Graf Alexej N. Tolstoi
Höllenfahrt
Graf Alexej N. Tolstoi

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XXXIV

Dascha und Katja gingen in Pelzmänteln und warmen Kopftüchern schnell durch die kaum beleuchtete Kleine Nikitskaja. Die dünnen Eiskrusten krachten unter ihren Füßen. Am kalten, grünlichen, gestirnten Himmel ging eben die klare und schmale Mondsichel auf. Hie und da knurrten hinter den Toren Hunde. Dascha lachte in den feuchten Flaum des Tuches hinein und lauschte, wie das Eis krachte.

»Katja?«

»Dascha, Liebste, bleib nicht stehen, wir kommen zu spät.«

»Katja, wenn es so ein Instrument gäbe, das man hier ansetzte,« – Dascha legte die Hand auf die Brust – »so könnte man ungewöhnliche Dinge aufschreiben ...« Dascha sang leise und deutlich eine Melodie. »Weißt du, das wiederholt sich, aber schon mit einer anderen Stimme, die eigentliche Stimme klingt aber so.« Sie sang wieder und lachte. Katja nahm sie unterm Arm und sprach: »Komm doch, komm.«

Nach einigen Schritten blieb Dascha wieder stehen. »Katja, glaubst du daran, daß Revolution ist?«

»Ja. Weißt du, in der Luft selbst liegt irgendeine Unruhe.«

»Katjuscha, das kommt vom Frühling. Schau, der Himmel ist ganz grün.«

In der Ferne leuchtete gelblich das elektrische Lämpchen über der Einfahrt des Juristenklubs, in dem heute um halb zehn Uhr abends die Kadettenfraktion, unter dem Eindrucke der verrückten Gerüchte aus Petrograd eine öffentliche Versammlung zwecks Austausches von Eindrücken und Aufstellung eines gemeinsamen Aktionsprogramms für diese unruhigen Tage veranstaltete.

Die Schwestern liefen in den zweiten Stock hinauf und traten, ohne die Pelze abzulegen – sie nahmen nur die Kopftücher ab –, in den überfüllten Saal, der mit gespannter Aufmerksamkeit einem rotbackigen, bärtigen, dicken Herrn lauschte, der mit angenehmen Bewegungen seiner großen Hände sprach.

»Die Ereignisse überstürzen sich mit schwindelnder Schnelligkeit,« sagte er, »in Petrograd ist gestern die ganze Gewalt an den General Chabalow übergegangen, der in der Stadt folgende Bekanntmachung anschlagen ließ: ›In den letzten Tagen haben sich in Petrograd Unruhen ereignet, begleitet von Ausschreitungen und Anschlägen auf das Leben von Heeresangehörigen und Polizeibeamten. Ich verbiete alle Ansammlungen auf den Straßen. Ich teile der Bevölkerung Petrograds zur Warnung mit, daß ich den Befehl bestätigt habe, die Ordnung in der Hauptstadt selbst mit Waffengewalt rücksichtslos wiederherzustellen.‹...«

»Diese Henker!« dröhnte aus der Tiefe des Saales ein Seminaristenbaß. Der Redner schwang die Glocke.

»Diese Bekanntmachung hat, wie auch zu erwarten war, das Maß der Geduld voll gemacht. Fünfundzwanzigtausend Soldaten aller Waffengattungen der Petrograder Garnison sind zu den Revolutionären übergegangen.«

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als der ganze Saal vor Beifallklatschen erzitterte. Einige Mann sprangen auf Stühle, schrien und machten Gebärden, die die alte Ordnung vollkommen durchbrachen. Der Redner sah mit einem breiten Lächeln auf den tobenden Saal, schwang wieder die Glocke und fuhr fort: »Soeben ist eine telephonische Meldung von außerordentlicher Bedeutung eingelaufen.« Er steckte die Hand in die Tasche seines karierten Rockes, holte gemächlich ein Papier heraus und entfaltete es. »Heute schickte der Präsident der Reichsduma, Rodsjanko, folgendes Telegramm an den Kaiser auf direktem Draht: ›Die Lage ist ernst. In der Hauptstadt herrscht Anarchie. Die Regierung ist paralysiert. Verkehrswesen und Zufuhr von Lebensmitteln und Heizmaterial stocken. Auf den Straßen wird geschossen. Die Truppen beschießen sich zum Teil gegenseitig selbst. Man muß unverzüglich eine das Vertrauen des Landes genießende Person mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragen. Man darf nicht zögern. Jede Versäumnis bedeutet den Tod. Ich bete zu Gott, daß die Verantwortung in dieser Stunde nicht auf Seinen Gesalbten falle...‹«

Der rotbackige Herr ließ die Hand mit dem Blatt sinken und überblickte mit lustigen Augen den ganzen Saal. Alle Gesichter drückten rasende Neugier aus: ein solches atemraubendes Schauspiel hatten die Moskauer noch nie gesehen.

»Meine Damen und Herren, wir stehen am Vorabend des größten Ereignisses unserer Geschichte,« fuhr er mit sammetweicher, girrender Stimme fort.

»Vielleicht ist jetzt, in diesem Augenblick, dort« – er streckte die Hand aus wie Danton auf der Statue – »die Hoffnung so vieler Geschlechter in Erfüllung gegangen, und die traurigen Schatten der Dekabristen sind gerächt ...« »Ach Gott!« seufzte in der Tiefe eine Frauenstimme auf, die sich nicht länger beherrschen konnte.

»Vielleicht wird schon morgen ganz Rußland seine Stimmen zu dem einen, brüderlichen Freiheitschor vereinen.«

»Hurra!... Die Freiheit! ...« schrien rasende Stimmen.

Der Herr sank auf seinen Stuhl und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirne. Am Ende des Tisches erhob sich ein müder Mensch mit langen, strohblonden Haaren, einem schmalen Gesicht und einem roten, leblosen Bärtchen. Ohne jemand anzusehen, begann er mit träger, verschnupfter Stimme: »Diese Mitteilungen sind außerordentlich interessant. Alles scheint wirklich auf die Liquidierung der aristokratisch-bürokratischen regierenden Klasse auszugehen. Es ist darin nichts Unerwartetes: die Truppen werden wenn nicht heute, so in einem Monat meutern und die Arbeiter die Gewalt an sich zu reißen versuchen.« Er holte aus der Seitentasche ein Schnupftuch, schneuzte sich, faltete das Tuch wieder zusammen und steckte es in seinen abgeriebenen Rock.

Hinter Dascha, die mit ihrer Schwester auf einem Stuhle saß, fragte eine Stimme: »Wer ist der Redner?«

»Es ist der Genosse Kusjma,« flüsterte jemand schnell, »er war im Jahre 1905 im Rate der Arbeiterdeputierten und ist vor kurzem aus der Verbannung zurückgekehrt, eine sehr bedeutende Persönlichkeit.«

»Ich kann die Begeisterung des Vorredners nicht teilen«, fuhr Genosse Kusjma fort, indem er verschlafen auf das Tintenfaß blickte. »Selbst wenn die Regierung des Zaren dieser Tage zurückträte, wäre es dumm, sich zu freuen: die Gewalt wird dann der Bourgeoisie zufallen, und eine Schlägerei ist in der Zukunft so wie so nicht zu vermeiden.« Er hob endlich die Augen, und alle sahen, daß sie grünlich, kalt und langweilig waren. »Es wäre längst Zeit, diese idyllischen Phantasien aufzugeben. ... Die Revolution ist eine ernste Sache ... Ein brüderlicher Chor mit Freiheitsgesängen ist etwas für die landarmen Junker und für die fettgewordenen Kaufmannssöhnchen. ...«

»Wer ist er? ... Was spricht er? ... Entziehen Sie ihm das Wort!« schrie es wütend.

Genosse Kusjma erhob seine Stimme: »Seit zwölf Jahren schon wächst dieser Revolutionsabszeß im Lande. Heute darf man ihn als reifgeworden ansehen. Unsere Aufgabe ist, einen tiefen Schnitt zu machen, um den ganzen Eiter auslaufen zu lassen. Wir müssen endlich das Proletariat und die bürgerlich-aristokratischen Klassen ohne Vermittler einander gegenüberstellen. Wir brauchen keine Freiheit, die seit hundert Jahren wie eine Dirne von kleinen Krämern und speicheltriefenden Dichtern abgegriffen ist, wir brauchen den Bürgerkrieg. ...«

Seine letzten Worte konnte man im Tumult kaum verstehen. Einige Männer in Gehröcken liefen zum Tisch. Genosse Kusjma wich vor ihnen zurück, stieg vom Podium und verschwand in einer Seitentür. An seiner Stelle erschien eine berühmte Vorkämpferin der Erziehungsprobleme, eine volle Dame mit einem Zwicker und einem Tic. »Wir hörten soeben eine empörende –«

In diesem Augenblick flüsterte jemand Dascha erregt und zärtlich ins Ohr: »Guten Abend, Liebste ...«

Dascha erhob sich sofort, ohne sich erst umzuwenden: in der Türe stand Iwan Iljitsch. Sie sah ihn an: der schönste Mensch auf Erden, und er ist mein. Iwan Iljitsch war wie schon so oft erschüttert, daß Dascha ganz anders aussah, als er sie sich vorgestellt hatte: ihre Wangen glühten, die blaugrauen Augen waren durchsichtig und abgrundtief wie zwei kühle Seen. Sie war so vollkommen, es fehlte ihr so absolut gar nichts, daß Iwan Iljitsch erbleichte. Dascha sagte leise: »Guten Abend!«, nahm ihn am Arm, und sie traten auf die Straße. Hier blieb Dascha stehen und sah Iwan Iljitsch schweigend und lächelnd an. Sie seufzte, hob die Arme und küßte ihn auf den Mund. Er schloß die Augen. Ihre Lippen waren zärtlich und zutraulich. Sie duftete nach Pelz und einem weiblich-herben Parfüm. Dascha nahm ihn wieder am Arm, und sie gingen über die krachenden Eiskrusten, die im Lichte der tief im schwarzgrünen Abgrund des Himmels hängenden Mondsichel funkelten.

»Iwan, hast du mich lieb?«

»Dascha!«

»Ach, ich hab dich so lieb, Iwan! Und wie habe ich auf dich gewartet. ...« »Du weißt doch, ich konnte nicht ...«

»Sei mir nicht böse, daß ich dir so schlechte Briefe schrieb. Ich verstehe nicht zu schreiben.«

»Weißt du, als du dich eben vom Stuhle erhobst und ich dich ansah, stand mir das Herz still ...«

Iwan Iljitsch blieb stehen und sah auf das zu ihm erhobene, stumm lächelnde, liebe Gesicht. Einen besonders lieben, einfachen Ausdruck verlieh ihr das Kopftuch, – die Brauen zeichneten sich unter ihm dunkel ab, und die Augen leuchteten herzlich und gütig. Er zog Dascha vorsichtig zu sich heran, sie ließ sich gehen und schmiegte sich an ihn, immer in seine Augen blickend. Er küßte sie wieder auf den Mund, und sie gingen weiter.

»Bist du für lange gekommen, Iwan?«

»Ich weiß es nicht, es hängt von den Ereignissen ab ...«

»Du weißt doch, es ist Revolution.«

»Weißt du, ich bin mit einer Lokomotive hergekommen. ...«

»Iwan, weißt du was ...« Dascha ging im gleichen Schritt mit ihm und blickte auf ihre Schuhkappen ...

»Was denn? ...«

»Ich gehe jetzt mit dir, zu dir ...«

Iwan Iljitsch antwortete nicht. Dascha fühlte nur, wie er einigemale versuchte, tief einzuatmen, und es nicht konnte. Und sie fühlte Zärtlichkeit und Mitleid mit ihm.


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