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Teljegin erreichte am zehnten Tage die Frontzone. Während der ganzen Zeit marschierte er nur nachts und verkroch sich bei Tagesanbruch im Wald; wenn er aber ins Tal hinabsteigen mußte, suchte er sein Nachtlager möglichst weit entfernt von Menschenwohnungen. Er lebte von Gemüsen, die er in den Gärten stahl.
Die Nacht war regnerisch und kalt. Iwan Iljitsch schleppte sich auf der Landstraße gegen den Strom der nach Westen ziehenden Verwundetentransporte, von Fuhrwerken mit Hausrat und Scharen von Frauen und Greisen, die ihre Kinder und ihre Bündel auf den Armen trugen.
Mit ihm, nach Osten, bewegten sich Militärtransporte und Truppenteile. Es war so seltsam: die Jahre Vierzehn und Fünfzehn waren schon vorüber, das Jahr Sechzehn ging zu Ende, aber auf den ausgefahrenen Straßen ratterten noch immer die Wagen und schleppten sich in demütiger Verzweiflung die Bewohner der niedergebrannten Dörfer. Der Unterschied war lediglich der, daß die großen Pferde jetzt nur mit Mühe ihre Beine hoben, die Soldaten abgerissen und kleiner und die zahllosen Obdachlosen schweigsam und gleichgültig waren. Aber dort, im Osten, von wo der schneidende Wind die niedrig hängenden Wolken herantrieb, schlugen die Menschen immer noch andere Menschen tot, die schon aufgehört hatten Feinde zu sein, und konnten einander doch nicht ausrotten.
In einer sumpfigen Niederung, auf der Brücke über einen angeschwollenen Fluß, zog im Dunkeln eine große Masse von Menschen und Fuhrwerken. Räder dröhnten, Peitschen knallten, Kommandorufe schrillten, eine Menge Laternen bewegte sich schwankend, und ihr Licht fiel auf das zwischen den Brückenpfeilern brodelnde trübe Wasser.
Iwan Iljitsch erreichte, am Abhange der Landstraße gleitend, die Brücke. Über die Brücke zog ein Militärtransport. Vor Tagesanbruch durfte er gar nicht daran denken, aufs andere Ufer zu kommen.
Beim Betreten der Brücke hockten sich die Pferde zwischen den Deichselstangen hin, versuchten sich mit den Hufen an den durchnäßten Brettern festzuhalten und warfen die schwerbeladenen Wagen beinahe um. Am Brückenkopfe stand ein Reiter in einem vom Winde geblähten Mantel; er hielt eine Laterne in der Hand und schrie mit heiserer Stimme. Ein alter Mann ging auf ihn zu, zog die Mütze und schien ihn um etwas zu bitten. Der Reiter schlug ihm zur Antwort mit dem Säbelgriff ins Gesicht, und der Greis fiel unter die Räder.
Das andere Ende der Brücke verschwand in der Finsternis, aber die vielen Laternen erweckten den Eindruck, als hätten sich dort Tausende von Flüchtlingen angesammelt. Der Wagenzug bewegte sich langsam über die Brücke. Iwan Iljitsch stand an einen Wagen gedrückt, – darin saß, eine Bettdecke über die Schultern geworfen, eine magere Frau mit über die Augen herabfallenden Haaren. Mit der einen Hand umklammerte sie ein Vogelbauer, mit der andern hielt sie die Zügel. Der ganze Wagenzug hielt plötzlich. Die Frau wandte entsetzt den Kopf um. Am anderen Ende der Brücke wurde das Stimmengewirr lauter, die Laternen bewegten sich schneller. Es war etwas geschehen. Ein Pferd schrie durchdringend wie ein wildes Tier. Eine Stimme rief gedehnt: »Rettet euch!« Im nächsten Augenblick wurde die Luft von einer Gewehrsalve zerrissen. Die Pferde taumelten zur Seite, die Wagen krachten, Frauen und Kinder schrien, heulten und winselten.
In der Ferne rechts leuchteten einzelne Funken und krachten Antwortschüsse. Iwan Iljitsch stieg auf ein Wagenrad und sah hin. Sein Herz hämmerte. Es hatte den Anschein, als schieße man von allen Seiten, längs des ganzen Flusses. Die Frau mit dem Vogelbauer versuchte vom Wagen zu steigen, ihr Rock blieb am Rad hängen, und sie fiel hin. »Helft!« schrie sie mit tiefer Stimme. Der Käfig mit dem Vogel rollte den Abhang hinunter.
Der Wagenzug kam wieder in Bewegung und fuhr unter Geschrei und Gerassel im Trab über die Brücke. »Halt, halt!« schrieen aber gleich wilde Stimmen. Iwan Iljitsch sah, wie ein großes Fuhrwerk sich über das Brückengeländer neigte und in den Fluß stürzte. Er stieg vom Rad, sprang über die liegengelassenen Bündel, holte den Wagenzug ein und warf sich in einen Wagen. Da schlug ihm der süße Geruch von Brot entgegen. Er steckte die Hand unter die Plache, brach ein Stück vom Brote ab und begann, vor Gier keuchend, zu essen.
Endlich war der ganze Zug in Unordnung, unter Schüssen, über die Brücke gekommen. Iwan Iljitsch stieg vom Wagen, gelangte zwischen den Fuhrwerken der Flüchtlinge aufs Feld und ging der Landstraße entlang. Aus den abgerissenen Sätzen, die er in der Finsternis erhaschte, erkannte er, daß die Schießerei einer feindlichen, d. h. russischen Patrouille galt. Folglich war die Frontlinie höchstens zehn Werst entfernt.
Iwan Iljitsch blieb einigemal stehen, um Atem zu holen. Es war schwer, gegen den Wind und Regen zu gehen. Die Beine knickten in den Knien ein, das Gesicht glühte, die Augen waren entzündet und geschwollen. Schließlich setzte er sich auf einen Erdbuckel und ließ den Kopf in die Hände sinken. Eiskalte Regentropfen fielen ihm in den Nacken, der ganze Körper schmerzte wie überfahren.
In diesem Augenblick schlug ein rundes, dumpfes Geräusch, als wäre irgendwo die Erde eingestürzt, an sein Ohr. Nach einer Minute ertönte ein zweiter, ähnlicher Seufzer der Nacht. Iwan Iljitsch hob den Kopf und lauschte. Er unterschied zwischen diesen tiefen Seufzern ein dumpfes Brummen, das bald verstummte, bald zu einem bösen Grollen anwuchs. Die Töne kamen nicht aus der Richtung, in die Iwan Iljitsch ging, sondern von links, von der fast entgegengesetzten Seite.
Er setzte sich auf die andere Seite des Grabens hinüber; nun konnte er deutlich die zerfetzten Wolken sehen, die tief über den schmutzigen, eisernen Himmel jagten. Es war das Morgengrauen. Dort war der Osten. Dort war Rußland.
Iwan Iljitsch stand auf, schnallte den Gürtel enger und ging, im Schmutz ausgleitend, über nasse Äcker, Gräben und die halbzerfallenen Reste der vorjährigen Schützengräben in diese Richtung.
Als es ganz hell geworden war, erblickte er wieder am Rande des Feldes eine Landstraße voller Menschen und Fuhrwerke. Er blieb stehen und sah sich um. Seitwärts stand unter einem großen, halb entlaubten Baum eine kleine, weiße Kapelle. Die Tür war von den Angeln gerissen, auf dem runden Dach und auf der Erde lag welkes Laub.
Iwan Iljitsch beschloß, hier den Abend abzuwarten; er trat in die Kapelle und legte sich auf den moosbewachsenen grünen Boden mit dem Gesicht zur Wand. Der zarte und durchdringende Geruch von welkem Laub benahm ihm den Kopf. In der Ferne hörte man Rädergerassel und Peitschengeknall. Diese Töne erschienen ihm ungemein angenehm, und plötzlich waren sie alle verstummt. Es war ihm, als hätte ihm jemand die Finger auf die Augen gedrückt. In der bleiernen Schwere des Schlafes erschien allmählich ein lebendiges Pünktchen. Es bemühte sich gleichsam, ein Traumgesicht zu werden, und konnte es nicht. Die Müdigkeit war so groß, daß Iwan Iljitsch brummend den Kopf schüttelte und sich immer tiefer in den weichen Abgrund des Schlafes vergrub. Aber das Pünktchen erschien immer wieder und beunruhigte ihn, als wäre etwas geschehen, – sein Herz strömte über von Tränen. Der Schlaf wurde immer leichter, und in der Ferne dröhnten wieder die Räder. Iwan Iljitsch setzte sich auf und sah sich um. Durch die Tür konnte er die dichten, flachen Wolken sehen; die Sonne, die sich dem Westen zuneigte, streckte unter ihren nassen bleiernen Rücken ihre breiten Strahlen aus. Ein flüssiger Lichtfleck legte sich auf die baufällige Mauer der Kapelle und beleuchtete das gesenkte Antlitz der hölzernen, vor Alter verblichenen Madonna mit goldener Krone; das in ein verschossenes Kleidchen gehüllte Knäblein lag auf ihrem Schoße, seine segnende Hand war abgebrochen.
Iwan Iljitsch bekreuzigte sich und verließ die Kapelle. Auf der steinernen Schwelle saß eine junge blonde Frau mit einem Kindlein im Schoße. Sie hatte einen weißen, schmutzbespritzten Filzkittel an. Die eine Hand stützte die Wange, die andere lag auf der bunten Decke des Kindes. Sie hob langsam den Kopf, – ihr Blick war so hell und sonderbar, – das verweinte Gesicht zuckte, als wollte es lächeln, und sie sagte auf ruthenisch leise und einfach: »Der Junge ist tot.« Dann stützte sie das Gesicht wieder in die Hand. Teljegin beugte sich über sie und streichelte ihr den Kopf, sie seufzte krampfhaft auf, und Tränen liefen ihr über die Wangen. »Kommen Sie. Ich will ihn tragen,« sagte er freundlich.
Die Frau schüttelte den Kopf. »Wohin soll ich gehen. Gehen Sie allein mit Gott, guter Herr.«
Iwan Iljitsch blieb noch eine Weile stehen, drückte sich die Mütze in die Augen und ging.