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Nach dem mißglückten Fluchtversuch aus dem Konzentrationslager wurde Iwan Iljitsch Teljegin in eine Festung überführt und in Einzelhaft genommen. Hier plante er einen neuen Fluchtversuch und feilte sechs Wochen lang am Fenstergitter. Im Hochsommer wurde aber diese ganze Festung plötzlich geräumt, und Teljegin kam als vorbestraft in die sogenannte »Gnila-Jama« (Faule Grube). Das war ein schrecklicher, bedrückender Ort, – in einem weiten Talkessel, mitten in einem Torfsumpfe standen vier in einem Quadrat angeordnete, von Stacheldraht umzogene, lange Baracken. In der Ferne, bei den Hügeln, wo Schornsteine ragten, begann eine Schmalspurbahn, deren verrostete Schienen sich durch den ganzen Sumpf zogen und nicht weit von den Baracken vor einem tiefen Einschnitt aufhörten, – an der Stelle der vorjährigen Arbeiten, bei denen mehr als fünftausend russische Soldaten an Typhus und Ruhr gestorben waren. Auf der andern Seite der gelbbraunen Ebene erhoben sich in ungleichen Zacken die lilafarbenen Karpathen. Nördlich von den Baracken, gleich hinter dem Stacheldraht konnte man eine Menge von Grabkreuzen aus Fichtenholz sehen, die über den ganzen Sumpf verstreut waren.
An heißen Tagen stiegen von der Ebene Ausdünstungen auf; die Bremsen summten, Mücken klebten an den Gesichtern, die Sonne stand trübrot am Himmel und ließ diesen hoffnungslosen Ort dampfen und verwesen.
Die Behandlung war streng, die Kost karg. Die Hälfte der Offiziere litt an Magenkrankheiten, Fieber, Ausschlägen und Geschwüren. Einige waren daran gestorben. Aber im Lager herrschte dennoch eine gehobene Stimmung: Brussilow rückte unter schweren Kämpfen vor, die Franzosen schlugen die Deutschen in der Champagne und bei Verdun, die Türken räumten Kleinasien. Das Ende des Krieges schien nun wirklich nicht mehr fern. Die in »Gnila-Jama« Eingesperrten ertrugen mit zusammengebissenen Zähnen alle Entbehrungen: zu Neujahr werden wir zu Hause sein.
Der Sommer ging aber zu Ende, es begann die Regenzeit, Brussilow stellte seine Offensive ein, ohne Krakau und Lemberg genommen zu haben, die blutigen Schlachten an der französischen Front hörten auf, – die Entente und die Zentralmächte leckten sich ihre Wunden. Das Kriegsende wurde offenbar auf nächsten Herbst hinausgeschoben.
Nun begann in »Gnila-Jama« die Verzweiflung. Der Schlafnachbar Teljegins, Woskoboinikow, hörte plötzlich auf, sich zu waschen und zu rasieren, lag tagelang auf der Pritsche mit halbgeschlossenen Augen und gab auf Fragen, die man an ihn richtete, keine Antwort. Ab und zu setzte er sich schnell auf und kratzte voller Haß seinen ganzen Körper mit den Nägeln. Auf seiner Haut zeigten sich rosa Flechten, die periodisch wieder verschwanden. Eines Nachts weckte er Iwan Iljitsch und fragte mit dumpfer Stimme: »Teljegin, bist du verheiratet?«
»Ich habe in Twer eine Frau und eine Tochter. Besuche sie, hörst du!«
»Hör auf, Jakow Iwanowitsch, schlaf.«
»Ich werde tief einschlafen, Bruder.«
Beim Morgenappell meldete sich Woskoboinikow nicht. Man fand ihn in der Retirade, an einem schmalen Ledergürtel erhängt. Die ganze Baracke erwachte. Die Offiziere drängten sich um die Leiche, die auf dem Rücken auf dem Boden lag. Die Laterne, die ihr zu Häupten stand, beleuchtete das von Abscheu und Qual verkrampfte knochige Gesicht und die Kratzspuren auf der Brust unter dem zerrissenen Hemd. Das Laternenlicht war trüb, die Gesichter der Lebenden, die sich über die Leiche beugten, waren geschwollen, gelb und verzerrt. Einer von ihnen, Oberleutnant Meljschin, wandte sich plötzlich gegen die Tiefe der Baracke und sagte laut: »Kameraden, werden wir dazu schweigen?« Durch die Menge, über alle Pritschen ging ein dumpfes Murren. Die Eingangstüre wurde aufgeschlagen, und ein verschlafener österreichischer Offizier, der Lagerkommandant, trat in die Baracke. Die Menge gab ihm den Weg zur Leiche frei, und sofort wurden erregte Stimmen laut:
»Wir werden nicht schweigen!«
»Ihr habt den Menschen zu Tode gequält!«
»Es liegt ein System darin.«
»Ich selbst verfaule bei lebendigem Leibe.«
»Wir dulden es nicht. Wir fordern Versetzung an einen andern Ort!«
»Wir sind keine Zuchthäusler!«
Der Kommandant reckte sich auf den Zehen und schrie: »Mund halten! Jeder auf seinen Platz! Ihr russischen Schweine!«
»Was? ... Was hat er gesagt? ...«
»Wir sind russische Schweine?!«
Zum Kommandanten drängte sich alsbald ein kleiner, dicker Mann mit zerzaustem Vollbart vor, der Stabshauptmann Schukow. Er hob seinen kurzen Zeigefinger dicht vor das Gesicht des österreichischen Offiziers und rief mit schluchzender Stimme: »Siehst du meinen Finger, du Hundesohn, siehst du ihn?« Er schüttelte seine Mähne, packte den Kommandanten an den Schultern, beutelte ihn wie rasend, warf ihn zu Boden und stürzte sich über ihn her. Die Offiziere drängten sich um die beiden Ringenden und schwiegen. Da hörte man aber schon auf dem Bretterboden die Schritte der herbeilaufenden Soldaten, und der Kommandant schrie »Hilfe!« Teljegin, der die ganze Zeit hinter den anderen gestanden hatte, stieß mit den Worten »Ihr seid wohl verrückt geworden, er wird ihn ja erwürgen!« seine Kameraden auseinander, packte Schukow bei den Schultern und schleppte ihn weg. »Sie sind ein gemeiner Kerl!« rief er dem Kommandanten auf deutsch zu. Schukow atmete schwer mit weit aufgerissenem Munde. »Laß, ich will ihm das Schwein zeigen!« sagte er dumpf und heiser. Der Kommandant hatte sich aber schon erhoben und die zerdrückte Mütze in die Stirne gezogen und streifte mit einem schnellen, durchdringenden Blick Schukow, Teljegin und Meljschin und noch zwei oder drei neben ihnen stehende Offiziere, als wollte er sich ihre Gesichter merken. Dann verließ er sporenklirrend die Baracke. Man schloß sofort die Tür und stellte beim Eingang zwei Wachtposten auf.
An diesem Morgen gab es weder Appell, noch Trommelwirbel, noch Kaffee. Gegen Mittag kamen in die Baracke Soldaten mit einer Bahre und trugen Woskoboinikows Leiche hinaus. Die Türe wurde wieder geschlossen. Die Offiziere verteilten sich auf den Pritschen, viele legten sich hin. In der Baracke wurde es ganz still, – die Sache war ja klar: Meuterei, Mordversuch, Standgericht.
Iwan Iljitsch begann diesen Tag wie jeden andern, ohne die geringste Abweichung von den Regeln, die er sich selbst aufgestellt hatte und die er seit mehr als einem Jahre peinlich befolgte: um sechs Uhr früh pumpte er einen Eimer voll braunen Wassers, rieb sich damit ab, machte hundertundeine gymnastische Übung, wobei er darauf achtete, daß die Gelenke ordentlich knackten, zog sich an, rasierte sich und setzte sich – heute, da es keinen Kaffee gab, mit nüchternem Magen – an die deutsche Grammatik.
Teljegin war während der Gefangenschaft schweigsam geworden; sein mit Muskeln gepanzerter Körper war eingetrocknet, die Bewegungen waren schnell und scharf, die Augen gleichsam verblichen und zeigten einen kalten, trotzigen Glanz, – im Augenblick des Zornes oder der Entschlossenheit waren sie schrecklich.
Er nahm heute fleißiger als sonst die deutschen Worte durch, die er sich gestern herausgeschrieben hatte, und schlug das zerlesene Bändchen Spielhagen auf. Schukow setzte sich zu ihm auf die Pritsche. Iwan Iljitsch fuhr fort, ohne sich zu ihm umzuwenden, halblaut im deutschen Buche zu lesen. Schukow seufzte und sagte dann: »Ich will vor Gericht aussagen, daß ich geisteskrank bin, Iwan Iljitsch.«
Teljegin sah ihn schnell an. Das rosige, gutmütige Gesicht Schukows mit der breiten Nase, dem lockigen Bart, den weichen, warmen Lippen, die durch das Dickicht des verwahrlosten Schnurrbartes zu sehen waren, zeigte einen schuldbewußten Ausdruck; die hellen Wimpern zwinkerten oft und schnell.
»Wie kam ich nur dazu, ihm den verfluchten Finger vor die Nase zu halten! Ich weiß selbst nicht mehr, was ich damit beweisen wollte. Iwan Iljitsch, ich sehe es ein, – ich bin natürlich schuld. ... So habe ich auch die Kameraden hineingelegt. ... Also habe ich beschlossen, mich für geisteskrank zu erklären. ... Was sagen Sie dazu?«
»Hören Sie mal, Schukow,« antwortete Iwan Iljitsch, einen Finger ins Buch legend, »einige Mann wird man in jedem Falle erschießen. ... Wissen Sie das?«
»Ja, ich verstehe.«
»Wäre es nicht einfacher, vor Gericht keinen Narren zu spielen. ... Wie meinen Sie? ...«
»Das stimmt natürlich.«
»Keiner der Kameraden wird Ihnen einen Vorwurf machen. Nur ist das Vergnügen, den Österreicher in die Fresse zu hauen, zu teuer bezahlt.«
»Iwan Iljitsch, wie ist es mir selbst zumute: die Kameraden vors Kriegsgericht zu bringen!« Schukow ballte seine kleine Faust zusammen und schüttelte den Kopf. »Wenn die Hunde mich allein bestrafen wollten, wäre es mir leichter.«
Er sprach noch lange in diesem Sinne, aber Teljegin hörte ihm nicht mehr zu und las in seinem Spielhagen. Dann stand er auf, streckte sich und ließ die Gelenke knacken. In diesem Augenblick ging die Außentüre geräuschvoll auf, vier Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett traten in die Baracke und stellten sich zu beiden Seiten der Türe auf; die Gewehrschlösser klirrten; eine Weile später kam der Feldwebel, ein mürrischer Mensch mit einer Binde auf einem Auge. Er überblickte die Baracke und rief mit dumpfer, unheilverkündender Stimme: »Stabshauptmann Schukow, Oberleutnant Meljschin, Leutnant Iwanow, Leutnant Ubejko, Fähnrich Teljegin. ...«