Graf Alexej N. Tolstoi
Höllenfahrt
Graf Alexej N. Tolstoi

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II

»... Wir wollen keine Erinnerungen. Wir sagen: genug, kehrt der Vergangenheit den Rücken! Was ist dort hinter mir? Die Venus von Milo? Kann man sie essen? Oder fördert sie den Haarwuchs? Ich begreife nicht, wozu ich dieses steinerne Frauenzimmer brauchen kann. Aber die Kunst! die Kunst! – brr! Gefällt es euch immer noch, euch mit diesem Begriff die Fersen zu kitzeln? Schaut doch auf die Seite, vorwärts, vor die Füße. Habt ihr amerikanische Schuhe an den Füßen? Hoch die amerikanischen Schuhe! Das ist die Kunst: ein rotes Auto, ein Gummireifen, ein Pud Benzin und hundertzwanzig Werst die Stunde. Das regt mich an, den Raum zu fressen. Das ist die Kunst: ein Plakat von sechzehn Arschin im Quadrat und darauf ein eleganter junger Mann mit einem wie die Sonne strahlenden Zylinderhut auf dem Kopfe. Das ist der Schneider, der Künstler, das Genie des heutigen Tages! Ich will das Leben fressen, ihr aber setzt mir eine süßliche Mixtur gegen Geschlechtsschwäche vor ...«

Am Ende des schmalen Saales, hinter den Sitzplätzen, wo die studierende Jugend beiderlei Geschlechtes stand, wurde gelacht und geklatscht. Der letzte Redner, Pjotr Petrowitsch Ssaposchkow, lächelte mit seinem feuchten Mund, rückte den hüpfenden Zwicker auf seiner großen Nase zurecht und stieg hurtig die Stufen des mächtigen eichenen Katheders herab.

An dem langen, von zwei Armleuchtern mit je fünf Kerzen beleuchteten Tische neben dem Katheder saßen die Mitglieder der Gesellschaft »Philosophische Abende«. Hier befanden sich auch der Vorsitzende der Gesellschaft, Professor der Theologie Antonowskij, der Vortragende dieses Abends, der Historiker Weljaminow, der Philosoph Borskij und der doppelzüngige Schriftsteller Ssakunin.

Die Gesellschaft »Philosophische Abende« hatte in diesem Winter einen heftigen Ansturm seitens einiger wenig bekannter, aber bissiger junger Leute zu bestehen. Sie fielen über die verdienstvollen Schriftsteller und die allgemein geachteten Philosophen mit solcher Wut her und sagten so freche und ärgerniserregende Dinge, daß das kleine alte Palais an der Fontanka, in dem die Gesellschaft tagte, an Sonnabenden, wo die öffentlichen Sitzungen stattfanden, stets überfüllt war.

So war es auch heute. Als Ssaposchkow unter vereinzeltem Beifallsklatschen in der Menge verschwand, bestieg das Katheder ein gewisser Akundin, ein klein gewachsener Mann mit kurzgeschorenem Schädel voller Beulen und einem jugendlichen, gelben, breiten Gesicht. Er war hier erst seit kurzem aufgetaucht, hatte einen Riesenerfolg, namentlich in den hinteren Reihen des Saales, und wenn jemand fragte, wer und woher er sei, lächelten die Wissenden höchst geheimnisvoll. Er hieß jedenfalls mit seinem wahren Namen nicht Akundin, war aus dem Auslande gekommen und verfolgte mit seinem Auftreten irgendwelche besondere Ziele.

Akundin zupfte an seinem dünnen Bärtchen, ließ den Blick über die Versammlung schweifen, lächelte mit den feinen Lippen und begann zu sprechen.

In der dritten Stuhlreihe beim Durchgang in der Mitte saß um diese Zeit, das Kinn in die Hand gestützt, ein junges Mädchen in einem hochgeschlossenen schwarzen Tuchkleid. Ihre aschblonden feinen Haare waren über die Ohren gekämmt, zu einem großen Knoten geschlungen und mit einem Kamm zusammengesteckt. Unbeweglich und ohne zu lächeln musterte sie die am grünen Tische Sitzenden und starrte mitunter längere Zeit auf die Kerzenflammen.

Als Akundin mit seiner kleinen trockenen Faust auf das eichene Pult schlug und rief: »Die Weltwirtschaft führt mit ihrer eisernen Faust den ersten Schlag gegen die Kuppel der Kirche«, – atmete das junge Mädchen leicht auf, nahm die Hand von dem unten geröteten Kinn fort und legte sich ein Karamel in den Mund.

Akundin sprach: »... Ihr aber schwelgt immer noch in nebelhaften Träumen von einem Gottesreiche auf Erden. Hier schnarcht und träumt man noch und murmelt aus dem Schlafe von einem Messias. Es aber schläft trotz aller eurer Bemühungen weiter. Oder hofft ihr, daß es dennoch erwacht und wie Bileams Eselin zu sprechen anfängt? Gewiß, es wird erwachen, aber nicht durch die süßen Stimmen eurer Dichter, nicht durch den Weihrauch geweckt, mit dem man es beräuchert: – nur die Dampfpfeifen der Fabriken können das Volk wecken. Es wird erwachen und zu sprechen anfangen, aber nicht vom Messianismus, sondern von der Gerechtigkeit, und seine Stimme wird für das Gehör nicht angenehm sein. Oder hofft ihr auf eure Sümpfe und Wälder? Hier kann man wohl noch an die fünfzig Jahre lang duseln, das gebe ich zu. Aber nennt es nicht Messianismus. Das ist nicht das, was kommt, sondern das, was wie ein Schatten verschwindet. Hier in Petersburg, in diesem großartigen Saale hat man den russischen Bauern erfunden. Man hat über ihn hunderte von Bänden geschrieben und Opern komponiert. Es ist wie ein Schattenspiel an der Wand. Ich fürchte nur, daß dieses Spiel mit einem großen Blutvergießen enden kann ...«

Hier unterbrach aber der Vorsitzende den Redner. Akundin lächelte, zog ein großes schmutziges Taschentuch hervor und fuhr sich damit mit einer gewohnten Gebärde über den Schädel und das Gesicht. Am Ende des Saales ertönten Stimmen:

»Laßt ihn doch sprechen!«

»Eine Gemeinheit, einem Menschen den Mund zu verschließen!«

»Es ist eine Verhöhnung!«

»Still, ihr dort hinten!«

»Seid selber still!«

Akundin fuhr fort: »... Der russische Bauer ist wohl ein Angriffspunkt für Ideen. Gewiß. Wenn aber diese Ideen mit seinen Instinkten, mit seinem jahrhundertelangen Streben, mit seinen primitiven Begriffen von der Gerechtigkeit, diesen allmenschlichen Begriffen, nicht organisch zusammenhängen, so fallen diese Ideen wie ein Samenkorn auf Stein. So lange man den russischen Bauern nicht einfach als einen Menschen mit einem hungrigen Magen und einem von schweren Lasten wundgeriebenen Rücken ansieht, so lange man ihn nicht der von irgendeinem seinen Herrn erfundenen messianischen Eigentümlichkeiten entkleidet, – so lange werden zwei Pole tragisch nebeneinander bestehen: eure im Halbdunkel der Studierstuben geborenen großartigen Ideen und das gierige, halb tierische Leben. Wir wollen auch nicht im Prinzip kritisieren. Es wäre sonderbar, seine Zeit auf die Durchsicht dieses Riesenhaufens von Hirngespinsten zu vergeuden. Nein. Wir sagen: geht hin und verwirklicht die Ideen im Leben. Wartet nicht und philosophiert nicht. Macht einen Versuch. Mag er verzweifelt sein. Dann werdet ihr sehen, mit welchen Ideen und wie ihr vorzugehen habt ...«

Das junge Mädchen im schwarzen Tuchkleide war nicht geneigt, sich in das, was vom eichenen Katheder herab gesprochen wurde, zu vertiefen. Sie glaubte, alle diese Worte und Debatten seien wohl sehr wichtig und bedeutungsvoll, aber das wichtigste an allen diesen Leuten sei, daß z.B. dieser Akundin – sie war davon überzeugt – keinen Menschen auf der Welt außer sich selbst liebte und auch imstande sei, einen Menschen niederzuschießen, wenn er es zur Bekräftigung seiner Idee brauchte.

Während sie sich das dachte, erschien am grünen Tisch ein neuer Mensch. Er setzte sich langsam neben den Vorsitzenden, nickte nach rechts und nach links, fuhr sich mit der geröteten Hand über das dunkelblonde, vom Schnee nasse Haar, wischte die Finger mit dem Taschentuch ab, steckte dann die Hände unter den Tisch und nahm in seinem sehr engen schwarzen Gehrock eine gerade Haltung an; ein schmächtiges, mattweißes Gesicht, geschwungene Brauen, im Schatten unter ihnen sehr große graue Augen, eine dichte, auf die Stirne herabfallende Haarmähne. Genau so war Alexej Alexejewitsch Bessonow in der letzten Nummer einer illustrierten Wochenschrift dargestellt.

Das junge Mädchen sah jetzt nichts mehr außer seinem fast abstoßend schönen Gesicht. Sie betrachtete wie entsetzt diese schönen Züge, von denen sie so oft in den windigen Petersburger Nächten geträumt hatte.

Da neigt er sein Ohr seinem Nachbarn zu und lächelt ganz einfach, aber im Ausschnitt der feinen Nasenflügel, in den allzu frauenhaften Augenbrauen, in der eigentümlichen zarten Gewalt dieses Gesichts lag Treulosigkeit, Hochmut und noch etwas, was sie nicht verstehen konnte, was sie aber mehr als alles aufregte.

Indessen antwortete der Vortragende des Abends, Weljaminow, ein Mann mit rotem Gesicht und Vollbart, mit einer goldenen Brille auf der Nase und einem von Büscheln gold-grauer Haare umrahmten großen Schädel auf die Rede Akundins: »... Ihr habt ebenso recht, wie die Lawine recht hat, wenn sie sich von den Bergen wälzt. Wir erwarten schon längst den Anbruch einer schrecklichen Zeit und sehen den Triumph eurer Wahrheit voraus. Ihr werdet euch der Elemente bemächtigen, und nicht wir. Wir werden aber eure Lawine mit unsern Schultern nicht stützen. Wir wissen, daß, wenn sie den Grund erreicht hat, ihre Kraft versiegen und die höchste Gerechtigkeit, zu deren Eroberung ihr die Leute mit den Fabriksirenen zusammenruft, sich als ein Haufen von Trümmern erweisen wird, als ein Chaos, in dem der betäubte Mensch herumirren wird. ›Ich dürste‹, das wird er sagen, denn in ihm selbst wird kein Tropfen Feuchtigkeit mehr sein. Und ihr werdet ihm nichts zu trinken geben. Nehmt euch in acht!« Weljaminow hob seinen Finger, der so dünn wie ein Bleistift war, und blickte streng über die Brille hinweg auf die Zuhörerreihen. »Im Paradiese, das ihr euch ersehnt und in dessen Namen ihr den lebendigen Menschen in einen Syllogismus mit einem Rock am Leibe, einem Hut auf dem Kopfe und einem Gewehr am Rücken verwandeln wollt, in diesem schrecklichen Paradiese droht eine neue Revolution, – vielleicht die schrecklichste von allen Revolutionen – die Revolution des Geistes ...«

Akundin versetzte kühl von seinem Platze aus: »Das ist vorgesehen ...«

Weljaminow zuckte die Achseln. Vom Kandelaber fiel ein Glanzlicht auf seine Glatze. Er begann von der Sünde zu sprechen, in die die Welt falle, und von der künftigen schrecklichen Abrechnung. Im Saale hüstelte man.

Das junge Mädchen ging in der Pause ins Büffetzimmer und stellte sich mit gerunzelter Stirne und unabhängiger Miene in der Nähe der Türe auf. Einige Rechtsanwälte tranken mit ihren Frauen Tee und unterhielten sich lauter als alle anderen Menschen. Am Ofen aß der berühmte Schriftsteller Tschernobylin Fisch mit Preißelbeeren und musterte jeden Augenblick die Vorbeigehenden mit bösen, trunkenen Augen. Zwei literarische Damen mittleren Alters mit schmutzigen Hälsen und großen Schleifen im Haar kauten am Büfett belegte Brote. Etwas abseits standen, ohne sich mit den Laien zu vermischen, in würdiger Haltung die Geistlichen. Unter dem Lüster balancierte auf den Absätzen, die Hände im Rücken unter dem langen Gehrock, ein halb ergrauter Mensch mit betont zerzausten Haaren, der Kritiker Tschirwa, und wartete, daß jemand auf ihn zugehe. Im Büfettzimmer erschien Weljaminow; eine der literarischen Damen stürzte auf ihn zu und krallte sich in seinen Ärmel fest, den er während des nun folgenden Gesprächs vorsichtig, doch vergebens aus ihren Fingern zu befreien suchte. Die andere literarische Dame hörte plötzlich zu kauen auf, schüttelte sich die Krümel vom Munde, neigte den Kopf und riß die Augen weit auf. Ihr näherte sich Bessonow, sich nach rechts und links bescheiden verbeugend.

Das junge Mädchen in Schwarz fühlte mit seiner ganzen Haut, wie die literarische Dame sich unter ihrem Korsett zusammenraffte und in einen verlogen-unnatürlichen Zustand verfiel. Bessonow sagte ihr etwas mit einem trägen Lächeln. Sie schlug ihre vollen Hände zusammen, rollte die Augen und fing an laut zu lachen.

Das junge Mädchen zuckte die Achseln und verließ das Büfettzimmer. Jemand rief sie an. Durch die Menge drängte sich ein schwärzlicher, ausgemergelter Jüngling in einer Samtjoppe; er nickte ihr erfreut zu, runzelte vor Vergnügen die Nase und ergriff ihre Hand. Seine Handfläche war feucht, eine feuchte Haarsträhne lag auf seiner Stirn, und seine feuchtglänzenden, schwarzen, schmalgeschlitzten Augen blickten auf sie mit feuchter Zärtlichkeit. Er hieß Alexander Iwanowitsch Schirow. Er sagte: »So? Was tun Sie hier, Darja Dmitrijewna?«

»Dasselbe, was Sie«, antwortete sie, ihre Hand aus der seinen befreiend. Dann steckte sie sie in den Muff und wischte sie darin mit dem Taschentuch ab.

Er kicherte, sah sie noch zärtlicher an und sagte: »Hat Ihnen Ssaposchkow auch diesmal nicht gefallen? Er sprach heute wie ein Prophet. Sie stoßen sich wohl an seiner eigentümlichen, scharfen Ausdrucksweise. Aber ist nicht das tiefste Wesen seiner Gedankengänge dasselbe, was wir alle heimlich wollen, doch auszusprechen fürchten? Er aber hat den Mut dazu. Sein neuestes Gedicht fängt so an:

Jung sein und das Letzte wagen, –
Knurrt vor Hunger euch der Magen, –
Freßt euch mit der Leere satt ...

Ungewöhnlich neu und kühn! Darja Dmitrijewna, fühlen Sie denn selbst nicht, daß das Neue unaufhaltsam vorwärts drängt? Das Unsrige, das Neue, das Gierige, Kühne. Auch Akundin ist so einer. Er ist allzu logisch, wie er aber die Nägel eintreibt! Noch zwei oder drei solche Winter, und alles kracht und geht aus dem Leim, – herrlich!«

Er sprach leise, mit einem süßen, zärtlichen Lächeln. Dascha fühlte, wie in ihm alles in höchster Erregung zitterte. Sie hörte ihm nicht weiter zu, nickte und begann sich den Weg zur Kleiderablage zu bahnen.

Der mürrische, medaillengeschmückte Portier schleppte Berge von Pelzmänteln und schenkte dem Garderobezettel, den Dascha ihm entgegenstreckte, nicht die geringste Beachtung. Sie mußte lange warten; aus dem leeren Flur mit den immer aufgehenden Türflügeln zog es ihr in die Beine; draußen standen baumlange Bauernburschen in nassen blauen Kutschermänteln und riefen jedem Herankommenden lustig und frech zu:

»Einen Traber, Durchlaucht!«

»Wir haben den gleichen Weg: nach Peski!«

Hinter Daschas Rücken ertönte plötzlich Bessonows Stimme artikuliert und kühl: »Portier, meinen Pelz, Hut und Stock!«

Dascha fühlte leichte Nadelstiche im Rücken. Sie wandte rasch den Kopf um und blickte Bessonow gerade in die Augen. Er nahm ihren Blick ruhig, wie etwas ihm Gebührendes auf, aber dann zuckten seine Lider, die grauen Augen nahmen einen feuchten Schimmer an und gaben gleichsam nach, und Dascha fühlte, wie ihr Herz erzitterte.

»Wenn ich nicht irre,« sagte er, sich zu ihr beugend, »haben wir uns schon einmal bei Ihrer Frau Schwester gesehen?«

Dascha antwortete sofort und frech: »Ja, wir haben uns gesehen.«

Sie entriß dem Portier ihren Pelz und lief hinaus. Draußen ergriff ein feuchter kalter Wind ihr Kleid und überschüttete sie mit rostigen Tropfen. Dascha hob ihren Pelzkragen bis über die Augen. Jemand überholte sie und sagte dicht über ihrem Ohr: »Ach, diese Augen!«

Dascha ging schnell über den nassen Asphalt, über die schwankenden lila Streifen des Bogenlampenlichts. Eine Restauranttüre ging auf, und Geigenschluchzen schlug ihr entgegen, – es war ein Walzer. Und Dascha sang, ohne sich umzublicken, in den zottigen Pelzmuff hinein: »Es ist gar nicht so leicht, nicht so leicht, nicht so leicht! ...«


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