Graf Alexej N. Tolstoi
Höllenfahrt
Graf Alexej N. Tolstoi

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XXXIII

Iwan Iljitsch hatte die Absicht, in den Feiertagen nach Moskau zu fahren, wurde aber von der Direktion nach Schweden kommandiert, von wo er erst im Februar zurückkehrte. Gleich nach seiner Rückkehr erbat er sich einen dreiwöchigen Urlaub und telegraphierte Dascha, daß er am sechsundzwanzigsten des Monats kommen werde.

Vor seiner Abreise mußte er eine ganze Woche Dienst in den Werkstätten versehen. Iwan Iljitsch staunte über die Veränderung, die hier während seiner Abwesenheit vorgegangen war; die Direktion war so höflich und entgegenkommend wie noch nie, die Arbeiter aber fletschten die Zähne und waren so böse, daß man jeden Augenblick erwartete, einer von ihnen würde den Schraubenschlüssel zu Boden schleudern und schreien: »Schluß gemacht! Schlagt die Drehbänke kaput!«

Die Arbeiter regten sich in diesen Tagen ganz besonders über die Sitzungsberichte der Reichsduma auf, in der über die Verpflegungsfrage verhandelt wurde. Aus diesen Berichten ging deutlich hervor, daß die Regierung, kaum noch ihre Geistesgegenwart und Würde wahrend, sich mit letzten Kräften gegen die Angriffe wehrte, daß die Minister nicht mehr wie göttliche Helden, sondern wie gewöhnliche Menschen sprachen, und daß die Wahrheit nicht in ihren Reden und den Dumadebatten lag: sie war vielmehr in aller Munde und in den unheilkündenden, dunkeln Gerüchten vom allgemeinen und baldigen Zusammenbruch der Front und des Hinterlandes vor Hunger und Desorganisation.

An seinem letzten Dienstage fiel Iwan Iljitsch eine besondere Unruhe unter den Arbeitern auf. Sie ließen jeden Augenblick ihre Arbeit liegen, standen tuschelnd beieinander und schienen auf irgendwelche Nachrichten zu warten. Als er Wassilij Rubljow fragte, worüber sich die Arbeiter berieten, warf sich dieser plötzlich seinen wattierten Rock wütend über die Schulter, ging aus der Werkstatt und schlug die Tür krachend ins Schloß.

»Dieser Wassilij ist furchtbar böse geworden«, sagte Iwan Rubljow. »Er trägt immer einen Revolver in der Tasche herum.«

Wassilij kam aber bald zurück, die Arbeiter liefen von allen Drehbänken herbei und umringten ihn in der Tiefe der Werkstatt. »Bekanntmachung des Befehlshabers der Truppen des Petersburger Militärbezirks, Generalleutnants Chabalow,« las Wassilij laut, jedes Wort betonend, von einem weißen Zettel ab, den er in der Hand hielt. »In den letzten Tagen findet die Abgabe von Mehl und die Erzeugung von Brot in den Bäckereien in der gleichen Menge wie bisher statt. ...«

»Er lügt, er lügt!« riefen die Stimmen. »Seit drei Tagen gibt's kein Brot!«

»Ein Mangel an Brot darf nicht eintreten«, las Wassilij weiter.

»Ja, er hat es halt angeordnet!«

»Wenn aber in einigen Geschäften das Brot nicht ausreicht, so kommt es daher, weil viele, aus Angst vor Brotknappheit, solches auf Vorrat kauften und es zu Zwieback rösteten. ...«

»Wer röstet Zwieback? Zeig mir diesen Zwieback!« schrie eine Stimme wie wahnsinnig. »Man müßte ihm selbst einen Zwieback in die Kehle stopfen, diesem Generalleutnant!«

»Schweigt, Genossen!« überschrie Wassilij alle. »Soll uns Chabalow diese Zwiebäcke zeigen. Genossen, wir müssen auf die Straße gehen. ... Von den Baltischen Werken kommen viertausend Arbeiter auf den Newskij. ... Aus der Wyborgschen Vorstadt kommen die Weiber. ... Man hat uns lange genug mit Bekanntmachungen abgespeist!«

»Richtig! Soll man uns das Brot zeigen! Wir wollen Brot!«

»Man wird euch kein Brot zeigen, Genossen. In der Stadt reicht das Mehl bloß für drei Tage, und dann wird es weder Mehl noch Brot geben. Alle Züge stecken hinter dem Ural. ... Hinter dem Ural sind alle Magazine mit Getreide verstopft. ... In Tscheljabinsk verfaulen drei Millionen Pud Fleisch auf der Station. ... In Sibirien macht man aus Kuhbutter Kerzen. ...«

Aus der Menge, die Rubljow umringte, trat ein Bursche mit schiefen Schultern und fing an, sich vor die Brust zu schlagen und zu schreien: »Wozu erzählst du mir das? ...«

»Schluß gemacht! ... Löscht die Öfen!« riefen die Arbeiter, über die Werkstätte laufend.

Wassilij Rubljow ging auf Iwan Iljitsch zu. Sein Schnurrbart zitterte. »Geh,« sagte er deutlich, »geh, solange du heil bist!«

* * *

Iwan Iljitsch schlief den Rest dieser Nacht schlecht und erwachte an einer Unruhe im ganzen Körper. Der Morgen war trüb; draußen tropfte es auf das Fensterblech. Iwan Iljitsch lag da und versuchte seine Gedanken zu sammeln, die Unruhe wollte nicht weichen, und die Tropfen reizten ihn, als fielen sie in sein Gehirn. – Ich brauche nicht auf den sechsundzwanzigsten zu warten, sondern will gleich morgen fahren, dachte er sich. Dann zog er sein Hemd aus, ging nackt ins Badezimmer, ließ die Dusche laufen und stellte sich in das eiskalte, peitschende Geriesel.

Vor der Abreise hatte Iwan Iljitsch noch vieles zu erledigen. Er trank schnell seinen Kaffee aus, trat auf die Straße, sprang in eine überfüllte Trambahn und fühlte sich wieder von der früheren Unruhe ergriffen. Die Fahrgäste saßen wie immer düster schweigend da, zogen die Beine ein und zerrten gehässig die Mantelschöße unter den Gesäßen der Nachbarn heraus; der Boden war schmutzig, an den Fensterscheiben liefen Tropfen, und die Klingel auf der vorderen Plattform bimmelte unaufhörlich und aufreizend. Iwan Iljitsch gegenüber saß ein Militärbeamter mit kränklichem, gelbem Gesicht; sein bartloser Mund war zu einem schiefen Lächeln erstarrt, seine bleiernen Augen blickten fragend mit einer ihnen sonst sicher nicht eigenen Lebhaftigkeit. Iwan Iljitsch sah sich aufmerksam um und merkte, daß alle Fahrgäste einander ebenso fragend und ratlos anblickten.

An der Ecke des Großen Prospektes blieb der Wagen stehen. Nach einer Sekunde gerieten die Fahrgäste in Bewegung und sahen sich um, einige sprangen von der Plattform. Der Wagenführer nahm die Kurbel ab, steckte sie in den Busen seines blauen Mantels, öffnete die Vordertür und rief unruhig und böse ins Innere des Wagens: »Der Wagen geht nicht weiter.«

Auf dem Kamennoostrowskij- und auf dem ganzen Großen Prospekt, soweit das Auge reichte, stauten sich die Trambahnwagen. Die Bürgersteige wimmelten von Menschen. Rasende Gassenjungen, eine Ausgeburt des Krieges, liefen herum. Hie und da ging an einem Ladenfenster dröhnend der eiserne Rolladen hinunter. Es schneite spärliche, nasse Flocken.

Auf dem Dache eines der Trambahnwagen erschien ein Mann in einem langen, vorne offenen Mantel; er riß sich die Mütze vom Kopf und schien etwas zu schreien. Durch die Menge ging ein Stöhnen, – Oh– oh–oh. ... Der Mann fing an, einen Strick an das Wagendach festzumachen; dann richtete er sich wieder auf und riß wieder die Mütze vom Kopfe. »Oh–oh–oh. ...« rollte es durch die Menge. Der Mann sprang auf das Pflaster hinunter. Die Menge flutete zurück, und nun konnte man sehen, wie ein dicht zusammengedrängter Haufen von Menschen, über den schmutzigen Schnee gleitend, am Stricke zog, der an den Trambahnwagen festgebunden war. Der Wagen neigte sich auf die Seite. Die Menge flutete noch weiter zurück, die Gassenjungen pfiffen. Der Wagen schwankte eine Weile hin und her und blieb dann doch stehen, man hörte, wie die Räder gegen die Schienen schlugen. Nun liefen von allen Seiten noch mehr Menschen herbei, die mit besorgten Mienen, schweigend den Strick ergriffen. Der Wagen kam wieder ins Schwanken und stürzte plötzlich um, die Scheiben klirrten. Die Menge drängte, immer noch schweigend, zum umgeworfenen Wagen hin.

»Nun geht es los!« rief hinter Iwan Iljitsch eine vergnügte Stimme. Und im gleichen Augenblick begannen einige Kehlen etwas unsicher das Revolutionslied zu singen:

»Ihr fielet als Opfer im Freiheitskampf. ...«

Auf dem Wege zum Newskij begegnete Iwan Iljitsch den gleichen verständnislosen Blicken und unruhigen Gesichtern. Überall sammelten sich wie kleine Wasserwirbel gierige Zuhörer um die Träger der Neuigkeiten. Vor den Haustüren standen gemästete Portiers; Dienstmädchen steckten ihre Nasen heraus und blickten auf die Straße, in deren Tiefe sich die Menge staute. Ein Herr mit gepflegtem Vollbart, eine Aktentasche unter dem Arm, in einem aufgeknöpften Iltispelz erkundigte sich bei einem Hausknecht: »Sagen Sie mir, lieber Freund, was ist das für ein Auflauf? Was geht dort eigentlich vor?«

»Sie wollen Brot, sie revoltieren, Herr.«

»So, so!«

Etwas weiter stand an einer Straßenkreuzung eine blasse Dame mit verweintem Gesicht, ein schwindsüchtiges Hündchen mit hängendem, zitterndem Hintern im Arm; sie fragte alle Vorbeigehenden: »Was ist das dort für eine Menge? ... Was wollen die Leute?«

»Es riecht nach Revolution, meine Gnädige,« sagte ihr im Vorbeigehen, sichtlich erfreut, der Herr im Iltispelz.

Über das Trottoir ging ein Arbeiter, die Schöße seines Halbpelzes flatterten, sein ungesundes Luchsgesicht zuckte. »Genossen,« rief er mit gebrochener, weinerlicher Stimme, sich plötzlich umwendend, »werden sie noch lange unser Blut trinken?«

Ein junger Offizier, beinahe ein Knabe, mit dicken Backen, ließ seine Droschke halten und betrachtete, sich am Gürtel des Kutschers festhaltend, die wogenden Menschenmassen wie eine Sonnenfinsternis.

»Ja, schau nur, schau nur!« rempelte ihn ein vorbeigehender Arbeiter an.

Die Menge wurde immer größer und füllte schon die ganze Straße; sie brauste unruhig und rückte in der Richtung zur Brücke vor. An drei Stellen tauchten weiße Fahnen auf. Die Passanten wurden wie Späne von einem Strom mitgerissen. Iwan Iljitsch ging mit der Menge über die Brücke. Über das neblige, schneeverwehte und von Fußspuren wie von einem Aussatz bedeckte Marsfeld sprengten einige Reiter. Als sie die Menge erblickten, wendeten sie ihre Pferde um und kamen im Schritt näher. Einer von ihnen, ein rotwangiger Oberst mit Backenbart, führte die Hand lächelnd an den Mützenrand. In der Menge erklang ein schwerfälliger und düsterer Gesang. Aus dem Nebel des Sommergartens, von den dunklen, nackten Ästen erhoben sich wie Fetzen die Krähen, die einst die Mörder des Kaisers Paul erschreckt hatten.

Iwan Iljitsch ging vor der Menge, ein Krampf schnürte seine Kehle zusammen. Er räusperte sich, aber die Erregung stieg ihm immer wieder auf, und Tränen wollten ihm aus den Augen stürzen. Als er das Ingenieurschloß erreichte, bog er nach links ab und ging zum Litejnyj. In den Litejnyi-Prospekt ergoß sich von der Petersburger Seite her eine zweite Menge, die die ganze Brücke füllte. In allen Torwegen standen Neugierige, in allen Fenstern drängten sich erregte Gesichter.

Iwan Iljitsch blieb in einem Torwege neben einem alten Beamten mit zitternden Hundewangen stehen. Rechts in der Ferne war die Straße von einer Kette Soldaten abgesperrt, die unbeweglich, auf die Gewehre gestützt, standen.

Die Menge kam näher und verlangsamte ihre Schritte. Erschrockene Stimmen riefen in ihre Tiefe: »Stehen bleiben, halt! ...« Gleich darauf erklang das Geheul von Tausenden hoher Frauenstimmen: »Brot, Brot, Brot!«

»Das darf man nicht zulassen«, sagte der Beamte und blickte Iwan Iljitsch streng über die Brille an. Aus dem Tore traten zwei Hausknechte und drängten mit den Schultern gegen die Neugierigen vor. Dem Beamten zitterten die Backen, ein junges Mädchen mit einem Zwicker schrie: »Untersteh dich nicht, Dummkopf!« Das Tor wurde aber dennoch geschlossen. Gleich darauf begann man alle Haustüren und Tore in der ganzen Straße zu schließen. »Nicht doch, nicht doch!« riefen erschrockene Stimmen.

Die heulende Menge kam immer näher. Vor ihr tauchte ein Jüngling auf mit einem weibischen Gesicht voller Pickel unter einem Schlapphut mit breiter Krempe.

»Die Fahne, die Fahne nach vorne!« riefen viele Stimmen.

In diesem Augenblick erschien vor der Soldatenkette ein Offizier mit dünner Taille, die große Lammfellmütze in den Nacken geschoben. Das Revolverfutteral an der Hüfte festhaltend, schrie er so, daß man die Worte verstehen konnte: »Ich habe den Befehl zu schießen. ... Ich will kein Blut vergießen. ... Geht auseinander. ...«

»Brot, Brot, Brot!« brüllten die Stimmen. Und die Menge rückte gegen die Soldaten vor. ... An Iwan Iljitsch drängten sich Menschen mit wahnsinnigen Augen vorbei. ... »Brot! ... Fort! ... Gesindel! ...« Einer fiel hin, packte Iwan Iljitsch am Fuß, hob sein runzliges, unglückliches Gesicht und schrie wie bewußtlos: »Ich hasse ... ich hasse. ...«

Plötzlich ertönte etwas, als risse man ein Stück Leinwand längs der ganzen Straße entzwei. Sofort wurde alles still. Ein Gymnasiast drückte beide Hände an die Mütze und tauchte in der Menge unter. ... Der Beamte hob seine sehnige Hand zum Zeichen des Kreuzes.

* * *

Die Salve ging in die Luft, eine zweite Salve erfolgte nicht, aber die Menge wich zurück; ein Teil von ihr zerstreute sich, ein anderer zog mit der Fahne zum Snamenskij-Platz. Auf dem gelben Schnee der Straße waren einige Mützen und Gummischuhe liegen geblieben. Als Iwan Iljitsch auf den Newskij kam, hörte er wieder das Brausen vieler Stimmen. Es war die dritte Menge, die von der Wassiljewskij-Insel her über die Newa gekommen war. Die Trottoirs waren voller eleganter Damen, Militärs, Studenten und Fremden von ausländischem Aussehen. Ein englischer Offizier mit rosigem Kindergesicht stand wie eine Säule da. An den Scheiben der Läden klebten die gepuderten Verkäuferinnen mit schwarzen Schleifen in den Haaren. Durch die Mitte der Straße zog aber, in ihre nebelverhüllte Tiefe eine abgerissene, schmutzige, erboste Menge von Arbeitern und Arbeiterinnen und heulte: »Brot, Brot, Brot!«

Dicht am Trottoir sagte ein Kutscher, sich seitwärts vom Bocke neigend, mit lustiger Stimme zu einer erschrockenen Dame mit blaurotem Gesicht: »Wie kann ich hier durchkommen, Sie sehen selbst, daß man hier nicht mal eine Fliege durchläßt.«

»Fahr zu, Dummkopf, untersteh dich nicht zu räsonieren!«

»Nein, jetzt bin ich kein Dummkopf mehr. ... Steigen Sie aus dem Schlitten!«

Die Leute auf dem Trottoir stießen einander, streckten ihre Köpfe vor, horchten und stellten aufgeregt Fragen.

»Hundert Menschen haben sie auf dem Litejnyij getötet. ...«

»Unsinn! Eine schwangere Frau ist erschossen worden und ein alter Mann. ...«

»Meine Herrschaften, eine Neuigkeit. ... Ganz unglaublich!«

»Was? ... Was? ...«

»Generalstreik. ...«

»Wie? Auch Wasser und Elektrizität?«

»Gott, wenn es doch schneller käme. ...«

»Diese Arbeiter sind doch Prachtkerle! ...«

»Freuen Sie sich nicht, – sie werden Sie erwürgen. ...«

»Schauen Sie, daß man Sie mit Ihrem Gesichtsausdruck nicht erwürgt. ...«

Iwan Iljitsch ärgerte sich, daß er so viel Zeit verloren hatte, und drängte sich aus der Menge. Er ging an drei Stellen, wo er geschäftlich zu tun hatte, traf aber niemand zu Hause und schleppte sich erbost über den Newskij.

Über die Straße glitten wieder die Schlitten, die Hausknechte schaufelten den Schnee zusammen, an der Straßenecke erschien ein großer Mensch in schwarzem, langem Mantel und erhob über den erregten Köpfen, über den aufgewühlten Gedanken der Bürger den weißen Zauberstab der Ordnung. Mancher Passant sah sich, über die Straße laufend, nach dem Schutzmann um und dachte sich dabei: »Wart nur, mein Lieber, auch für dich kommt die Zeit!« Aber niemand kam der Gedanke, daß die Zeit schon angebrochen war, daß dieser monumentale Kerl mit dem mächtigen Schnurrbart und dem weißen Stabe nichts mehr als einen Schatten bedeutete und morgen schon von der Straßenecke, aus der Wirklichkeit, aus dem Gedächtnis verschwinden würde. ...

»Teljegin, Teljegin! Bist du taub? Bleib doch stehen! ...«

Iwan Iljitsch wandte sich um, – der Ingenieur Strukow lief, die Mütze im Nacken, mit wahnsinnig lustigen Augen auf ihn zu.

»Wo gehst du hin? Schaust trübe drein. ... Komm mit ins Café. ...«

Er packte Iwan Iljitsch am Arm und schleppte ihn ins Café im zweiten Stock. Hier war die ganze Luft von beißendem Zigarrenrauch erfüllt. Männer in steifen Hüten, in Pelzmützen, in aufgeknöpften Pelzmänteln stritten, schrien und sprangen auf. Strukow drängte sich zu einem Fenster vor und setzte sich Iwan Iljitsch gegenüber.

»Der Rubel fällt!« rief er aus, mit beiden Händen die Tischplatte fassend. »Alle Papiere fliegen zum Teufel! Darin liegt die Kraft! ... Erzähle, was du gesehen hast. ...«

»Ich war auf dem Litejnyi, es wurde dort geschossen, aber ich glaube, in die Luft. ...« »Was sagst du nun zu dem Ganzen?«

»Ich meine, daß die heutigen Demonstrationen die Regierung zwingen werden, ernsthaft für die Lebensmittelzufuhr zu sorgen.«

»Zu spät!« schrie Strukow und schlug mit der flachen Hand auf die Glasplatte des Tisches. »Zu spät! ... Wir haben unsere eigenen Gedärme aufgefressen. ... Der Krieg nimmt ein Ende, basta! ... Alles nimmt ein Ende! ... Alles zum Teufel! ... Weißt du, was die Leute auf den Fabriken schreien? Einberufung des Rates der Arbeiterdeputierten, – das schreien sie. Sie wollen niemand außer den Räten vertrauen! Unverzügliche Demobilmachung. ...«

»Du bist einfach betrunken«, versetzte Iwan IIjitsch. »Ich hatte heute nacht Dienst auf dem Werke und habe nichts dergleichen gehört. ... Wenn jemand etwas Ähnliches geschrien hat, so warst du es selbst. ...«

Strukow warf den Kopf in den Nacken und fing an zu lachen, ohne den Blick von Teljegin loszureißen. »Es wäre doch gut, diese ganze Maschine in Stücke zu schlagen? Just die richtige Zeit! Wie? ...«

»Das glaube ich nicht. ... Ich sehe darin nichts Gutes. ...«

»Fort mit dem Staat, mit dem Militär, mit den Schutzleuten, mit diesem ganzen Gesindel in steifen Hüten. ... Das Urchaos herstellen! ...« Strukow biß plötzlich seine verrauchten Zähne zusammen, und seine Pupillen wurden zu zwei Punkten. »Einen Schrecken verbreiten, schlimmer noch als der Krieg. ... Alles ist verdammt, vollgespuckt, verdreckt, niederträchtig. ... Verwüsten wie Sodom und Gomorrha. ... Daß eine leere Stelle übrigbleibt.« Auf seiner Stirn blähte sich unter den Schweißtropfen eine Ader. »Alle wollen das, auch du willst es. Aber ich wage es auszusprechen, und du hast nicht den Mut dazu.«

»Du bist den ganzen Krieg hinter der Front gewesen,« erwiderte Teljegin mit einem Blick voll Haß und Abscheu, »ich aber war im Felde und kenne mich aus, – im Jahre Vierzehn gefiel es uns auch zu raufen und zu zerstören. Jetzt gefällt es uns nicht mehr. Wir haben wohl zerstört, aber auch gekämpft. Und ihr, die ihr die ganze Zeit daheim gewesen seid, findet erst jetzt Geschmack am Kriege. Eure ganze Psychologie ist die von Marodeuren und Traingesindel: rauben und brennen! Ich beobachte euch schon längst: ihr geht aufs Zerstören aus und wollt es zum Blutvergießen bringen. ... Schrecklich!«

»Teljegin, du bist ein kleiner Mensch, ein Spießer.«

»Mag sein, mag sein. ...«

* * *

Iwan Iljitsch kam spät heim und ging sogleich zu Bett. Aber er schlummerte nur für einen Augenblick ein, dann seufzte er auf, legte sich auf den Rücken und hielt ruhig und schlaflos die Augen offen. Auf der Decke des Schlafzimmers lag der Widerschein einer Straßenlaterne. Es roch nach dem Leder des Reisekoffers, der offen auf einem Stuhle stand. In diesem Koffer, den er in Stockholm gekauft hatte, lag sein Geschenk für Dascha: ein herrliches Ledernecessaire mit Silberbeschlägen. Iwan Iljitsch empfand eine Zärtlichkeit für diesen Gegenstand, er wickelte ihn jeden Tag aus dem Seidenpapier und betrachtete ihn immer von neuem. Er sah sogar ein Kupee vor sich mit einem breiten Fenster, wie man es in Rußland nicht kennt, und in diesem Kupee auf dem Polstersitz Dascha in einem Reisekleid; sie hat diesen nach Parfüm und Leder duftenden Gegenstand – das Symbol eines sorglosen Glücks herrlicher Wanderungen – auf dem Schoße liegen; am Fenster ziehen fremde Länder vorbei.

... Ach, heute ist etwas geschehen, was sich nicht wieder gutmachen läßt, dachte sich Iwan Iljitsch, und sein Gedächtnis, das das Fazit aus allem Geschehenen zog, antwortete mit Überzeugung: In der Stadt herrscht ein träges und böses Nichtankämpfen gegen alles, was auch kommen mag: Revolution, Schießerei – alles wird gleichgültig hingenommen. Sie haben einen Trambahnwagen umgestürzt, – gut; die Arbeiter sind bis zum Newskij vorgedrungen, – gut; man hat die Arbeiter durch eine Salve auseinandergetrieben, – gut; alles besser als der erstickende Gestank des hoffnungslosen, Krieges. –

Iwan Iljitsch stützte sich auf einen Ellenbogen und sah, wie sich draußen hinter dem Fenster im nebligen Himmel das schmutziglilafarbige Leuchten der Stadt spiegelte. Und er fühlte deutlich den dumpfen Haß, mit dem auf dieses Leuchten diejenigen sehen mußten, die heute ›Brot!‹ geschrien hatten. Eine verhaßte, schwere, widerliche Stadt. ...

* * *

Iwan Iljitsch ging gegen zwölf Uhr aus dem Hause. Der neblige breite Prospekt war leer. Es schneite. Hinter der leicht beschlagenen Scheibe eines Blumenladens stand in einer Kristallvase ein großer Strauß roter, mit Wassertropfen bedeckter Rosen. Iwan Iljitsch sah ihn durch die herabfallenden Schneeflocken mit Zärtlichkeit an. ... Mein Gott, mein Gott!

Aus einer Nebengasse kam eine Kosakenpatrouille von fünf Mann. Der Kosak, der am Rande ritt, wandte sein Pferd um und näherte sich im Trabe dem Trottoir, wo drei Männer in Sportsmützen und zerrissenen, mit Stricken umgürteten Mänteln leise und erregt miteinander sprachen. Die Männer blieben stehen, und einer von ihnen sagte etwas mit lustiger Miene und nahm das Kosakenpferd am Zaume. Diese Bewegung war so ungewöhnlich, daß Iwan Iljitsch das Herz zuckte. Der Kosak aber lachte, schüttelte den Kopf, gab seinem stampfenden Pferd mit dem großen Kropf die Sporen, holte seine Kameraden ein, und die ganze Patrouille ritt im Trabe in den Nebel des Prospekts.

Als Iwan Iljitsch sich dem Quai näherte, stieß er auf einzelne Gruppen aufgeregter Bürger. – Anscheinend hatten sich die Leute nach den gestrigen Vorgängen noch nicht beruhigt: sie berieten sich und tauschten Gerüchte und Neuigkeiten aus, – viele liefen zur Newa. Dort bewegten sich längs der Granitmauer wie schwarze Ameisen mehrere Tausende von Neugierigen. An der Brücke stand ein Haufen Schreier, sie wandten sich an die Soldaten, die den Durchgang versperrten und quer über die Brücke und längs ihrer Geländer standen, bis ans andere Ende, das im Nebel und im Schneetreiben kaum zu sehen war.

»Warum habt ihr die Brücke versperrt? Laßt uns durch!« schrien die Leute.

»Wir müssen in die Stadt!«

»Es ist unerhört, den Bürgern solche Schwierigkeiten zu machen!«

»Die Brücken sind zum Gehen da und nicht für euch. ...«

»Seid ihr Russen oder nicht? ... Laßt uns durch! ...«

Ein großgewachsener Unteroffizier mit vier Georgskreuzen ging, mit den großen Sporen klirrend, zwischen den Geländern auf und ab. Als ihm einer aus der Menge ein Schimpfwort zurief, wandte er sein finsteres, pockennarbiges, gelbliches Gesicht den Schreiern zu.

»Ja, ihr wollt noch gebildet sein und gebraucht solche Worte!« Sein aufgewirbelter Schnurrbart zitterte. »Ich darf niemand über die Brücke lassen. ... Im Falle des Ungehorsams werde ich von der Waffe Gebrauch machen müssen. ...«

»Die Soldaten werden nicht schießen«, schrie es wieder aus der Menge.

»Wozu stehst du da, pockennarbiger Teufel, Hund.«

Der Unteroffizier wandte sich wieder um und sagte etwas; seine Stimme war zwar heiser und militärisch, aber in seinen Worten lag etwas, was in diesen Tagen alle empfanden: Unruhe und Ratlosigkeit. Die Schreier merkten das und fuhren fort, zu schimpfen und gegen die Absperrung vorzurücken.

Ein langer, hagerer Mensch mit einem schief sitzenden Zwicker auf der Nase, mit einem Tuch um den langen Hals ging auf die Schreier zu und sagte plötzlich laut und dumpf: »Man hindert den Verkehr, überall wird abgesperrt, die Brücken sind umstellt, – das ist ja eine Verhöhnung! Dürfen wir uns noch frei in der Stadt bewegen oder dürfen wir es nicht mehr? Bürger, ich rate euch, auf die Soldaten nicht zu achten und über das Eis auf die andere Seite zu gehen.«

»Sehr richtig! Übers Eis! ... Hurra!« brüllten die Schreier, und einige liefen sogleich zu der schneebedeckten Granittreppe, die zum Flusse führte. Der lange Mann schritt mit dem im Rücken flatternden Schal energisch über das Eis, längs der Brücke. Die Soldaten beugten sich hinüber und schrien: »Zurück, wir werden schießen. ... Zurück, du langer Teufel!«

Er ging aber, ohne sich umzuwenden, weiter. Ihm folgten im Gänsemarsch immer mehr und mehr Menschen. Die Leute rollten wie Erbsen vom Quai aufs Eis hinunter und liefen als schwarze Silhouetten über den Schnee. Die Soldaten schrien ihnen von der Brücke etwas zu, die Laufenden hielten sich die Hände an den Mund und schrien hinauf. Einer der Soldaten legte an, aber ein anderer stieß ihn in die Schulter, und er schoß nicht.

* * *

Wie sich später herausstellte, hatte keiner von all denen, die an diesem Tage auf die Straße zogen, einen bestimmten Plan gehabt; als aber die Bürger die Absperrungen auf den Brücken und an den Straßenkreuzungen sahen, fühlte jeder, wie es so geht, das Bedürfnis, gerade das zu tun, was verboten war: über die Brücken zu gehen und sich zu einer Menge zu sammeln. Die ohnehin schon krankhaft erregte Phantasie wurde immer mehr erhitzt. In der Stadt ging das Gerücht, daß die Unruhen organisiert werden.

Am Abend des zweiten Tages besetzten Teile des Kaiser Paul-Regiments den Newskij und eröffneten ein Feuer auf die Gruppen von Neugierigen und die einzelnen Passanten. Die Bürger sahen nun ein, daß etwas wie eine Revolution im Anzuge war. Wo aber ihr Herd war und wer sie leitete, das wußte niemand. Das wußten weder der Kommandierende der Truppen, noch die Polizei und am allerwenigsten der Diktator, der Ssimbisker Tuchfabrikant, dem einst der Gutsbesitzer Naumow im Troizkij-Hotel zu Ssimbirsk den Schädel beschädigt hatte, indem er mit demselben eine Türfüllung einschlug; diese Beschädigung des Schädels und des Gehirns hatte ständig Kopfschmerzen und Neurasthenie zur Folge und führte später, als ihm die Regierung des Russischen Reiches anvertraut worden war, zu einer verhängnisvollen Ratlosigkeit. Der Herd der Revolution war überall, in jedem Hause, in jedem von Phantasien, Haß und Unzufriedenheit umstürmten Bürgerkopfe. Diese Unauffindbarkeit des Herdes der Revolution war unheimlich. Die Polizei verhaftete lauter Gespenster. In Wirklichkeit hätte sie die zwei Millionen vierhunderttausend Bewohner von Petrograd verhaften müssen.

* * *

Iwan Iljitsch verbrachte diesen ganzen Tag auf der Straße; er hatte, wie wohl alle, das seltsame Gefühl eines unaufhörlichen Schwindels. Er fühlte, wie die Erregung – es war schon beinahe Wahnsinn – in der Stadt immer anwuchs; alle Menschen hatten sich gleichsam in einem Wirbel aufgelöst, sich in eine lockere Masse ohne Vernunft und Willen verwandelt, und diese Masse irrte und wogte durch die Straßen und lechzte nach einem Himmelszeichen, nach einem Blitz, nach einem Willen, der sie blenden und zu einem Klumpen zusammenschweißen sollte.

Die Auflösung in dieser ganzen aufgescheuchten Menschenherde war so groß, daß selbst die Schießerei auf dem Newskij fast niemand erschreckte. Die Leute sammelten sich wie Tiere vor den zwei Leichen, einer Frau im Kattunrock und eines alten Mannes im Waschbärenpelz, die an der Ecke der Wladimirskaja-Straße lagen. ... Wenn die Schüsse häufiger fielen, liefen die Menschen auseinander und schlichen sich dann wieder längs der Mauern heran.

Gegen Abend hörte die Schießerei auf. Ein kalter Wind säuberte den Himmel, und in den schweren Wolken, die sich über dem Meere häuften, leuchtete der düstere Feuerbrand des Abendrotes auf. Tief über der Stadt, wo der Himmel kohlschwarz war, erschien die scharfe Mondsichel.

Die Laternen wurden in dieser Nacht nicht angezündet. Die Fenster waren dunkel, die Haustüren abgesperrt. Längs der ganzen Nebelwüste des Newskij standen Gewehrpyramiden. An den Ecken ragten die langen Gestalten der Wachtposten. Das Mondlicht funkelte hier in der Spiegelscheibe eines Ladens, dort auf einer Trambahnschiene, und dort wieder auf dem Stahl eines Bajonetts. Es war still und ruhig. Und nur die Telephonhörer blöckten in jedem Hause mit leblosen Stimmen verrückte Worte über die Ereignisse.

* * *

»Teljegin, was machst du hier?«

»Ich habe beschlossen, heute unbedingt abzureisen. Mit einem Güterzuge, mit einer Lokomotive, ganz gleich.«

»Gibs auf, du kannst jetzt nicht abreisen. Es ist ja Revolution, mein Lieber! ...« Antoschka Arnoldow, unrasiert, verwahrlost, mit roten Lidern an den Glotzaugen krallte sich mit krampfhaften Fingern in Iwan Iljitschs Mantel fest. »Hast du gesehen, wie man dem Gendarmen den Kopf 'runterhaute? ... Wie ein Fußball rollte er über das Pflaster, herrlich! ... Dummkopf, du verstehst es ja gar nicht: es ist die Revolution.« Antoschka murmelte wie im Fieber. Sie standen beide, in die Menge eingekeilt, im Bahnhofdurchgang. »Das Litauische und das Wolynische Regiment haben sich am Morgen geweigert zu schießen ... Eine Kompagnie des Pauls-Regiments ist bewaffnet in die Stadt gezogen. In der Stadt ist ein Durcheinander, in dem sich niemand auskennt. ... Die Soldaten treiben sich wie verschlafene Fliegen auf dem Newskij herum und wagen nicht, in die Kasernen zu gehn. ...«


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