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Dascha öffnete die Türe ihres Zimmers und blieb erstaunt stehen: es roch nach frischen Blumen, und sogleich erblickte sie auf ihrem Toilettentisch einen Korb mit hohem Henkel und blauer Schleife. Sie lief heran und drückte ihr Gesicht in die Blüten. Es waren etwas zerdrückte und feuchte Parmaveilchen.
Dascha war erregt. Sie hatte sich schon seit dem frühen Morgen nach etwas Unbestimmtem gesehnt, und nun merkte sie, daß sie sich nach Parmaveilchen gesehnt hatte. Wer hat sie aber geschickt? Wer hat an sie heute so aufmerksam gedacht, daß er sogar das erraten hat, was ihr selbst unverständlich war? Nur diese Schleife ist ganz überflüssig. Indem Dascha die Schleife löste, dachte sie sich: Ein zwar unruhiges, aber gar nicht schlechtes junges Mädchen. Was für Sünden sie auch auf dem Gewissen hat, sie macht doch ihren Weg. Vielleicht glaubt ihr, daß sie die Nase zu hoch trägt? Es werden sich aber schon Menschen finden, die sie an dieser Nase packen und sie sogar zu schätzen wissen werden. –
In der Schleife steckte ein Zettel aus dickem Papier, auf dem mit einer unbekannten, großen Schrift geschrieben war: »Lieben Sie die Liebe!« Auf der Rückseite stand gedruckt: »Blumenhandlung Nizza.« Jemand hatte also im Geschäft geschrieben: »Lieben Sie die Liebe!« Dascha ging mit dem Blumenkorb in den Händen in den Korridor und schrie: »Großmogul, wer hat mir die Blumen gebracht?«
Der Großmogul warf einen Blick auf den Korb und seufzte so, als wollte er sagen, daß er damit auch nicht das geringste zu tun habe. »Ein Junge aus dem Blumengeschäft hat sie für Jekaterina Dmitrijewna gebracht. Die Gnädige ließen sie aber in Ihr Zimmer stellen.«
»Hat er nicht gesagt, von wem?«
»Nein, er hat nur gesagt, daß die Blumen für die gnädige Frau sind.«
Dascha ging in ihr Zimmer und stellte sich, die Hände im Rücken verschränkt, ans Fenster. Das Abendrot ergoß sich von links, hinter der Backsteinmauer des Nachbarhauses über den Himmel, ging in Grün über und erlosch. In dieser grünen Leere tauchte ein Stern auf, der wie frisch gewaschen funkelte. Unten, längs der schmalen nebeligen Straße flammten gleichzeitig alle Bogenlampen auf, ihr Licht war noch nicht grell. Ganz nahe ratterte ein Auto, und man sah es durch die Straße in die Abenddämmerung rollen.
Im Zimmer war es nun ganz dunkel, und die Veilchen dufteten zart. Sie kamen von dem Menschen, mit dem Katja gesündigt hatte. Das war klar. Dascha stand da und dachte, daß sie wie eine Fliege in das feine Netz der verführerischen Sünde hineingeraten war. Die Sünde war in diesem feuchten Blumenduft, in diesen gezierten und aufregenden Worten »Lieben Sie die Liebe!« und auch im milden Zauber des Abends.
Ihr Herz begann plötzlich heftig und schnell zu schlagen. Dascha hatte auf einmal das Gefühl, als berühre sie mit den Fingern, sehe, höre und betaste etwas Verbotenes, Verborgenes, versengend Süßes. Sie »gestattete« sich diese Freiheit mit ihrem ganzen Wesen. Es war ganz unbegreiflich, wie es gekommen war, daß sie sich in einem Nu »jenseits« befand. Die Strenge schmolz wie eine dünne Eiskruste zu einem leichten Hauch, wie jener, der am Ende der Straße schwebte, wo das Auto mit den beiden Damen in weißen Hüten lautlos verschwunden war. Sie fühlte nur ihr Herz klopfen, den Kopf leicht schwindeln, und in ihrem ganzen Körper tönte ganz von selbst eine seltsam kühle, lustige Musik: »Ich lebe, ich liebe, das Leben, die ganze Welt sind mein, mein, mein!«
»Hören Sie, meine Liebe,« sagte Dascha, die Augen öffnend, laut zu sich selbst, »Sie sind eine keusche Jungfrau, liebes Kind, Sie haben einfach einen schlechten Charakter.«
Sie ging in die entfernteste Ecke des Zimmers, setzte sich in einen großen, weichen Sessel, löste langsam eine Schokoladentafel aus der Umhüllung und begann sich auf alles zu besinnen, was in diesen vierzehn Tagen nach Katjas Sündenfall geschehen war.
Im Hause hatte sich nichts verändert. Katja war gegen Nikolai Iwanowitsch sogar besonders zärtlich. Er war in glänzendster Stimmung und trug sich mit der Absicht, sich in Finnland ein Landhaus zu bauen. Dascha allein erlebte stumm diese »Tragödie« der beiden verblendeten Menschen. Sie konnte sich nicht entschließen, als erste das Gespräch darauf zu bringen, und Katja, die sonst immer so aufmerksam gegen Daschas Stimmungen war, schien diesmal nichts zu merken. Jekaterina Dmitrijewna ließ für sich und für Dascha Frühjahrstoiletten zu Ostern machen, steckte tagelang bei Schneiderinnen und Putzmacherinnen, beteiligte sich an Wohltätigkeitsbazaren, veranstaltete auf Wunsch Nikolai Iwanowitschs eine literarische Aufführung, deren Ertrag inoffiziell für das Komitee der linken Fraktion der sozialdemokratischen Partei, der sogenannten Bolschewisten bestimmt war, die irgendwo in Paris hausten, empfing Gäste außer an Dienstagen auch noch an Donnerstagen und hatte, mit einem Worte, keine Minute freie Zeit.
Aber Sie haben vor Angst gezittert, sich zu nichts entschließen können und sich über Dinge den Kopf zerbrochen, von denen Sie so wenig wie ein Schaf verstehen und die Sie auch nie verstehen werden, bis Sie sich einmal die Flügel versengt haben, – dachte sich Dascha, leise lachend. Aus jenem dunklen See, in den die Eiskügelchen gefallen waren und von dem man nichts Gutes erwarten konnte, erhob sich, wie schon so oft in diesen Tagen, das giftige und böse Bild Bessonows. Sie duldete es, und er bemächtigte sich aller ihrer Gedanken. Dascha wurde still. Im dunkeln Zimmer tickte ihre Uhr.
Dann wurde irgendwo weit im Hause eine Türe zugeschlagen, und Dascha hörte die Stimme ihrer Schwester fragen: »Ist sie schon lange zu Hause?«
Dascha erhob sich vom Sessel und ging ins Vorzimmer. Jekaterina Dmitrijewna fragte sie sofort: »Warum bist du so rot?«
Nikolai Iwanowitsch rieb sich die Hände und ließ einen Witz aus dem Repertoire des ersten Liebhabers und Raisonneurs los. Dascha blickte voller Haß auf seine weichen, dicken Lippen und folgte Katja in ihr Schlafzimmer. Hier ließ sie sich am Toilettentisch nieder, der so elegant und zierlich war wie alles im Zimmer ihrer Schwester, und hörte dem Geschwätz Katjas zu. Katja berichtete von den Bekannten, die sie beim Spazierengehen getroffen hatte.
Jekaterina Dmitrijewna machte beim Erzählen Ordnung in ihrem Spiegelschrank, in dem Handschuhe, Spitzenreste, Schleier und seidene Pantöffelchen lagen, eine Menge von Kleinigkeiten, die nach ihrem Parfüm rochen. Sie berichtete, daß Rosa Abramowna nicht mehr bei Madame Duclais arbeiten lasse sondern im Hause schneidere und zwar sehr schlecht; daß Wedrenskij wieder einen Prozeß verloren habe und auf dem Trockenen sitze; sie habe seine Frau getroffen, und diese jammerte, daß das Leben so schwer sei; bei den Timirjasews hätten die Kinder Masern; Schönberg habe sich mit seinem hysterischen Frauenzimmer wieder ausgesöhnt; und man erzähle sich, sie habe sich schon wieder in seiner Wohnung zu erschießen versucht. Ja, und der Frühling, der Frühling! Was das für ein herrlicher Tag sei! Alle Menschen irrten durch die Straßen wie verschlafene Fliegen. Ja, noch eine Neuigkeit: sie habe Akundin getroffen, und dieser habe versichert, daß in der nächsten Zeit die Revolution käme. – »Weißt du, in den Fabriken, in den Dörfern, überall gärt es. Ach, möchte es doch schneller kommen! Nikolai Iwanowitsch freute sich darüber so, daß er mich zu Pivato führte und wir ohne jeden triftigen Grund eine Flasche Champagner auf die kommende Revolution tranken.«
Dascha öffnete und schloß die Kristallflakons auf dem Toilettentisch und hörte ihrer Schwester schweigend zu.
»Katja,« sagte sie ganz unvermittelt, »weißt du, so wie ich bin, kann mich niemand brauchen.« Jekaterina Dmitrijewna wandte sich mit dem Seidenstrumpf, den sie über die Hand gezogen hatte, um und sah ihre Schwester aufmerksam an. »Vor allen Dingen brauche ich mich selbst nicht, so wie ich bin. Es ist, wie wenn ein Mensch beschlossen hätte, nichts als rohe gelbe Rüben zu essen, und glaubte, damit über allen andern Menschen zu stehn.«
»Ich verstehe dich nicht«, sagte Jekaterina Dmitrijewna. Dascha warf einen Blick auf ihren Rücken und seufzte.
»Alle sind schlecht, ich verurteile alle. Der eine ist dumm, der andere widerlich, der dritte schmutzig. Nur ich allein bin gut. Ich bin hier fremd, und das ist mir sehr schwer. Auch dich verurteile ich, Katja.«
»Weswegen?« fragte Jekaterina Dmitrijewna leise, ohne sich ihr zuzuwenden.
»Nein, begreife es nur. Ich trage die Nase hoch, – das ist mein ganzer Vorzug. Es ist einfach dumm, und ich habe es satt, fremd unter euch allen zu sein. Mit einem Worte, weißt du, mir gefällt ein gewisser Mensch.« Dascha sagte das mit gesenktem Kopf; sie hatte einen Finger in ein Kristallfläschchen gesteckt und konnte ihn nicht wieder herausziehen.
»Nun, mein Kind, Gott sei Dank, wenn er dir gefällt. Du wirst glücklich sein. Wer verdient glücklich zu sein, wenn nicht du.« Jekaterina Dmitrijewna seufzte leise auf.
»Weißt du, Katja, das ist nicht so einfach. Ich glaube, daß ich ihn gar nicht liebe.«
»Wenn er dir gefällt, so wirst du ihn schon lieb gewinnen.«
»Das ist es eben, daß er mir nicht gefällt.«
Jekaterina Dmitrijewna schloß die Schranktüre und blieb neben Dascha stehen. »Du hast doch eben selbst gesagt, daß er dir gefällt... Du bist wirklich gut.«
»Katjuscha, nimm mich nicht gleich beim Wort. Erinnerst du dich noch an den Engländer in Ssestorjezk? Der gefiel mir gut, ich war sogar verliebt in ihn. Aber damals war ich – ich selbst... Ich wütete, suchte die Einsamkeit, heulte ganze Nächte hindurch, und alles war dann wie weggeblasen. Aber dieser... Ich weiß sogar nicht, ob er es ist... Nein, er ist's, er ist's, er ist's ... Er hat mich ganz verwirrt ... Und nun bin ich eine ganz andere. Als hätte ich giftige Dämpfe eingeatmet... Wenn er jetzt gleich zu mir ins Zimmer tritt, rühre ich mich nicht einmal ...«
»Mein Gott, Dascha, was sagst du?«
»Katja, das nennt man doch Sünde? ... So fasse ich es auf.«
Jekaterina Dmitrijewna setzte sich auf den Stuhl zu ihrer Schwester, zog sie zu sich heran, ergriff ihre heiße Hand und küßte sie, aber Dascha befreite sich langsam aus ihren Armen, seufzte, stützte den Kopf und sah lange durch das dunkle Fenster auf die Sterne. »Dascha, wie heißt er?«
»Alexej Alexejewitsch Bessonow.«
Katja setzte sich auf einen anderen Stuhl, drückte sich die Hand an die Kehle und saß unbeweglich da. Dascha konnte ihr Gesicht nicht sehen – es war ganz im Schatten –, aber sie fühlte, daß sie etwas Entsetzliches gesagt hatte. Nun, um so besser! dachte sie sich und wandte sich weg. Und vor diesem »um so besser« wurde ihr so leicht und leer zumute.
»Sag, bitte, warum dürfen alle anderen, und nur ich allein nicht? Seit zwei Jahren höre ich von den sechshundertsechsundsechzig Sünden, habe aber nur ein einziges Mal geküßt: einen Gymnasiasten in der Wärmebude auf der Eisbahn.«
Sie seufzte laut auf und verstummte. Jekaterina Dmitrijewna saß vornübergebeugt, die Hände im Schoß.
»Bessonow ist ein sehr schlechter Mensch,« sagte sie, »er ist ein schrecklicher Mensch, Dascha. Hörst du mich?«
»Ja.«
»Er wird dich zugrunde richten!«
»Nun, was soll ich machen!«
»Ich will es nicht! Soll lieber eine andere... Soll lieber ich zugrunde gehen! Aber nicht du, nicht du, liebes Kind!«
»Bebe schwarzer Missetäter!« sagte Dascha mit ostentativem Lachen. »Warum ist Bessonow so schlecht, wenn ich fragen darf?«
»Ich kann es dir nicht sagen... Ich weiß es nicht... Aber ich erschauere, wenn ich an ihn bloß denke.«
»Er hat aber doch auch dir ein wenig gefallen?«
»Niemals! ... Ich hasse ihn! ... Gott bewahre dich vor ihm!«
»Nun siehst du es, Katjuscha. Jetzt gerate ich todsicher in sein Netz.«
»Wovon sprichst du? ... Wir sind beide verrückt geworden!«
Dascha fand aber gerade an diesem Gespräch Gefallen: es war ihr, als balanciere sie auf einem schmalen Brett. Es gefiel ihr, daß Katja sich aufregte. An Bessonow dachte sie fast nicht mehr, aber sie fing absichtlich an, von ihrem Gefühl ihm gegenüber zu sprechen, die Begegnungen mit ihm und sein Gesicht zu beschreiben. Sie übertrieb alles, und es klang so, als ob sie sich Nächte hindurch in sündigen Gedanken verzehrte und fast bereit wäre, auf der Stelle zu Bessonow zu laufen. Schließlich wurde es ihr selbst komisch, und sie war schon im Begriff, Katja bei den Schultern zu packen und zu küssen. – Wenn jemand von uns dumm ist, so ist es Katjuscha. – Jekaterina Dmitrijewna glitt aber plötzlich vom Stuhl auf den Teppich hinunter, umschlang Dascha, drückte das Gesicht in ihren Schoß und schrie, am ganzen Körper zitternd, so auf, daß es ganz schrecklich klang: »Vergib, vergib mir! ... Dascha, vergib mir!«
Dascha erschrak. Sie beugte sich über die Schwester, fing vor Schreck und Mitleid selbst zu weinen an und fragte schluchzend, wovon sie spreche und was sie ihr vergeben solle. Jekaterina Dmitrijewna biß aber die Zähne aufeinander und streichelte der Schwester das Gesicht und küßte ihr die Hände.
Beim Essen sah Nikolai Iwanowitsch die beiden Schwestern an und sagte: »So, so. Darf vielleicht auch ich den Grund dieser Tränen wissen?«
»Der Grund dieser Tränen ist meine gemeine Stimmung«, antwortete ihm Dascha sofort. »Beruhige dich, bitte, ich weiß schon selbst, daß ich mitsamt dieser Gabel den kleinen Finger deiner Gattin nicht wert bin.«
Gegen Ende des Abendessens, zum Kaffee, kamen Gäste. Nikolai Iwanowitsch erklärte, man müsse infolge der in der Familie herrschenden trüben Stimmung in irgendein Vergnügungslokal fahren. Kulitschok telephonierte sofort um ein Auto. Katja und Dascha mußten sich umkleiden. Als Tschirwa kam und erfuhr, daß man ausfahren wolle, wurde er ganz unerwartet böse: »Wer hat schließlich den Schaden von diesem ewigen Bummeln? Doch nur die russische Literatur!« Aber man nötigte auch ihn mitzufahren.
Im »Nordischen Palmyra« ging es sehr laut zu; der riesengroße niedere Saal im Souterrain war überfüllt und von dem blendend weißen Lichte der sechs Kristallüster übergossen. Die Lüster, der Tabakrauch, der zu ihnen vom Parterre aufstieg, die eng beieinander stehenden Tische, die Männer in Fräcken, die bloßen Schultern der Frauen, die bunten – grünen, lila und grauen – Perücken, die schneeweißen Spitzen, die Edelsteine, die, an den Hälsen und in den Ohren zitternd, orangegelbe, blaue und rubinrote Strahlen um sich warfen, die durch das Gedränge gleitenden Kellner, der Mann mit dem abgelebten Gesicht und der feuchten Haarsträhne an der Stirn, mit erhobenen Armen und dem Zauberstab, den er vor dem himbeerroten Samtvorhang schwang, das funkelnde Messing der Blasinstrumente, – dies alles wiederholte und vervielfältigte sich in den Spiegelwänden, und man hatte den Eindruck, als säße hier, in unendlichen Räumen, die ganze Menschheit, die ganze Welt.
Dascha sog den Champagner durch einen Strohhalm ein und beobachtete die anderen Tische. Da sitzt vor einem schwitzenden Champagnerkühler und der Kruste eines Hummers ein glattrasierter Mann mit gepuderten Wangen. Seine Augen sind halb geschlossen, die Lippen verächtlich aufeinandergepreßt. Er sitzt da und denkt sich offenbar, daß das elektrische Licht schließlich und endlich verlöschen und alle Menschen sterben werden. Lohnt es sich überhaupt, sich über etwas zu freuen?
Der Vorhang begann zu schwanken und ging auseinander Aufs Podium sprang ein Japaner, so klein wie ein Kind, mit tragischen Runzeln, und in der Luft über ihm wirbelten plötzlich bunte Bälle, Teller und brennende Fackeln. Dascha sah hin und dachte sich dabei: Warum hat Katja gesagt: vergib, vergib?
Plötzlich preßte ihr etwas wie ein Reifen die Schläfen zusammen, und ihr Herz blieb stehen. – Ist es möglich? – Aber sie schüttelte den Kopf, holte tief Atem, gestattete sich nicht mal weiter darüber nachzudenken, was »möglich« sei, und sah ihre Schwester an.
Jekaterina Dmitrijewna saß am andern Ende des Tisches so müde, traurig und schön, daß Dascha Tränen in die Augen traten. Sie führte einen Finger an die Lippen und blies ihn an. Das war ein verabredetes Zeichen. Katja sah und begriff es und lächelte langsam und zärtlich.
Gegen zwei Uhr begann man zu streiten, wohin man weiter fahren solle. Jekaterina Dmitrijewna wollte gern nach Hause. Aber Nikolai Iwanowitsch sagte, er werde tun, was »alle« beschließen. »Alle« beschlossen, »weiter« zu fahren.
In diesem Moment erblickte Dascha im Publikum, das sich ein wenig gelichtet hatte, Bessonow. Er saß, den Ellenbogen vor sich auf dem Tische weit vorgeschoben, und hörte aufmerksam Akundin zu, der mit einer halbzerkauten Zigarette im Munde, auf ihn einredete, wobei er mit dem Fingernagel auf dem Tischtuche Striche zog. Bessonow verfolgte diesen Nagel mit den Blicken. Sein Gesicht war gespannt und blaß. Dascha glaubte in dem Lärm die Worte zu unterscheiden: »Alles, alles nimmt ein Ende.« Ein dicker tatarischer Kellner verdeckte die beiden vor ihr. Katja und Nikolai Iwanowitsch hatten sich erhoben und riefen Dascha, sie solle doch aufstehen. Und so blieb sie in dieser Stimmung: von Neugierde gepeinigt, aufgeregt und verwirrt.
Als sie auf die Straße traten, umfing sie die frostige Luft mit unerwarteter, süßer Frische. Am schwarzvioletten Himmel funkelten die Gestirne. Hinter Daschas Rücken sagte jemand: »Eine verdammt schöne Nacht!« Das Auto rollte ans Trottoir heran, und hinter ihm tauchte aus dem Benzindunst ein zerlumpter Kerl auf, der sich die Mütze vom Kopfe riß und vor Dascha tänzelnd den Wagenschlag öffnete. Dascha sah ihn im Einsteigen an: der Mann war mager und unrasiert, hatte einen schiefen Mund und zitterte am ganzen Leibe, während er die Ellenbogen an den Körper drückte. »Ich gratuliere zu dem im Tempel des Luxus und der sinnlichen Genüsse glücklich verbrachten Abend!« rief er laut mit heiserer Stimme. Dann fing er geschickt das Zwanzigkopekenstück auf, das ihm jemand hingeworfen hatte, und salutierte mit seiner zerrissenen Mütze. Dascha fühlte sich von seinen schwarzen, haßerfüllten Augen gestochen.
Man kam sehr spät heim. Dascha lag in ihrem Bette auf dem Rücken und schlief nicht, sie war nur halb bewußtlos vor Müdigkeit, ihr ganzer Körper war wie gelähmt.
Plötzlich riß sie sich stöhnend die Decke von der Brust, setzte sich auf und öffnete die Augen. Aus dem Fenster fiel auf das Parkett Sonnenlicht ... »Mein Gott, war das eben grauenhaft!« Es war so grauenhaft, daß sie beinahe weinte; als sie aber zu sich kam, zeigte sich, daß sie alles schon vergessen hatte. Im Herzen blieb nur der Schmerz von einem widerlichen und grauenhaften Traum.
* * *
Dascha ging nach dem Frühstück in die Hochschule, meldete sich zum Examen an, kaufte sich Lehrbücher und führte bis zum Mittagessen ein wirklich strenges Arbeitsleben: sie büffelte das verhaßte römische Recht. Abends mußte sie aber wieder seidene Strümpfe anziehen (sie hatte am Vormittag beschlossen, nur noch baumwollene zu tragen), die Arme und die Schultern pudern und sich frisieren. – Wenn ich mir einen einfachen Knoten im Nacken machen könnte, wie schön wäre das! Aber alle schreien: Mach dir eine moderne Frisur! Und wenn ich sie mir mache, fallen alle Haare auseinander. – Mit einem Wort, es war ein Martyrium. Das neue, blauseidene Kleid hatte aber vorne einen Fleck von Champagner.
Dieses Kleid tat Dascha plötzlich so leid, so leid tat ihr auch ihr unnütz dahingehendes Leben, daß sie sich mit dem verdorbenen Rock in der Hand hinsetzte und in Tränen ausbrach. In der Türe erschien Nikolai Iwanowitsch, als er aber Dascha im bloßen Hemd sitzen und weinen sah, rief er seine Frau. Katja kam gelaufen, packte das Kleid und sagte: »Das werden wir gleich haben!« Und sie rief den Großmogul, der sofort mit Benzin und heißem Wasser erschien.
Man reinigte das Kleid und zog Dascha an. Nikolai Iwanowitsch fluchte im Vorzimmer: »Es ist doch eine Première, meine Herrschaften, man darf nicht zu spät kommen!« Aber man kam natürlich doch zu spät.
Dascha saß in der Loge neben Jekaterina Dmitrijewna und hörte zu, wie ein großer Mann mit aufgeklebtem Bart und unnatürlich weit aufgerissenen Augen, unter einem flachen Baume zu einem Mädchen in einem grellrosafarbenen Kleide sprach: »Ssofja Iwanowna, ich liebe Sie, ich liebe Sie,« indem er dabei ihre Hand hielt. Obwohl das Stück gar nicht traurig war, hatte Dascha die ganze Zeit Lust, zu weinen und das Mädchen im grellrosafarbenen Kleid zu bemitleiden, und es war ihr ärgerlich, daß das Stück einen ganz anderen Verlauf nahm. Es zeigte sich, daß das Mädchen ihn liebte und zugleich auch nicht liebte. Als er sie umarmen wollte, lachte sie wie eine Nixe auf und lief zu dem Schurken, dessen weiße Hose im Hintergrunde zwischen den Baumstämmen schimmerte. Der Mann griff sich an den Kopf, sprach davon, daß er irgendein Manuskript – sein Lebenswerk – vernichten werde, und damit war der erste Akt zu Ende.
In der Loge erschienen Bekannte, und es begann die übliche, beschleunigte, etwas geschraubte Unterhaltung.
Der kleine Schönberg mit dem kahlen Schädel und dem glattrasierten, abgelebten Gesicht, das aus dem steifen Stehkragen herausspringen zu wollen schien, sagte, das Stück sei hinreißend. »Es ist wieder das Sexualproblem, aber außerordentlich scharf pointiert. Die Menschheit muß mit diesem verdammten Problem endlich einmal fertig werden.«
Der lange und mürrische Untersuchungsrichter Burow, dessen Frau um die Weihnachtszeit mit einem Rennstallbesitzer durchgebrannt war, meinte darauf: »Ich weiß nicht, wie es den anderen geht, für mich ist dieses Problem längst erledigt. Die Frau lügt schon durch die bloße Tatsache ihrer Existenz, der Mann aber lügt mit Hilfe der Kunst. Das Sexualproblem ist einfach eine Gemeinheit, und die Kunst – eine Form von Verbrechen.«
Nikolai Iwanowitsch lachte auf und sah seine Frau an. Burow fuhr düster fort: »Wenn für den Vogel die Brutzeit gekommen ist, kleidet sich das Männchen in einen bunten Schwanz. Das ist eine Lüge, denn sein Schwanz ist von Natur grau und nicht bunt. Am Baume geht eine Blüte auf, – auch das ist eine Lüge, ein Köder, denn das Wesen der Sache liegt in den häßlichen Wurzeln unter der Erde. Am meisten lügt aber der Mensch. An ihm wachsen keine Blumen, einen Schwanz hat er nicht, also muß er es mit der Zunge machen, – die Liebe und alles, was drum und dran ist, ist eine besonders gemeine Lüge. Diese Dinge sind nur für junge Mädchen im zarten Alter problematisch,« er schielte auf Dascha – »aber in unserer Zeit der allgemeinen Verdummung befassen sich mit diesem Unsinn die ernsthaftesten Menschen. Jawohl, das russische Reich leidet an einer Magenverstopfung.« Er beugte sich mit einer katarrhalischen Grimasse über die Bonbonschachtel, wühlte in ihr mit dem Finger, wählte ein Schokoladenbonbon mit Rum aus, seufzte, schob es sich in den Mund und führte das große Opernglas, das er an einem Riemen um den Hals hängen hatte, an die Augen.
Das Gespräch kam auf den Stillstand in der Politik und auf die Reaktion. Kulitschok berichtete, die Brauen bewegend und aufgeregt flüsternd, vom letzten Hofskandal.
»Entsetzlich, entsetzlich!« sagte Schönberg schnell. Nikolai Iwanowitsch schlug sich aufs Knie. »Eine Revolution, meine Herren, wir brauchen sofort eine Revolution! Sonst ersticken wir einfach. Ich habe Informationen,« fügte er leise hinzu, »daß es in den Fabriken sehr unruhig ist.«
Alle zehn Finger Schönbergs flogen vor Erregung in die Luft. »Aber wann, wann? Man kann doch nicht ohne Ende warten!«
»Wir werden es schon erleben, Jakow Alexandrowitsch,« versetzte Nikolai Iwanowitsch mit lustiger Miene. »Ihnen werden wir das Portefeuille des Justizministers geben, Exzellenz.«
Dascha langweilten diese Gespräche vom Sexualproblem, von der Revolution und den Portefeuilles. Sie stützte sich mit der einen Hand gegen die samtgepolsterte Brüstung der Loge, hielt mit der anderen Katja um die Taille gefaßt, blickte ins Parterre und lächelte den Bekannten zu. Dascha wußte und sah, daß sie und ihre Schwester beim Publikum Erfolg hatten, und diese Blicke, die sie in der Menge auffing, – die zärtlichen Männerblicke und die bösen Frauenblicke, – diese einzelnen Worte, die sie erhaschte, und die lächelnden Gesichter erregten sie wie berauschende Frühlingsluft. Die winterliche Stimmung war vergangen. Eine Locke Katjas kitzelte ihr die Wange am Ohr.
»Katjuscha, ich liebe dich!« flüsterte Dascha. »Und ich dich.«
»Freust du dich, daß ich bei dir wohne?«
»Ja, sehr.«
Dascha überlegte sich, was sie Katja noch Angenehmes sagen könnte. Und plötzlich erblickte sie unten Teljegin. Er stand im schwarzen Gehrock, den Hut und das Programm in den Händen und schielte schon lange nach der Loge der Smokownikows. Sein sonnverbranntes, scharfgeschnittenes Gesicht stach sehr von den übrigen Gesichtern ab, die entweder allzu weiß, oder allzu abgelebt waren. Sein Haar war viel blonder als Dascha es sich vorgestellt hatte, – es war wie reifes Korn.
Als ihre Blicke sich trafen, nickte er Dascha zu, und wandte sich gleich wieder weg, dabei fiel ihm aber der Hut aus der Hand. Als er sich bückte, um ihn aufzuheben, stieß er eine in der ersten Reihe sitzende dicke Dame an; er entschuldigte sich und schielte wieder nach der Loge; als er Dascha lachen sah, errötete er, wich zurück und trat dem Redakteur der ästhetischen Zeitschrift »Der Musenchor« auf den Fuß; nun winkte er resigniert mit der Hand und ging dem Ausgang zu.
Dascha sagte zu ihrer Schwester: »Katja, das ist Teljegin.«
»Ich sehe ihn, er ist sehr nett.«
»So nett, daß ich ihn abküssen könnte. Wenn du nur wüßtest, wie klug er ist, Katjuscha.«
»Weißt du, Dascha...«
»Was?«
Die Schwester sagte aber nichts weiter. Dascha erriet, was sie meinte, und verstummte gleichfalls. Ihr Herz krampfte sich wieder zusammen, – in ihrem Schneckenhause sah es gar nicht gut aus: sie hatte sich für einen Augenblick vergessen, als sie aber hineinblickte, war es darin so unruhig, dumpf und schwül.
Als der Saal wieder im Dunkeln lag und der Vorhang sich teilte, fühlte sich Dascha wie aus dem Hause gejagt, – sie konnte sich nirgends vor sich selbst retten. Sie seufzte auf und begann aufmerksam zuzuhören.
Der Mann mit dem aufgeklebten Bart drohte noch immer, ein Manuskript zu verbrennen; das junge Mädchen saß am Klavier und machte sich über ihn lustig. Es war klar, daß es viel besser wäre, dieses Mädchen schleunigst zu verheiraten, als die Geschichte noch durch ganze drei Akte hinzuziehen. Das Ganze war nichts anderes als Hysterie und Dummheit.
Dascha hob ihre Augen zur Saaldecke, – dort schwebte zwischen Wolken eine schöne, halbnackte Frau mit einem freudigen und heiteren Lächeln. – Mein Gott, wie die mir ähnlich sieht! dachte sich Dascha. Und im gleichen Moment sah sie sich gleichsam von der Seite: da sitzt so ein Geschöpf in der Loge, ißt Schokolade, lügt, redet Unsinn und wartet, daß mit ihr ganz von selbst etwas Ungewöhnliches geschehe. Aber es wird nichts geschehen. – Ich werde nicht leben, ehe ich nicht zu ihm gegangen bin, seine Stimme gehört und seine Nähe gefühlt habe. Alles andere ist Lüge. Man muß einfach ehrlich gegen sich selbst sein! –
* * *
Von diesem Abend an überlegte sich Dascha nicht mehr, ob sie Bessonow wirklich liebe oder sich nur in sündiger Willenlosigkeit, von einer krankhaften Neugier zu ihm hingezogen fühle. Jetzt wußte sie, daß sie ihn aufsuchen würde, und sie fürchtete diese Stunde. Eine Zeitlang war sie fest entschlossen, zu ihrem Vater nach Ssamara zu fahren, aber sie sagte sich, daß diese fünfzehnhundert Werst sie vor der Versuchung nicht retten könnten, und gab jeden Widerstand auf.
Ihre gesunde Jungfräulichkeit lehnte sich auf, aber was konnte sie mit jenem »andern Menschen« anfangen, den alles in der Welt unterstützte! Schließlich war es unerträglich beleidigend, so lange zu leiden und an diesen Bessonow zu denken, der sich um sie nicht im geringsten kümmerte, sehr vergnügt irgendwo in der Nähe des Kamennoostrowskij-Prospekts wohnte und Verse auf die Schauspielerin mit den Spitzenjupons schrieb. Dascha war aber vollständig von ihm erfüllt und lebte nur in ihm. Sie fing an, sich zu vernachlässigen. Sie scheitelte sich nun das Haar ganz glatt und band es zu einem Knoten im Nacken, trug ihr altes Kleid, das sie noch als Gymnasiastin getragen und aus Ssamara mitgebracht hatte, büffelte düster und trotzig das römische Recht, erschien nicht, wenn Gäste im Hause waren, und verzichtete auf alle Zerstreuungen.
Anfang April, an einem kühlen Abend, als das Abendrot schon verglommen war und der blaßgrüne Himmel mit einem phosphorischen Scheine leuchtete, der keine Schatten erzeugte, kehrte Dascha zu Fuß von den Inseln zurück.
Zu Hause hatte sie gesagt, daß sie in die Hochschule gehe, war aber statt dessen mit der Trambahn bis zur Jelagin-Brücke gefahren und den ganzen Abend durch die nackten Alleen geirrt und hatte das Wasser, die in den orangegelben Himmel ragenden lilagrauen Äste, die Gesichter der Passanten und die hinter den moosbewachsenen Baumstämmen vorbeiziehenden Lichter der Equipagen betrachtet. Sie dachte an nichts und hatte keine Eile.
Es war ihr so ruhig zumute, und sie fühlte sich ganz von der salzigen Frühlingsluft, die vom Meere her zog, erfüllt. Sie war schon recht müde geworden, hatte aber keine Lust, nach Hause zurückzukehren, ins Zimmer, wo sie schon so viele schwüle Gedanken gehabt hatte.
Über den breiten Kamennoostrowskij-Prospekt fuhren im Trab Equipagen, rollten langgestreckte Automobile und bewegten sich scherzend und lachend Gruppen von Spaziergängern. Dascha bog in eine Seitenstraße ein.
Hier war es ganz still und leer. Über den Dächern leuchtete grün der Himmel. Aus fast jedem Hause tönte hinter den heruntergelassenen Vorhängen Musik. Hier wurde eine Sonate geübt, dort klang ein alter, bekannter Walzer, und dort schwebten aus einem im Abendrot glühenden Fenster im Mezzanin die vier Kristallstimmen einer Fuge. Es klang, als singe in der Stille dieses blauen Abends der Himmel selbst.
Auch Dascha war ganz von Tönen erfüllt, und alles in ihr sang und trauerte. Ihr Körper schien auf einmal so leicht und rein und makellos.
Sie bog um die Ecke, las an der Mauer die Hausnummer, lächelte, trat vor die Tür, wo über einem Löwenkopf aus Messing die Visitenkarte »A. Bessonow« prangte, und zog kräftig an der Klingel.