Graf Alexej N. Tolstoi
Höllenfahrt
Graf Alexej N. Tolstoi

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XI

Doktor Dmitrij Stepanowitsch Bulawin, Daschas Vater, saß im Eßzimmer am großen, zerbeulten, dampfenden Samowar und las das »Ssamaraer Tageblatt«. Wenn seine Zigarette bis zum Mundstück hinuntergebrannt war, entnahm er seinem dick gefüllten Etui eine neue, entzündete sie am Stummel der vorhergehenden, hustete, wobei sein Gesicht blaurot wurde, und kratzte seine behaarte Brust unter dem aufgeknöpften Hemde. Das gestärkte Vorhemd und die Halsbinde lagen vor ihm auf dem Tisch. Seine lockigen, grauen Haare waren nicht gekämmt; während des Lesens trank er aus der Untertasse dünnen Tee und überschüttete die Zeitung, das Hemd und das Tischtuch mit Asche.

Als hinter der Tür ein Bett knarrte, Schritte hörbar wurden und Dascha, den weißen Morgenrock übers Hemd geworfen, noch ganz rosig und verschlafen im Eßzimmer erschien, sah Dmitrij Stepanowitsch die Tochter über den gesprungenen Kneifer mit seinen etwas spöttischen und wie bei Dascha grauen und kalten Augen an und reichte ihr die Wange zum Kuß. Dascha küßte ihn, setzte sich ihm gegenüber und zog das Brot und die Butter zu sich heran.

»Wieder dieser Wind, so langweilig!« sagte sie. Es wehte seit zwei Tagen ein heftiger, heißer Wind. Der Kalkstaub hing als Wolke über der Stadt und verdeckte die Sonne. Dichte, stechende Wolken dieses Staubes flogen stoßweise auch durch die Straßen, und man sah, wie die wenigen Passanten den Rücken kehrten und schmerzvoll das Gesicht verzogen. Der Staub drang durch alle Ritzen und Spalten, legte sich als dünne Schicht auf die Fensterbänke und knirschte in den Zähnen. Vor dem Winde klirrten die Scheiben und dröhnte das Eisendach. Dabei war es heiß und schwül, und selbst in den Zimmern roch es nach der Straße.

»Eine Epidemie von Augenkrankheiten, nicht schlecht!« bemerkte Dmitrij Stepanowitsch. Dascha erwiderte nichts und seufzte nur.

Dascha hatte sich vor zwei Wochen auf dem Dampfersteg von Teljegin verabschiedet, der sie schließlich doch bis Ssamara begleitet hatte; nun lebte sie beschäftigungslos bei ihrem Vater in dieser neuen, ihr unbekannten, leeren Wohnung, wo im Salon vom Winter her unausgepackte Bücherkisten standen, die Vorhänge noch fehlten, wo man nichts finden konnte und es so ungemütlich war wie in einer Dorfherberge.

Dascha rührte den Tee um und sah gelangweilt durchs Fenster auf die aufsteigenden grauen Staubwirbel. Es war ihr, als wären die zwei Jahre wie ein Traum vergangen; sie sei wieder zu Hause, und von allen Hoffnungen, Aufregungen und den vielen Menschen, vom lärmenden Petersburg seien nur noch diese Staubwolken geblieben.

»Man hat einen Erzherzog ermordet«, sagte Dmitrij Stepanowitsch, indem er das Zeitungsblatt umwandte.

»Was für einen?«

»Wieso, was für einen? Einen österreichischen Erzherzog in Serajewo.«

»War er jung?«

»Ich weiß es nicht. Gieß mir noch Tee ein.«

Dmitrij Stepanowitsch nahm ein kleines Stück Zucker in den Mund – er pflegte den Tee immer auf diese Weise zu trinken – und sah Dascha von der Seite an.

»Sag mir bitte: hat Jekaterina ihren Mann endgültig verlassen?« fragte er spöttisch.

»Ich hab es dir doch schon erzählt, Papa.«

»Na ja. ...«

Und er vertiefte sich wieder in seine Zeitung. Dascha trat ans Fenster. Diese Langweile! Und sie dachte an das weiße Dampfschiff zurück, vor allem an die Sonne, die alles überflutete, an den blauen Himmel, den Fluß, das saubere Deck, alles voller Sonnenlicht, Kühle und Frische. Damals schien es ihr, daß dieser strahlende Weg, der breite, sich langsam windende Fluß, zum Glücke führe: diese weite Wasserstraße mit dem Dampfschiff »Fjodor Dostojewskij« ergoß sich mit Dascha und Teljegin in das blaue, uferlose Meer von Licht und Freude.

Als das Schiff sich damals Ssamara näherte, wurde Iwan Iljitsch düster, hörte zu scherzen auf und redete wirres Zeug. Dascha dachte sich: Wir schwimmen dem Glück entgegen, – und fühlte auf sich seinen Blick, der auf sie den Eindruck machte, als hätte man einen gesunden, lustigen Menschen überfahren. Iwan Iljitsch tat ihr leid, aber was sollte sie tun, wie konnte sie ihn, auch nur für eine Weile, noch näher zu sich heranlassen? Sie sagte sich, daß dann sogleich das beginnen würde, was erst am Ende der Fahrt kommen sollte. So würden sie das Glück nicht erreichen, sondern auf halbem Wege voreilig und unklug verschwenden. Darum war sie zu Iwan Iljitsch nur so zärtlich wie eine Schwester. Er aber glaubte, er würde Dascha furchtbar beleidigen, wenn er auch nur mit einem Wort darauf anspielte, warum er schon seit drei Nächten nicht schlafen konnte; er fühlte sich in einer eigentümlichen, halb durchsichtigen Welt, wo alles Äußerliche vorbeiglitt wie ein Schatten im blauen Nebel, wo die grauen Augen Daschas drohend und unruhig leuchteten, wo nur die Düfte, das Sonnenlicht und das unaufhörliche Herzweh die einzige Wirklichkeit waren.

Iwan Iljitsch stieg in Ssamara auf ein anderes Schiff um und fuhr zurück. Und Daschas leuchtendes Meer, in das sie so ruhig segelte, war verschwunden, zerfallen und hatte sich in die Staubwolken hinter den klirrenden Fensterscheiben aufgelöst.

»Die Österreicher werden aber diesen Serben ordentlich einheizen!« sagte wieder Dmitrij Stepanowitsch. Er nahm seinen Zwicker von der Nase und warf ihn auf die Zeitung. »Nun, und was denkst du über die Slawenfrage, Kätzchen?«

»Papa, wirst du zum Essen heimkommen?« fragte Dascha, zum Tisch zurückkehrend.

»Ausgeschlossen! Ich muß aufs Land: bei den Postnikows ist Scharlach.«

»Um bei diesem Staub hinauszufahren, muß man wirklich verrückt sein.«

Dmitry Stepanowitsch befestigte ohne Übereilung das Vorhemd, knöpfte seine rohseidene Jacke zu, untersuchte alle Taschen, ob er alles bei sich habe, und kämmte sich das graue Haar mit einem zerbrochenen Kamm in die Stirne.

»Was denkst du doch über die Slawenfrage, Kätzchen?«

»Bei Gott, ich weiß es nicht, Papa. Was willst du eigentlich von mir?!«

»Ich habe darüber eine eigene Meinung, Darja Dmitrijewna!« Er hatte offenbar wenig Lust, zu den Postnikows hinauszufahren, und liebte es überhaupt, morgens beim Samowar über Politik zu sprechen. »Die Slawenfrage – hörst du mir zu? – die Slawenfrage ist der Angelpunkt der Weltpolitik. An dieser Frage werden sich viele Leute den Hals brechen. Darum ist das Ursprungsland der Slawen, das Balkangebiet, nichts anderes als der Blinddarm Europas. Du wirst mich wohl fragen, warum? Das will ich dir gerne sagen.« Er begann an seinen dicken Fingern abzuzählen. »Erstens gibt es mehr als zweihundert Millionen Slawen, und sie vermehren sich wie die Karnickel. Zweitens ist es den Slawen gelungen, einen so mächtigen Militärstaat zu schaffen wie das Russische Kaiserreich. Drittens organisieren sich die kleineren slawischen Gruppen, trotz der Assimilation, zu selbständigen Einheiten und tendieren zum sogenannten Altslawischen Bunde. Viertens, und das ist das Wichtigste, stellen die Slawen in moralischer Hinsicht einen durchaus neuen und für die europäische Zivilisation in gewissem Sinne außerordentlich gefährlichen Typus dar: den des Gottsuchers. Das Gottsuchertum – du hörst mir doch zu? – ist aber die Verneinung und Zerstörung der ganzen modernen Zivilisation. Ich suche Gott, d.h. die Wahrheit in mir selbst. Dazu muß ich frei sein, und ich zerstöre die moralischen Grundlagen, die mich erdrücken, zerstöre den Staat, der mich in Ketten hält, und ich frage: warum darf man nicht lügen? warum nicht stehlen? nicht morden? Antworte mir doch, warum! Du glaubst wohl, die Wahrheit liege im Guten allein?«

»Papachen, fahr doch zu den Postnikows!« sagte Dascha gelangweilt.

»Nein, such mal die Wahrheit dort!« Dmitrij Stepanowitsch tippte mit dem Finger, als weise er auf ein unterirdisches Verließ; plötzlich verstummte er und wandte sich zur Tür. Im Vorzimmer hatte es geklingelt.

»Dascha, geh mal hin und mach auf.«

»Ich kann nicht, ich bin nicht angezogen.«

»Matrjona!« schrie Dmitrij Stepanowitsch. »Ach, dieses verdammte Weibsbild, ich werde ihr noch einmal den Kopf abreißen.« Er ging selbst und kam gleich mit einem Brief in der Hand zurück. »Von Katjuscha,« sagte er, »wart, reiß ihn mir nicht aus der Hand, ich will erst zu Ende sprechen. ... Das Gottsuchertum beginnt also immer mit der Zerstörung, und diese Periode ist sehr gefährlich und ansteckend. Diese Krankheitsphase macht Rußland gerade jetzt durch. ... Versuch mal abends in die Hauptstraße zu gehen: du wirst nichts anderes hören als: ›Zur Hilfe!‹ In der Straße treiben sich die sogenannten ›Senfpflaster‹ herum, die Burschen aus den Vorstädten und Fabriken, und verüben solchen Unfug, daß die Polizei nichts dagegen ausrichten kann. Diese gänzlich amoralischen Hooligans, diese Senfpflaster sind eben auch Gottsucher. Hast du es verstanden? Heute treiben sie ihren Unfug in der Hauptstraße von Ssamara, morgen werden sie es im ganzen Russischen Staate tun. Sie machen Skandal im Namen der Zerstörung. Das ist alles. Ein anderes bewußtes Ziel haben sie nicht. Das Volk als Ganzes macht eben die erste Phase des Gottsuchertums durch – die Zerstörung aller Grundstützen.«

Dmitrij Stepanowitsch schnaubte mit der Nase und zündete sich eine Zigarette an. Dascha entriß ihm Katjas Brief und ging auf ihr Zimmer. Er aber redete noch eine Zeitlang, ging, die Türen zuschlagend, durch die halbleere verstaubte Wohnung mit den gestrichenen Fußböden und fuhr dann zu den Postnikows.

* * *

»Liebe Dascha,« schrieb Katja, »ich weiß noch immer nichts über mich und Nikolai. Ich lebe in Paris. Jetzt ist hier die Hochsaison. Man trägt die Kleider unten sehr eng, und die große Mode ist Chiffon. Wohin ich Ende Juni fahren werde, weiß ich noch nicht. Paris ist sehr schön. Und alles ohne Ausnahme – das hättest du sehen sollen – ganz Paris tanzt Tango. Beim Mittagessen stehen sie zwischen den einzelnen Gängen auf und tanzen; ebenso um fünf Uhr und beim Abendessen, und so geht es bis zum frühen Morgen. Ich kann mich nirgends vor dieser Musik retten, sie ist so traurig, peinigend und süß. Es ist mir immer, als ob ich meine Jugend begrabe, etwas Unwiederbringliches verliere, wenn ich diese Frauen mit den tiefausgeschnittenen Kleidern und den blaugeschminkten Augen sehe, und ihre Kavaliere, die so elegant sind, daß es manchmal schrecklich und traurig ist, sie anzuschauen. Im großen Ganzen ist meine Stimmung gedrückt. Ich glaube immer, es müsse jemand sterben. Ich habe große Angst wegen Papa. Er ist ja nicht mehr jung. Hier gibt es eine Menge Russen, lauter Bekannte; wir versammeln uns täglich irgendwo, – es ist mir, als hätte ich Petersburg gar nicht verlassen. Übrigens hörte ich hier von jemand, daß Nikolai mit irgendeiner Frau intim gewesen sei. Sie sei Witwe und habe drei Kinder, das jüngste sei noch ganz klein. Verstehst du es? Es tat mir anfangs sehr weh. Dann spürte ich aber Mitleid mit dem Kleinen ... Was kann es dafür? ... Ach, Dascha, ich möchte so gern ein Kind haben. Aber das kann man doch nur von einem geliebten Menschen. Wenn du mal heiratest, so sieh zu, daß du ein Kind kriegst, hörst du, Dascha? ...«

Dascha las diesen Brief mehrere Male und vergoß einige Tränen, besonders über das kleine Kind, das nichts dafür konnte. Dann setzte sie sich hin, um Katja zu antworten, und schrieb den ganzen Vormittag. Zu Mittag aß sie ganz allein, sie kostete eigentlich nur von den Speisen, ging dann ins Kabinett und begann in den alten Zeitschriften zu wühlen. Hier fand sie einen unendlich langen Roman mit dem Titel »Sie hat verziehen«, legte sich aufs Sofa zwischen den herumliegenden Büchern und las bis zum Abend. Endlich kam der Vater, verstaubt und müde; sie aßen zu Abend, und er beantwortete alle Fragen mit unartikulierten Lauten. Dascha gelang es schließlich doch, von ihm zu erfahren, daß der dreijährige Junge des Magistratssekretärs an Scharlach gestorben war. Nachdem Dmitry Stepanowitsch dies mitgeteilt hatte, schnaubte er mit der Nase, steckte seinen Zwicker ins Etui und ging schlafen. Auch Dascha legte sich ins Bett, zog das Laken über den Kopf und weinte nach Herzenslust über allerlei traurige Dinge.

Es vergingen zwei Tage. Der Staubsturm endete mit einem Gewitter und Regenguß, der die ganze Nacht auf das Dach trommelte; der Sonntagmorgen war still und feucht, wie gewaschen.

Früh am Morgen, als Dascha kaum aufgestanden war, besuchte sie ihr alter Bekannter, der beim Semstwo angestellte Statistiker Ssemjon Ssemjonowitsch Gowjadin, ein hagerer, immer blasser Mensch mit blondem Bart und hinter die Ohren gekämmten Haaren. Er roch nach saurem Rahm; er lehnte den Genuß von Alkohol, Tabak und Fleisch ab und war bei der Polizei übel angeschrieben. Nachdem er Dascha begrüßt hatte, sagte er ihr in einem unbegreiflich spöttischen Ton: »Ich komme Sie abholen, Weib. Fahren wir doch auf die Wolga hinaus.«

Dascha dachte sich: Alles endet also mit dem Semstwo-Statistiker Gowiadin! Sie nahm ihren weißen Sonnenschirm und ging mit Ssemjon Ssemjonowitsch zur Wolga hinunter, wo die Mietsboote standen.

Zwischen den langen, aus Brettern gezimmerten Getreidebarken, Stapeln von Balken und ganzen Bergen von Woll- und Baumwollballen gingen die Lastträger und Hafenarbeiter hin und her, Männer und Burschen mit breiten Schultern und breiter Brust barfuß, ohne Mützen und mit bloßen Hälsen. Manche spielten, »Kopf oder Adler«, andere schliefen auf Säcken und Brettern; etwas weiter liefen an die dreißig Mann mit Kisten auf dem Rücken über schwankende Stege. Zwischen den Wagen stand ein betrunkener Mann, über und über mit Schmutz und Staub bedeckt, mit blutender Wange; er hielt seine Hose mit beiden Händen fest und fluchte träge und unflätig.

»Dieses Element kennt weder Feiertage noch Ruhe«, bemerkte Ssemjon Ssemjonowitsch belehrend. »Aber wir kluge, intelligente Menschen fahren um diese selbe Zeit aus, um müßig die Natur zu genießen. Der Grund dieser Ungerechtigkeit liegt allein in der sozialen Ordnung.«

Er sagte: »Entschuldigen Sie, bitte,« und schritt über die großen, bloßen Beine eines breitbrüstigen und dicklippigen Burschen, der auf dem Rücken lag; ein anderer Bursche saß auf einem Balken und kaute an einem Weißbrot. Dascha hörte den Liegenden sagen: »Philipp, wenn wir doch eine solche haben könnten!« Der andere antwortete mit vollem Mund: »Die ist zu sauber. Die macht zu viel Scherereien.«

Über den spiegelglatten, mehr als eine Werst breiten, gelblichen Strom mit den zitternden langen Sonnenlichtreflexen zogen die dunkeln Silhouetten von Ruderbooten, die auf das andere sandige Ufer zusteuerten. Gowjadin mietete ein solches Boot; er bat Dascha, sich ans Steuer zu setzen, ergriff selbst die Ruder und begann gegen die Strömung zu fahren. Bald trat ihm in sein blasses Gesicht der Schweiß. »Der Sport ist eine große Sache,« meinte Ssemjon Ssemjonowitsch und begann seinen Rock auszuziehen; er knöpfte verschämt die Hosenträger ab und steckte sie unter die Bank. Er hatte magere, schwache, langbehaarte Arme, die sich in den Gummimanschetten wie Würmer bewegten. Dascha spannte den Sonnenschirm auf und blickte mit zusammengekniffenen Augen aufs Wasser.

»Verzeihen Sie die indiskrete Frage, Darja Dmitrijewna: in der Stadt erzählt man sich, daß Sie heiraten. Ist es wahr?«

»Nein, es ist nicht wahr.«

Er verzog seinen Mund zu einem breiten Grinsen, was sich auf seinem intelligenten, besorgten Gesicht etwas sonderbar ausnahm, versuchte mit seiner dünnen Stimme ein Wolgalied anzustimmen, hielt aber verschämt inne und holte aus aller Kraft mit den Rudern aus.

Ein Boot voller Menschen fuhr ihnen entgegen. Drei Kleinbürgerinnen in grünen und grellroten Wollkleidern knackten darin Sonnenblumenkerne und spuckten sich die Hülsen in den Schoß. Ihnen gegenüber saß ein völlig betrunkenes »Senfpflaster«, ein Kerl mit krausem Haar und kleinem schwarzen Schnurrbart; er rollte die Augen wie ein Sterbender und spielte auf seiner Ziehharmonika eine Polka. Ein anderer ruderte mit kräftigen Schlägen und ließ das Boot schaukeln; der Dritte fuchtelte mit dem Steuerruder und rief Ssemjon Ssemjonowitsch zu: »Bahn frei, du mit dem Hut!« Er setzte einen unflätigen Fluch hinzu, und die Gesellschaft fuhr schreiend und schimpfend ganz nahe vorbei, so daß es fast zu einem Zusammenstoß kam.

Das Boot streifte endlich den sandigen Grund. Dascha sprang ans Ufer. Ssemjon Ssemjonowitsch zog Rock und Hosenträger wieder an. »Ich bin zwar Städter, habe aber eine aufrichtige Liebe zur Natur,« sagte er und kniff die Augen zusammen. »Besonders, wenn sie von der Gestalt eines jungen Mädchens belebt wird; dann sehe ich darin etwas Turgenjew'sches. Wollen wir doch in den Wald.«

Sie gingen durch den heißen Sand, in dem die Füße versanken. Gowjadin blieb jeden Augenblick stehen, wischte sich das Gesicht mit dem Taschentuche ab und sagte: »Nein, schauen Sie nur, was für ein entzückendes Fleckchen!«

Der Sand war endlich zu Ende, und sie erstiegen eine kleine Anhöhe, wo Wiesenland begann; das Gras war stellenweise abgemäht und lag welkend da. Es duftete heiß nach Honigblüten. Am Rande eines schmalen Grabens voller Wasser wuchsen lockige Haselbüsche. Im saftigen Gras rauschte ein Bach, der in einen kleinen runden See mündete. Am Ufer des Sees standen zwei alte Linden und eine knorrige Fichte, bei der ein Ast wie ein ausgestreckter Arm abstand. Weiter blühten weiße Heckenrosen. An dieser Stelle hielten sich während der Strichzeit mit Vorliebe die Waldschnepfen auf. Dascha und Ssemjon Ssemjonowitsch setzten sich ins Gras. Zu ihren Füßen leuchtete in den windungsreichen Gräben das Wasser, hier himmelblau, dort laubgrün. Nicht weit von Dascha hüpften im Gebüsch, eintönig pfeifend, zwei kleine graue Vögel. Mit der ganzen Trauer einer verlassenen Geliebten girrte irgendwo im Dickicht unermüdlich eine Wildtaube. Dascha saß mit ausgestreckten Beinen, die Hände im Schoß gefaltet, und hörte, wie der verlassene Liebhaber mit zärtlicher Stimme im Gebüsch murmelte: »Darja Dmitrijewna, Darja Dmitrijewna, was ist mit Ihnen eigentlich los? Ich verstehe nicht, warum Sie so traurig sind und weinen wollen. Es ist doch nichts geschehen. Sie sind aber so traurig, als wäre das Leben schon zu Ende. Sie sind einfach von Natur zum Weinen aufgelegt.«

»Ich will mit Ihnen ganz aufrichtig sein, Darja Dmitrijewna,« sagte Gowjadin. »Wollen Sie mir gestatten, alle Konventionen, sozusagen, beiseite zu lassen? ...«

»Sprechen Sie nur, es ist mir ganz gleich,« antwortete Dascha. Sie verschränkte die Hände im Nacken und legte sich auf den Rücken, um den Himmel und nicht die unruhigen Augen Ssemjon Ssemjonowitschs zu sehen, der heimlich ihre weißen Strümpfe betrachtete.

»Sie sind ein stolzes, tapferes Mädchen. Sie sind jung, hübsch, voll schäumenden Lebens ...«

»Gut, nehmen wir an,« sagte Dascha.

»Haben Sie denn niemals den Wunsch, diese konventionelle Moral zu zerstören, die Ihnen durch Erziehung und Umgebung eingeimpft worden ist? Müssen Sie denn im Namen dieser von allen Autoritäten längst verworfenen Moral Ihre schönen Instinkte zurückhalten?«

»Nehmen wir an, daß ich meine Instinkte wirklich nicht zurückhalten will, – was dann?« fragte Dascha und wartete mit gelassener Neugier auf seine Antwort. Sie war in der Sonne ganz warm geworden, und es war ihr so angenehm, in den Himmel, in den Sonnenstaub, der diesen ganzen blauen Abgrund füllte, zu schauen, daß sie gar keine Lust hatte, über etwas nachzudenken oder sich auch nur zu rühren.

Ssemjon Ssemjonowitsch schwieg und wühlte mit dem Finger in der Erde. Dascha wußte, daß er mit der Hebamme Marja Dawydowna verheiratet war. Marja Dawydowna nahm an die zweimal im Jahre ihre drei Kinder und zog vom Gatten zu ihrer Mutter, die auf der andern Seite der gleichen Straße wohnte. Ssemjon Ssemjonowitsch erklärte seinen Amtskollegen in der Semstwo-Verwaltung diese Familienzerwürfnisse mit dem sinnlichen und unruhigen Charakter Marja Dawydownas. Sie wiederum erklärte sie im Semstwo-Krankenhause damit, daß ihr Mann jeden Augenblick im Stande sei, ihr mit jeder ersten besten die Treue zu brechen, daß er überhaupt nur daran denke und ihr nur aus Feigheit und Trägheit treu bleibe, was ja furchtbar beleidigend sei; außerdem könne sie sein langes vegetarisches Gesicht nicht länger sehen. Ssemjon Ssemjonowitsch ging während solcher Zerwürfnisse mehreremal am Tage ohne Mütze über die Straße. Die Gatten versöhnten sich dann wieder und Marja Dawydowna kehrte mit Kindern und Bettkissen in ihr Haus zurück.

»Wenn eine Frau mit einem Manne allein ist, erwacht in ihr der einzige Wunsch, ihm zu gehören, und in ihm – sich ihres Körpers zu bemächtigen,« erklärte endlich Ssemjon Ssemjonowitsch hüstelnd. »Ich fordere Sie auf, aufrichtig und ehrlich zu sein. Wenn Sie tiefer in sich hineinblicken, so werden Sie sehen, daß in Ihnen inmitten all der Vorurteile und Lügen ein starkes und natürliches Bedürfnis nach Sinnlichkeit brennt.«

»Und wenn in mir augenblicklich gar kein Bedürfnis brennt, – was mag das bedeuten?« fragte Dascha. Sie war so faul und zum Lachen aufgelegt. Über ihrem Kopfe machte sich im gelben Blütenstaub einer weißen Heckenrose eine Biene zu schaffen. Der verlassene Liebhaber girrte aber immer noch im Espengebüsch: »Darja Dmitrijewna, Darja Dmitrijewna, sind Sie nicht am Ende verliebt? Sie sind verliebt, Sie sind verliebt, mein Ehrenwort, – darum grämen Sie sich auch so.« Dascha hörte ihm zu und mußte leise lachen.

»Mir scheint. Sie haben Sand im Schuh. Gestatten Sie, daß ich ihn ausschüttle,« sagte Ssemjon Ssemjonowitsch mit einer eigentümlich dumpfen Stimme und zog an ihrem Absatz. Dascha setzte sich schnell auf, entriß ihm den Schuh und klatschte Ssemjon Ssemjonowitsch damit auf die Backe.

»Sie sind ein gemeiner Kerl,« sagte sie, »ich hätte mir niemals gedacht, daß Sie so widerlich sind.« Sie zog den Schuh an, stand auf, nahm den Sonnenschirm und ging, ohne Gowjadin anzublicken, zum Fluß.

Was bin ich doch für eine dumme Gans, ich habe ihn nicht mal gefragt, wohin ich schreiben soll, dachte sie sich, als sie den Abhang hinunter ging: Ob nach Kineschma oder nach Nischnij. Nun muß ich mit diesem Gowjadin dasitzen. Ach, mein Gott! ... – Sie wandte sich um. Ssemjon Ssemjonowitsch folgte ihr den Abhang hinunter, indem er die Beine wie ein Kranich hob und zur Seite blickte.

Ich will Katja schreiben: ›Denk dir nur, mir scheint, ich bin verliebt.‹ Sie lauschte aufmerksam und wiederholte leise vor sich hin: »Der liebe, liebe, liebe Iwan Iljitsch ...«

In diesem Augenblick rief es nicht weit von ihr: »Ich geh nicht hinein, ich geh nicht hinein, laß mich, du zerreißt mir den Rock!« Am Ufer lief bis zu den Knien im Wasser ein nicht mehr junger nackter Mann mit gelben Rippen, einem Kreuz an schwarzer Schnur auf der eingefallenen Brust und kurzem Bart. Er sah widerlich aus und zerrte mit stummer Wut ein trübsinniges Weib ins Wasser. Sie schrie immer wieder: »Laß, du zerreißt mir den Rock!«

Dascha lief nun so schnell sie konnte längs dem Ufer zum Boot, – Abscheu und Scham schnürten ihr die Kehle zusammen; es war ihr, als könne sie es gar nicht überleben. Während sie das Boot ins Wasser stieß, kam atemlos Gowjadin herbeigelaufen. Dascha setzte sich, ohne seine Fragen zu beantworten und ohne ihn anzublicken, ans Steuer, schützte sich mit dem Sonnenschirm und sprach während der ganzen Heimfahrt kein Wort.

* * *

Nach diesem Ausflug erwachte in Dascha, sie wußte selbst nicht, wieso, eine Animosität gegen Teljegin, als wäre er verantwortlich für diesen ganzen Trübsinn der staubigen, in der Sonne glühenden Provinzstadt mit den stinkenden Bretterzäunen, den widerlichen Torwegen, den kleinen kastenförmigen Backsteinhäusern, den Telephon- und Telegraphenstangen an Stelle von Bäumen und der drückenden Glut um die Mittagsstunde, wo sich durch die grauweiße schattenlose Straße eine vor Hitze blödsinnig gewordene Händlerin mit Bündeln gedörrter Fische an einem Tragjoch schleppte und, zu den verstaubten Fenstern hinaufschauend, schrie: »Dörrfische, Dörrfische!« und das einzige Wesen, das vor ihr stehen blieb und ihre Fische beschnüffelte, ein vor Hitze gleichfalls blödsinnig und sogar halb toll gewordener Köter war; wo aus einem fernen Hofe die tötliche Donauwellenlangeweile eines Leierkastens tönte.

Teljegin war schuld, daß Dascha diese ganze sie umgebende, träge, prosaische Ruhe, besonders peinlich empfand, – diese Ruhe, die offenbar gar nicht daran dachte, sich vom Fleck zu rühren, selbst wenn man in die Straße liefe und mit wilder Stimme schrie: »Ich will leben, leben!«

Teljegin hatte die Schuld, daß er allzu bescheiden und schüchtern war: es ging doch wirklich nicht, daß Dascha als erste sagte: »Wissen Sie, daß ich Sie liebe?« Er hatte die Schuld, daß er kein Lebenszeichen von sich gab, als wäre er in die Erde versunken; vielleicht dachte er überhaupt nicht mehr an jene Dampferfahrt.

Zur Vervollständigung dieses ganzen Trübsinns hatte Dascha in einer der schwülen, rußschwarzen Nächte einen Traum; es war derselbe Traum wie damals in Petersburg, als sie in Tränen erwachte, und er entschwand wie damals ihrem Gedächtnis gleich der Trübung auf einem angehauchten Glase. Aber sie hatte das Gefühl, daß dieser qualvolle und schreckliche Traum ein Unglück verhieße. Dmitrij Stepanowitsch empfahl Dascha Arsenikeinspritzungen.

Dann kam ein zweiter Brief von Katja. Sie schrieb: »Liebe Dascha, ich sehne mich so furchtbar nach dir, nach all den Meinigen und nach Rußland. Ich gewinne immer mehr den Eindruck, daß ich den Bruch mit Nikolai und noch etwas viel Wichtigeres selbst verschuldet habe. Ich erwache jeden Morgen mit einem Schuldgefühl und lebe damit den ganzen Tag wie in stickiger Luft. Zudem – ich weiß nicht mehr, ob ich dir darüber schon geschrieben habe – verfolgt mich seit einiger Zeit ein Mensch. Wenn ich aus dem Hause trete, kommt er mir schon entgegen. Wenn ich in einem Warenhause mit dem Lift hinauffahre, steigt er unterwegs zu mir ein. Gestern war ich im Louvre-Museum; ich war müde geworden und setze mich auf eine Bank; plötzlich habe ich das Gefühl, als fahre mir jemand mit der Hand über den Rücken. Ich wende mich um: nicht weit von mir sitzt er. Hager, schwarzhaarig, stark angegraut, der Bart sieht wie angeklebt aus. Er hält die Hände auf dem Stockgriff, blickt düster drein, seine Augen liegen tief in ihren Höhlen. Ich fand nur mit Mühe den Ausgang. »Er spricht mich nie an und belästigt mich auch in keiner Weise, aber ich fürchte ihn. Es ist mir, als ziehe er seine Kreise um mich ...« Dascha zeigte den Brief dem Vater.

Dmitrij Stepanowitsch sagte am nächsten Morgen bei der Zeitungslektüre u.a.: »Kätzchen, fahr doch in die Krim.«

»Wozu?«

»Such dort diesen Nikolai Iwanowitsch auf und sag ihm, daß er ein Waschlappen ist. Er soll sofort nach Paris zu seiner Frau fahren. Übrigens, wie er will. ... Das ist seine und Katjas Privatsache. ...«

Dmitrij Stepanowitsch war wütend und erregt, obwohl er es sonst verabscheute, seine Gefühle zu zeigen. Dascha sah ein, daß sie fahren mußte, und fühlte sich plötzlich von einer Freude ergriffen: die Krim erschien ihr als etwas Blaues, Wellenrauschendes, Herrliches und Freies. Der lange Schatten einer schlanken Pappel, eine Steinbank, ein um den Kopf flatternder Schleier und ein unruhiges Augenpaar, das von ihr keinen Blick wendet. ...

Sie machte sich schnell fertig und fuhr nach Jewpatoria, wo Nikolai Iwanowitsch seine Sommerferien verbrachte.


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