so!« Iwan Iljitsch lachte freudig und sanft auf. »So einfach. ... Ich weiß ja wirklich nicht, woran du denkst.«

»Ei, ei!« sagte Dascha und ging ans Fenster. »Setz dich, und ich setze mich neben dich.« Iwan Iljitsch setzte sich in den Sessel und Dascha auf die Armlehne. »Iwan, Liebster, ich denke an nichts Geheimes, darum ist es mir so leicht zumute, wenn ich bei dir bin.«

»Als du in der Küche warst, saß ich hier,« sagte Iwan Iljitsch, »und dachte mir: in diese Wohnung ist ein wunderbares Geschöpf eingezogen. ... Ist es schlimm?«

»Ja,« antwortete Dascha nachdenklich, »es ist sehr schlimm.«

»Liebst du mich, Dascha?«

»Oh!« sie nickte von unten nach oben mit dem Kopf: »Ich liebe dich bis zur Birke.«

»Bis zu welcher Birke?«

»Weißt du es denn nicht? Am Ende des Lebens eines jeden Menschen ist ein Hügel, und darauf steht eine Trauerbirke.«

Iwan Iljitsch umfaßte Daschas Schultern. Sie ließ ihn mit Zärtlichkeit gewähren. Ihr Kuß war ebenso lang wie damals am Strande, und ihnen stockte der Atem. Dascha sagte: »Ach, Iwan!« und umschlang seinen Hals. Sie hörte, wie schwer sein Herz klopfte, und er tat ihr leid. Sie seufzte, erhob sich vom Sessel und sagte sanft und einfach: »Komm, Iwan.«

* * *

Am fünften Tage nach ihrer Ankunft erhielt Dascha einen Brief von ihrer Schwester. Katja berichtete über den Tod Nikolai Iwanowitschs: »Ich habe eine Zeit der Trauer und Verzweiflung hinter mir. Ich habe klar eingesehen, daß ich nun für alle Ewigkeit allein bin. Ach, es ist so schrecklich! ... Alle göttlichen und menschlichen Gesetze sind gestört, wenn der Mensch allein ist. Vor Verzweiflung und Gram begann meine Seele wie im Feuer zu glimmen. Ich wollte mich von dieser Qual befreien, – eine unsichtbare eisige Hand trieb mich, es zu tun. Mich rettete ein Wunder: der Blick eines Menschen ... Ach, Dascha, Dascha, wir leben viele Jahre vielleicht nur, um für einen Moment in die Augen eines Menschen, in diesen göttlichen Abgrund der Liebe zu blicken ... Wir leblosen Gespenster trinken dieses Wasser des Lebens, und unsere blinden Augen werden aufgetan, wir sehen göttliches Licht, wir hören Stimmen des Lebens. Liebe, Liebe ... Gesegnet sei der Mensch, der mich diese Worte gelehrt hat ...«

Die Nachricht vom Tode des Schwagers und Katjas Brief, der in einem Zustande von Raserei geschrieben schien, erschütterten Dascha. Sie wollte sofort nach Moskau fahren, aber schon am andern Tag kam ein zweiter Brief von Katja: sie schrieb, daß sie ihre Sachen packe, um nach Petrograd zu fahren, und bat, für sie ein nicht zu teures Zimmer zu mieten. Der Brief hatte eine Nachschrift: »Euch wird Wadim Petrowitsch Roschtschin aufsuchen und ausführlich über mich berichten. Er ist mir wie ein Bruder, wie ein Vater, wie der Freund meines Lebens.«

* * *

Dascha und Teljegin gingen die Allee entlang. Es war ein Sonntag im April. Über der durchsichtig grünen, gewölbten Laubendecke schwebten in der Kühle des noch lenzlich blauen Himmels die schwachen Fetzen einer vom Winde zerrissenen, in der Sonne schmelzenden Federwolke. Das Sonnenlicht drang wie durch Wasser in die Allee, bildete blasenförmige Schatten auf dem Sande und glitt über das weiße Kleid Daschas und über die grüne Militärbluse Teljegins. Moosbewachsene Lindenstämme und rötliche, trockene Fichtenstämme liefen ihnen entgegen, – ihre Wipfel rauschten, ihr Laub raschelte. Dascha lauschte einer Goldamsel, die in der Nähe ihre zwei Noten ertönen ließ. Sie sah Iwan Iljitsch an, – er hatte sich die Mütze vom Kopfe genommen, die Brauen gesenkt, und lächelte. Sie hatte das Gefühl der Ruhe und des Erfülltseins von der Schönheit des Tages, von der Freude darüber, daß es sich so schön atmen und so leicht gehen ließ, und daß ihre Seele sich diesem Tage und diesem neben ihr gehenden, geliebten Menschen so ganz hingab.

»Iwan!« sagte Dascha und lächelte.

Er fragte mit einem Lächeln: Was denn, Dascha?«

»Gar nichts. ... ich habe mir nur gedacht. ...«

»Was hast du dir gedacht?«

»Nein, ein ander Mal.«

»Ich weiß, was du dir gedacht hast.«

Dascha wandte sich schnell um. »Mein Ehrenwort, daß du es nicht weißt. ...«

Sie kamen zur großen Fichte. Iwan Iljitsch löste ein Stück mit weichen Harztropfen bedeckte Rinde ab, zerbrach es mit den Fingern und sah Dascha liebevoll an: »Mir scheint,« sagte er, »es gibt nur einen Segen auf der Welt, nur einen Segen für dies alles, Dascha. Nicht wahr? ...«

Dascha zitterte die Hand. »Du weißt,« flüsterte sie, »ich fühle, wie ich ganz in irgendeine noch größere Freude überfließen muß. ... So sehr liebe ich. ... Ich bin so ganz voller. ...«

Iwan Iljitsch nickte schweigend mit dem Kopf. Sie waren an eine Wiese mit hellgrünem Gras und gelben, im Winde zitternden Ranunkeln gelangt. Der Wind, der die Reste der zerrissenen Wolke über den Himmel trieb, ergriff Daschas Kleid. Sie bückte sich im Gehen einigemal, um den Rock hinunterzuzupfen, und wiederholte: »Mein Gott, mein Gott, dieser Wind!«

Sie gingen längs des hohen Schloßgitters mit den vor Alter matt gewordenen vergoldeten Speeren. In Daschas Schuh war ein Steinchen geraten. Sie blieb stehen. Iwan Iljitsch hockte sich hin, nahm den Schuh von Daschas warmem Fuß in dem weißen Strumpf und küßte ihn unterhalb des Blattes, in der Nähe der Zehen. Dascha bog das Knie, zog den Schuh wieder an, stampfte einigemal mit dem Fuß und sagte: »Ich wünsche mir ein Kind von dir, das ist es ...«

Nun hatte sie das ausgesprochen, was sie während des ganzen Spazierganges in gerade diesen Worten hatte sagen wollen. Es war ihr auf einmal heiß geworden. Sie fächelte sich mit der Hand das Gesicht und blickte durch das Gitter auf den Rasenplatz, wo zwei Männer an einem Beet gruben, das sich als schwarzes Rechteck vom zartgrünen Grase abhob. Der eine von ihnen war ein alter Mann mit einer sauberen weißen Schürze. Er drückte ohne Übereilung den Fuß auf den Spaten und warf mit Anstrengung, das Knie beugend, die blauschwarze Erde heraus. Der andere trug eine Militärbluse mit Falten im Rücken und eine breite, tief in die Augen gedrückte Tellermütze. Er arbeitete hastig, ungeschickt, richtete sich jeden Augenblick auf, holte aus der Tasche seiner schwarzen, in die Stiefelschäfte gesteckten Reithose ein Taschentuch heraus und verscheuchte damit die Fliegen von seinem Halse.

»Siehst du, das macht ihm gar nichts!« sagte eine spöttische Stimme. – Teljegin wandte sich um. Neben ihm stand ein älterer Kleinbürger in neuer Mütze und einer warmen Weste über dem gestickten Hemd. »Siehst du,« wiederholte der Kleinbürger, mit dem Kopfe auf die jenseits des Gitters Arbeitenden weisend, »er setzt den Kohl aus dem Mistbeete um ... Da hat er eine Beschäftigung ... Es ist zum Lachen ...«

Der Kleinbürger lachte, doch ohne besondere Lust. Dascha wandte sich erstaunt nach ihm um, nahm Iwan Iljitsch am Arm, und sie entfernten sich vom Gitter, während der Mann in der Militärbluse, als er das Lachen hörte, sich auf den Spaten gestützt umdrehte – er hatte ein dunkles, eingefallenes Gesicht mit Säcken unter den Augen – und mit einer Gebärde, die ganz Rußland kennt, sich mit allen Fingern der linken Hand seinen langen, rötlichen Schnurrbart strich.

Der Kleinbürger zog die Mütze und verbeugte sich mit einem schiefen Lächeln vor dem ehemaligen Kaiser. Dann schüttelte er sein langes Haar, drückte sich die Mütze tief in die Stirn und setzte, das Bärtchen erhoben, mit den neuen Stiefeln stampfend, seinen Weg fort.


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