Graf Alexej N. Tolstoi
Höllenfahrt
Graf Alexej N. Tolstoi

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XII

In diesem Sommer herrschte in der Krim ein ungewöhnlicher Zulauf von Fremden aus dem Norden. Längs des ganzen Strandes irrten die stachligen Petersburger mit abblätternden Nasen und Magen- und Bronchialkatarrhen, die lauten, zerzausten Moskauer mit ihrer trägen und singenden Redeweise, die schwarzäugigen Kiewer, die zwischen den Vokalen »o« und »a« nicht unterschieden, und die dieses ganze europäisch-russische Getue verachtenden Sibirier. Junge Frauen und langbeinige Jünglinge, Geistliche, Beamte und ehrwürdige Familienväter ließen sich hier in der Sonne rösten und lebten dabei alle so, wie damals ganz Rußland lebte: ein zerfahrenes und lendenlahmes Leben.

Im Hochsommer verloren alle diese Menschen vor dem Salzwasser, der Hitze und dem Sonnenbrand jedes Schamgefühl; die Stadtkleider schienen ihnen plötzlich trivial, und am Strande zeigten sich Damen, die ihre Blöße notdürftig mit tatarischen Handtüchern bedeckten, und Männer, die an die Darstellungen auf etruskischen Vasen erinnerten.

In dieser ungewöhnlichen Kombination der blauen Wellen, das heißen Sandes und der überall wimmelnden nackten Körper kamen alle Stützen des Familienlebens ins Wanken. Alles erschien hier leicht und erreichbar. Was aber die spätere Abrechnung im Norden betraf, in der langweiligen Wohnung, wenn es draußen regnet, im Vorzimmer das Telephon schrillt und alle sich gegen jemand verpflichtet fühlen, – wer dachte an diese Abrechnung! Das Meereswasser rollte mit leisem Rauschen an den Strand, berührte die Füße, den ganzen im Sande ausgestreckten Körper, die im Nacken verschränkten Hände und die geschlossenen Lider, – es war so leicht, heiß und süß. Alles, alles, selbst das Gefährliche war leicht und süß.

In diesem Sommer gingen aber der Leichtsinn und die Prinzipienlosigkeit der Fremden über alle Grenzen: als wäre an einem Junimorgen eine gigantische Protuberanz aus der Sonnenkugel herausgeschleudert worden und hätte diesen Hunderttausenden von Stadtbewohnern die Vernunft und das Gedächtnis aus den Köpfen geschlagen.

Den ganzen Strand entlang gab es kein einziges Haus, wo alles m Ordnung war. Die dauerhaftesten Bande wurden plötzlich zerrissen. Die ganze Luft schien von Liebesgeflüster, zärtlichem Lachen und jenem unbeschreiblichen Blödsinn erfüllt, der auf dieser heißen, von Trümmern uralter Städte und Gebeinen ausgestorbener Völker übersäten Erde zusammengeredet wurde. Es war, als bereite sich für die Zeit der Herbstregen eine allgemeine Abrechnung unter bitteren Tränen vor.

* * *

Dascha näherte sich Jewpatoria am Nachmittag. Nicht weit vor der Stadt erblickte sie von der staubigen Landstraße, die sich als weißes Band durch die flache Steppe, inmitten von Salzlachen, Strohhaufen und vereinzelten langgestreckten Bauten zog, ein großes hölzernes Schiff, das sich gegen die Sonne abhob. Es bewegte sich langsam, eine halbe Werst von ihr entfernt, über die Steppe, durch Wermutfelder und war von oben bis unten mit schwarzen, seitwärts gestellten Segeln bedeckt. Das war so erstaunlich, daß Dascha förmlich aufschrie. Ein alter Armenier, der neben ihr im Postauto saß, erklärte ihr lachend: »Gleich wirst du das Meer sehen.«

Das Auto fuhr an den quadratischen Teichen der Salzsiedereien vorbei eine sandige Anhöhe hinauf, und nun wurde das Meer sichtbar. Es lag höher als die Erde, dunkelblau, von weißen langen Schaumschnüren bedeckt. Ein lustiger Wind pfiff um die Ohren. Dascha drückte ihr ledernes Köfferchen auf den Knien zusammen und dachte sich: Da ist es. Nun geht es los!

Nikolai Iwanowitsch Smokownikow saß um diese Zeit im Pavillon, der auf Pfählen ins Wasser ragte, und trank mit dem ersten Liebhaber und Räsonneur Kaffee. Die Badegäste, die nach dem Essen schon ausgeruht hatten, kamen einzeln herbei, begrüßten einander und sprachen vom Nutzen der Jodkur, von den Seebädern und von Frauen. Im Pavillon war es kühl. Der Wind spielte mit den weißen Tischtüchern und den Schleiern der Damen. Eine Yacht mit einem Segel zog vorbei, und aus ihr rief jemand: »Sagen Sie Ljolja, daß wir sie erwarten.« Es erschien eine große Gesellschaft von Moskauern, lauter Weltberühmtheiten, die sich an einem langen Tische niederließen. Als der erste Liebhaber und Räsonneur sie sah, verzog er das Gesicht und fuhr fort, den Inhalt des Dramas, das er schreiben wollte, zu erzählen.

»Wenn nicht dieser verdammte Kognak wäre, hätte ich den ersten Akt schon längst fertig,« sagte er und sah Nikolai Iwanowitsch mit einem edlen Denkerblick ins Gesicht. »Du bist ein heller Kopf, Kolja, und wirst meine Idee verstehen: eine schöne, junge Frau verzehrt sich in Sehnsucht, ihre Umgebung ist abgeschmackt und trivial. Es sind zwar gute Menschen, aber das Leben hat sie verkrüppelt, – morsche Gefühle und Trunksucht ... Mit einem Worte, du verstehst mich ... Und plötzlich sagt sie: ›Ich muß fort, ich muß diesem Leben ein Ende machen, ich muß dorthin, wo das Licht strahlt ... ‹ Nun hat sie aber einen Mann und einen Freund... Beide leiden.. Kolja, begreife doch, das Leben hat sie verkrüppelt ... Sie geht weg, ich sage nicht zu wem, – sie hat keinen Geliebten, es handelt sich hier nur um die Stimmung. ... Zwei Männer sitzen in einer Kneipe, schweigen und trinken ... Sie schlucken die Tränen zugleich mit dem Kognak ... Und der Wind im Kamin heult und singt ihnen die Totenmesse... Traurig ... Leer ... Finster...«

»Willst du mein Urteil hören?« fragte Nikolai Iwanowitsch.

»Ja. Wenn du mir bloß sagst: Mischa, gib das Schreiben auf, so geb ich es sofort auf.«

»Dein Stück ist wunderbar. Es ist das Leben selbst.« Nikolai Iwanowitsch schloß die Augen und schüttelte den Kopf. »Ja, Mischa, wir haben unser Glück nicht zu schätzen verstanden und haben es verloren; nun sitzen wir ohne Hoffnung, ohne Willen da und trinken. Und der Wind heult über unsern Gräbern. ... Dein Stück regt mich außerordentlich auf. ...«

Dem ersten Liebhaber und Räsonneur zitterten die großen Säcke unter den Augen; er beugte sich vor, küßte Nikolai Iwanowitsch auf den Mund, drückte ihm die Hand und schenkte sich und ihm neuen Kognak ein. Sie stießen an, legten die Ellenbogen auf den Tisch und fuhren in ihren Herzensergüssen fort.

»Kolja,« sagte der erste Liebhaber und Räsonneur, den schweren Blick auf sein Gegenüber gerichtet: »weißt du auch, daß ich deine Frau wie einen Gott geliebt habe?«

»Ja, ich hatte den Eindruck.«

»Ich quälte mich, Kolja, aber du warst mein Freund ... Wie oft hatte ich dein Haus geflohen und mir geschworen, nie wieder über deine Schwelle zu treten ... Aber ich kam wieder und spielte den Hanswurst. ... Du darfst sie nicht anklagen, Nikolai!« Er streckte die Lippen vor und legte sie zu einer wütenden Grimasse zusammen.

»Mischa, sie hat an mir grausam gehandelt.«

»Möglich ... Aber wir sind alle schuldig gegen sie. ... Ach, Kolja, eines nur kann ich an dir nicht begreifen: wie kamst du dazu, als du mit einer solchen Frau zusammenlebtest, mit der man nur kniend sprechen konnte, nimm es mir nicht übel, dich mit einer Witwe Tschimirjasewa einzulassen. Warum?«

»Das ist eine komplizierte Frage.«

»Du lügst. Ich hab sie doch gesehen. Eine ganz gewöhnliche Henne.«

»Siehst du, Mischa, dies gehört jetzt schon der Vergangenheit an und ist längst erledigt ... Ssofja Iwanowna Tschimirjasewa war einfach ein guter Mensch. Sie gab mir Augenblicke der Freude und verlangte von mir nichts. Zu Hause war aber alles viel zu kompliziert, schwer und vertieft. ... Für Jekaterina Dmitrijewna reichten meine Seelenkräfte nicht aus!!«

»Kolja, wie ist es nun: wenn wir nach Petersburg zurückkehren, werde ich dann am Dienstag nach der Vorstellung nicht mehr zu euch kommen? ... Wie soll ich leben? ... Hör ... Wo ist deine Frau jetzt?«

»In Paris.«

»Korrespondierst du mit ihr?«

»Nein.«

»Fahr nach Paris. Fahren wir zusammen hin.«

»Hat keinen Zweck ...«

»Kolja, trinken wir auf ihr Wohl.«

»Meinetwegen.«

Im Pavillon erschien zwischen den Tischen die Schauspielerin Tscharodejewa in einem durchsichtigen, grünen Kleid und großem Hut, mager wie eine Schlange, mit blauen Schatten unter den Augen. Ihr Rückgrat schien wenig Halt zu haben: sie wand sich und schwankte in einem fort. Der Redakteur der ästhetischen Zeitschrift »Der Musenchor« stand vor ihr auf, ergriff ihre Hand und küßte sie bedächtig auf den Ellenbogen.

»Ein wunderbares Weib«, sagte Nikolai Iwanowitsch durch die Zähne.

»Nein, Kolja, nein. Die Tscharodejewa ist einfach ein Aas. Was ist denn an ihr? ... Sie hat drei Monate mit Bessonow gelebt und bei literarischen Abenden hypermoderne Gedichte gemiaut: das ist alles ... Sieh nur, sieh, – der Mund geht bis zu den Ohren, am Halse sind alle Adern zu sehen. Man sollte sie mit einem Besen von der Bühne jagen, das sage ich schon längst. ...«

Als aber die Tscharodejewa, mit dem Hut nach rechts und links nickend und mit ihrem großen Mund mit den rosa Zähnen lächelnd, sich ihrem Tische näherte, stand der erste Liebhaber und Räsonneuer, wie überwältigt, langsam auf, schlug die Hände zusammen, faltete sie dann unter dem Kinn und stammelte: »Liebe ... Ninotschka ... Diese Toilette! ... Ich will nicht, ich will nicht. ... Mir ist absolute Ruhe verordnet. Liebste. ...«

Die Tscharodejewa nahm ihn mit ihrer knochigen Hand am Kinn, rümpfte die Nase und fragte: »Was hast du gestern im Restaurant über mich geschwatzt?«

»Ich hätte gestern im Restaurant auf dich geschimpft? Aber Ninotschka!«

»Und wie!«

»Mein Ehrenwort, man hat mich verleumdet.«

Die Tscharodejewa legte ihm lachend ihre Hand auf den Mund: du weißt doch, daß ich dir nicht lange zürnen kann. Dann wandte sie sich mit einer veränderten Stimme, als spiele sie in einem Salonstück, an Nikolai Iwanowitsch: »Ich ging soeben an Ihrem Zimmer vorbei: Sie haben Besuch bekommen, ich glaube es ist eine Verwandte von Ihnen, – ein entzückendes Geschöpf.«

Nikolai Iwanowitsch warf seinem Freund einen schnellen Blick zu, nahm dann von der Untertasse seinen Zigarrenstummel und sog so eifrig daran, daß sein ganzer Bart zu rauchen anfing.

»So unerwartet,« sagte er, »was mag das sein?... Ich laufe hin.« Er warf die Zigarre ins Meer und stieg, seinen Stock mit dem Silbergriff schwingend, den Hut im Nacken, die Stufen zum Strande hinunter. Als er in sein Hotel kam, war er schon ganz atemlos. ...

»Dascha, wie kommst du her? Was ist geschehen?« fragte er und schloß die Tür hinter sich. Dascha saß auf dem Boden neben dem offenen Reisekoffer und stopfte einen Strumpf. Als der Schwager ins Zimmer trat, stand sie langsam auf, bot ihm die Wange zum Kusse und sagte zerstreut: »Ich freue mich, dich wiederzusehen. Papa und ich haben beschlossen, daß du nach Paris fahren sollst. Ich habe dir zwei Briefe von Katja mitgebracht ... Hier. Lies sie, bitte.«

Nikolai Iwanowitsch nahm ihr die Briefe aus der Hand und trat ans Fenster. Dascha kleidete sich im Nebenzimmer um und hörte, wie die Briefbogen in seinen Händen knisterten, wie er seufzte und dann stille wurde. Dascha wartete gespannt auf das weitere.

»Hast du schon gegessen?« fragte er plötzlich. »Wenn du Hunger hast, so komm in den Pavillon.« Sie dachte: er liebt sie nicht mehr. – Sie stülpte sich mit beiden Händen das Hütchen auf und beschloß, das Gespräch über Paris auf morgen aufzuschieben.

Auf dem Wege zum Pavillon schwieg Nikolai Iwanowitsch und sah zu Boden; als ihn aber Dascha fragte: »Badest du?« – hob er erfreut den Kopf und erzählte, daß sie hier einen Verein zum Kampfe gegen die Badeanzüge gebildet hätten, der in erster Linie hygienische Zwecke verfolge. »Denke dir: während einer Badekur von vier Wochen an diesem Strande nimmt der Organismus selbsttätig viel mehr Jod auf, als man ihm in dieser Zeit künstlich zuführen könnte. Außerdem absorbierst du dabei die Sonnenstrahlen und die Wärme des Sandes. Bei uns Männern geht es noch, denn wir tragen nur einen schmalen Lendenschurz, aber die Frauen bedecken fast zwei Drittel ihres Körpers. Wir haben einen energischen Kampf dagegen begonnen ... Am Sonntag halte ich einen Vortrag über dieses Thema, dann veranstalten wir ein Konzert.«

Sie gingen dicht am Wasser über den hellgelben sammetweichen Sand, der aus flachen, von den Wellen geschliffenen kleinen Muscheln bestand. Nicht weit von ihnen, wo die flachen Wellen gegen die Sandbank rollten und zischend zu Schaum zerschellten, schaukelten wie Korke zwei junge Mädchen in roten Hauben.

»Unsere Adeptinnen«, bemerkte Nikolai Iwanowitsch ernst. In Dascha wuchs immer stärker ein eigentümliches Gefühl von Aufregung oder Unruhe. Das hatte schon in dem Augenblick begonnen, als sie in der Steppe das schwarze Schiff erblickte.

Dascha blieb stehen und beobachtete, wie das Wasser als dünne Haut über den Sand lief und, kleine Bächlein zurücklassend, sich wieder zurückzog; diese Berührung von Wasser und Erde war so freudig und ewig, daß Dascha sich hinhockte und die Hände ins Wasser tauchte. Ein kleiner, flacher Taschenkrebs rannte seitwärts davon, ließ eine kleine Sandwolke aufsteigen und verschwand in der Tiefe. Die Welle benetzte Daschas Arme bis über die Ellenbogen.

»Du bist irgendwie verändert,« sagte Nikolai Iwanowitsch blinzelnd: »entweder bist du noch hübscher geworden, oder du hast abgenommen, oder es ist für dich einfach Zeit zum Heiraten.«

Dascha wandte sich um und sah ihn etwas sonderbar an; dann richtete sie sich auf und ging, ohne die Hände abzutrocknen, zum Pavillon, wo der erste Liebhaber und Räsonneur mit seinem Strohhut winkte.

Man fütterte Dascha mit Fleischpasteten und gab ihr Champagner zu trinken; der erste Liebhaber und Räsonneur tat sehr geschäftig, verfiel ab und zu in einen Starrkrampf, flüsterte wie vor sich hin »Mein Gott, wie hübsch sie ist!« und stellte ihr irgendwelche Jünglinge, Zöglinge der Theaterschule, vor, die alle Fragen mit erstickten Stimmen wie in der Beichte beantworteten. Nikolai Iwanowitsch fühlte sich durch diesen Erfolg »seiner Dascha« geschmeichelt und erregt.

Dascha trank Wein, lachte, aß, was man ihr vorsetzte, streckte ihre Hand zum Kusse aus und blickte unverwandt auf das im blauen Lichte strahlende, aufgewühlte Meer. – Das ist das Glück, dachte sie sich und hatte Lust zu weinen.

* * *

Nach dem Bade und einem Spaziergang gingen sie zum Abendessen ins Hotel. Hier war es hell, elegant und geräuschvoll. Der erste Liebhaber und Räsonneur sprach viel und überzeugt von der Liebe. Nikolai Iwanowitsch, der immer auf Dascha sah, trank etwas zu viel und wurde traurig. Dascha aber blickte die ganze Zeit durch einen Spalt zwischen den Vorhängen hinaus und sah draußen flüssige Reflexe erscheinen, vorbeigleiten und verschwinden. Schließlich stand sie auf und ging an den Strand. Ein klarer und runder Mond hing so niedrig wie in den Märchen Scheherezades im blausilbernen Abgrund über der schuppigen Lichtstraße, die sich übers ganze Meer hinzog. Dascha verschränkte die Finger und ließ sie in den Gelenken knacken.

Als sie die Stimme Nikolai Iwanowitschs hinter sich hörte, ging sie schnell längs dem Wasser entlang weiter, das den Strand schläfrig beleckte. Im Sande saß eine weibliche Figur, in ihren Schoß hatte eine männliche den Kopf gelegt. Etwas weiter schwamm zwischen den zitternden Reflexen im schwarz-lila Wasser ein Menschenkopf, und zwei Augen, in denen sich der Mond spiegelte, verfolgten sie lange mit den Blicken. Noch weiter standen zwei aneinandergeschmiegte Menschen; als Dascha an ihnen vorbei war, hörte sie einen Seufzer und einen Kuß.

Aus der Ferne rief man: »Dascha, Dascha!« Sie setzte sich in den Sand, legte die Ellenbogen auf die Knie und stützte das Kinn. Wäre jetzt Teljegin gekommen und hätte sich an ihre Seite gesetzt, ihren Leib umschlungen und mit einer ernsten und leisen Stimme gefragt: »mein?«, so hätte sie geantwortet: »Dein.«

Hinter einem Sandhügel rührte sich eine graue, auf dem Rücken liegende Gestalt; sie setzte sich auf, senkte den Kopf, blickte lange auf die wie zur Ergötzung von Kindern spielende Mondlichtstraße, stand auf und ging langsam und traurig, wie gestorben, an Dascha vorbei. Und Dascha erkannte mit heftigem Herzklopfen Bessonow.

So begannen für Dascha die letzten Tage der alten Welt. Es blieben nur noch wenige solche von der Glut des verglimmenden Sommers erfüllte, freudige und sorglose Tage. Aber die Menschen, die immer glauben, daß der kommende Tag ebenso heiter sein werde wie die blaulichen Umrisse der Berge in der Ferne, selbst die klugen und tiefblickenden Menschen konnten das, was außerhalb des Augenblicks ihres Lebens lag, weder sehen noch wissen. Hinter dem vielfarbigen, von Düften geschwängerten, vom Pochen aller Lebenssäfte erfüllten Augenblick lag ein totes und unfaßbares Dunkel. ... Der Blick, das Gefühl und der Gedanke konnten dort auch nicht um eines Haares Breite eindringen, und nur wenige nahmen vielleicht mit einem dunklen Gefühl, wie es die Tiere vor einem Gewitter haben, das Herankommende wahr. Dieses Gefühl war eine unerklärliche Unruhe. Die Menschen beeilten sich zu leben. In dieser Zeit senkte sich aber wirbelnd und rasend eine Wolke mit triumphierenden und drohenden, sinkenden und ersterbenden Umrissen auf die Erde herab. Dies ließ sich nur an dem Streifen des Sonnenschattens erkennen, der über das ganze alte, sündige Erdenleben vom Südosten nach Nordwesten einen Strich zog.


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