Graf Alexej N. Tolstoi
Höllenfahrt
Graf Alexej N. Tolstoi

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XXIII

Hinter der Stadt erhob sich auf dem Abhange eines Hügels, inmitten eines verwahrlosten Weingartens ein Haus aus gelbem Stein mit einem häßlichen quadratischen Turm. Die Besitzung hieß »Chateau Cabernais«. Dieses Haus hatte sich vor etwa dreißig Jahren Schadows Vater, ein heruntergekommener Gutsbesitzer aus dem Orjolschen Gouvernement, erbaut. Mit den Resten eines sehr großen Vermögens war er nach Anapa am Schwarzen Meer gezogen, hatte sich den Weingarten gekauft und eine Wohnstätte errichtet. Von einem hübschen Kosakenmädchen, das in seinem Weingarten arbeitete, wurde ihm der Sohn Arkadij geboren. Die Mutter brannte nach anderthalb Jahren mit einer Türkenfeluke durch, wie es hieß, nach Trapezunt. Der Junge wuchs anfangs auf dem Hofe auf; später merkte der Vater an ihm eine große Ähnlichkeit mit sich selbst und nahm ihn ins Haus.

Die Geschäfte seines Vaters standen schlecht, er hatte sein kleines Vermögen verlebt und den größten Teil seines Weinguts verkauft. Arkadij kam wieder aufs Gymnasium, und als er es absolvierte, starb sein Vater am Delirium tremens. Um diese Zeit brach der Krieg mit Japan aus. Arkadij Schadow machte ihn als Freiwilliger mit, wurde verwundet, zum Fähnrich befördert, und trieb sich nach Beendigung des Krieges drei Jahre in Sibirien und China herum. Er versuchte allerlei Geschäfte, hatte aber kein Glück. Er war Kommissionär, Angestellter bei Tee- und Pelzfirmen, Versicherungsagent, Goldgräber, Kontorist, befaßte sich eine Zeitlang mit Schmuggel, doch jedes klug durchdachte und energisch begonnene Unternehmen fiel zusammen, hauptsächlich weil die Menschen, mit denen er zu tun hatte, gegen ihn Mißtrauen, Furcht und Abscheu empfanden. Nur den Frauen gefiel er außerordentlich; er übte einen mächtigen Eindruck auf ihre Phantasie aus, und sie versuchten oft, ein ihm selbst unbekanntes Geheimnis seines Lebens zu erforschen. Dies brachte ihn auf den Gedanken, sich tätowieren zu lassen, – ein Japaner zu Mukden mühte sich zwei Wochen mit seiner Haut ab und stellte mit erstaunlicher Kunst auf seiner Brust sieben kranzförmig angeordnete schwarze und rote Affen dar.

Schadow hielt sich für einen ungewöhnlichen Menschen; die Frauen, mit denen er zu tun hatte, hielten ihn für einen Verbrecher, obwohl er bislang weder Raub noch Mord begangen hatte. Aber er fühlte in sich dennoch eine ständige Unruhe, als müßte er irgendetwas tun und könnte nicht dahinterkommen, was. Nur im Alkohol fand er eine wilde Freude und glaubte immer, seine ewige Unruhe werde einmal im Rausch einen Ausfluß finden. Er liebte es, ganz allein, hinter verschlossenen Türen zu trinken; er ging dann von Ecke zu Ecke, sprach mit sich selbst oder warf sich aufs Sofa und träumte. Sein liebster Traum war: Herbst – über braune Felder, ohne Weg und Steg, ziehen Bauern und Wagen und schlagen auf ihre Pferde – im Hintergrund, über den Umrissen einer Stadt, schwebt als große Wolke der Rauch einer Feuersbrunst – Wind fährt durch das Steppengras – Sturmläuten, Aufruhr.

Aber das waren lauter Träume, Unsinn, ein Spiel des jungen Blutes. Schadow sparte etwas Geld zusammen und kehrte zwei Jahre vor dem Ausbruch des Weltkrieges nach Anapa zurück, wo er zunächst ohne bestimmte Beschäftigung lebte.

Nun gewann er auch zwei Freunde: den intelligenten Arbeiter Filjka aus der Eisenbahnwerkstätte und den von Privatstunden lebenden Moskauer Studenten Gwosdjow. In der Stadt erzählte man sich, sie seien Mitglieder einer geheimen Organisation. Die Freunde trafen sich im »Chateau Cabernais«, in dessen Keller noch vom Vater her einige Fässer Rotwein standen. Manchmal zündeten sie in Herbstnächten oben auf dem Turm ein Holzfeuer an. Beim Morgengrauen gingen sie gewöhnlich baden, selbst im Winter. Die Polizei wurde schließlich auf die Versammlungen im »Chateau Cabernais« aufmerksam, und Schadow bekam eine Vorladung zum Kreischef, aber da begann gerade der Krieg.

* * *

Im Frühjahr 1916 sahen die Bewohner von Anapa wieder Licht in den Fenstern des verlassenen Schadowschen Hauses. Man erzählte sich, Arkadij Schadow sei aus dem Kriege ohne einen Arm zurückgekehrt, gehe nie aus, höchstens an den Strand, und habe ein ungewöhnlich schönes Weib bei sich wohnen. Abends sah man oft über die Hügel in der Richtung zum »Chateau Cabernais« die Freunde Schadows gehen: Gwosdjow, der vor kurzem gleichfalls als Krüppel aus dem Kriege zurückgekommen war, Filjka und noch einen dritten: den soeben aus Petersburg zugereisten dienstuntauglichen futuristischen Dichter Alexander Schirow. Die Bewohner von Anapa waren überzeugt, daß im »Chateau Cabernais« wüste Orgien abgehalten wurden.

Eines Abends bog der Nordostwind die entlaubten Pappeln zu Boden, ließ die Fensterrahmen im Schadowschen Hause erzittern und das Dach so erdröhnen, als ginge jemand über das Eisenblech, und blies durch alle Ritzen, Türen und Schornsteine; durch das verstaubte Fenster sah man die braunen Plantagen mit den nackten Weiden; ferne über dem aufgewühlten, wilden Meere stoben Wolkenfetzen dahin; es war öde und sehr kalt.

Arkadij Schadow saß auf dem kurzen und schmutzigen Sofa zwischen zwei Fenstern und trank Rotwein. Der leere Ärmel seiner einst eleganten, jetzt aber vom Liegen zerdrückten und von Zigaretten durchgebrannten Feldbluse steckte im Gürtel. Sein Gesicht war etwas aufgedunsen, aber rosig und glattrasiert, das Haar sorgfältig frisiert und nur oben am Scheitel etwas zerzaust.

Gegen die Rückwand des Sofas gelehnt, ein Auge vor dem Zigarettenrauche zusammengekniffen, starrte er schon seit einer Stunde stumm auf Jelisaweta Kijewna. Sie saß ihm gegenüber und rauchte, den Kopf demütig gesenkt. Er hatte sie abgerichtet, niemals selbst ein Gespräch anzufangen; er aber konnte tagelang schweigen. Jelisaweta Kijewna trug einen braunen, wollenen Schlafrock, der an der Brust weit offen stand, und ihren alten türkischen Schal um die Schultern; ihr üppiges Haar war in zwei Zöpfen um den Kopf geschlungen und an den Schläfen zerzaust.

»Weiß der Teufel, wie du aussiehst,« sagte endlich Schadow, an seiner Zigarette kauend: »Wie eine Vogelscheuche!«

Jelisaweta Kijewna wandte ihm ihr Gesicht zu, lächelte, nahm dann eine neue Zigarette, und das Streichholz, mit dem sie sie anzündete, beleuchtete ihr Gesicht. Schadow sah über ihre Wange eine Träne rollen. Er spuckte den Zigarettenstummel aus. »Geh, bring noch Cabernais!«

Jelisaweta Kijewna stand langsam auf, nahm vom Fensterbrett die Kerze, ging durch die leeren und kalten Zimmer zur Wendeltreppe und stieg mit der brennenden Kerze die unter ihren Schritten sich biegenden Stufen in den Keller hinunter, wo es dumpf nach Schimmel und Wein roch. Auf der gemauerten Deckenwölbung liefen große Spinnen herum, vor denen Jelisaweta sich so fürchtete, daß es sie jedesmal kalt überlief. Sie hockte sich vor das Faß hin, sah den blutroten Wein in den Tonkrug laufen und dachte sich, daß Arkadij sie einmal ermorden und hier hinter den Fässern verscharren würde. In Schadows Gegenwart wagte sie nicht, daran zu denken, aber wenn sie allein blieb, stellte sie sich mit unheimlicher Neugier vor, wie er auf sie schießen und wie sie hinsinken und mit stummem Lächeln hinsterben würde; er würde dann ihren Leichnam verscharren und später einmal, so wie sie jetzt vor dem Fasse sitzend, den dunkeln Wein in den Krug laufen sehen und plötzlich, zum erstenmal in seinem Leben, vor qualvoller Sehnsucht Tränen vergießen. Durch solcherlei Gedanken entschädigte sie sich für alle Kränkungen, – letzten Endes würde nicht er, sondern sie triumphieren.

Vor sechs Monaten erzählte Schadow Jelisaweta Kijewna im Lazarett eines Etappenstädtchens, in einer der Regennächte, als ihn noch sein jetzt nicht mehr vorhandener, amputierter Arm schmerzte, von den merkwürdigen Anschauungen, die er während des Krieges gewonnen hatte: er habe eingesehen, daß ebenso wie es keine Sünde sei, einen Ameisenhaufen mit einem Stock aufzuwühlen, man auch die menschlichen Ameisenhaufen zerstören dürfe und müsse. Der Mensch werde für eine kurze Zeitspanne geboren, um in ihr die ganze Kraft seiner Leidenschaften zu entfalten. Aber der Instinkt der Menge, der Menschheit strebe nach Entgegengesetztem: sich vor der Persönlichkeit zu schützen, sie mit den Ketten der Pflichten zu binden und das ganze Leben in einen flachen Sumpf zu verwandeln, in dem alle Frösche gleich sind. Das Ziel der Menschheit sei die Gleichheit. Im Leben gebe es zwei Gesetze: das Gesetz des Menschen und das Gesetz der Menschheit, die Freiheit und die Gleichheit. Beide Begriffe zu verbinden sei unmöglich; sie seien einander entgegengesetzt und feindlich. Im jetzigen Kriege verwandeln sich die Menschen leicht und widerspruchslos in eine Herde und vernichten einander, von einem blinden, dumpfen, unvernünftigen Hasse erfüllt, nur weil der Gegner ein anderer, von ihnen verschiedener Mensch ist. In diesem blutigen Gemetzel werden sie schließlich jede Ungleichheit, die Idee der Freiheit selbst zu hassen anfangen. Zu diesen ungeheuerlichen Konsequenzen sei die moderne Kultur gekommen: die Staaten fressen sich selbst auf im Namen irgendeiner idealen, allgemeinen Sklaverei, die man Gleichheit nennt. Es gebe nur einen Ausweg: die Weltkultur in die Luft zu sprengen und auf der befreiten, verödeten Erde im Namen der Freiheit, im Namen seiner selbst zu leben ...

Solche Gedanken kamen Jelisaweta Kijewna als eine Offenbarung vor. Endlich war sie auf einen Menschen gestoßen, dem es gelang, ihre Phantasie zu unterjochen. Stundenlang hörte sie mit glühenden Wangen, ohne den Blick von Schadows bösem, eingefallenen Gesichte zu wenden, seinem Fieberdelirium zu. ...

Als der Urlaub zu Ende war und Jelisaweta Kijewna ins Feldlazarett zurückkehren mußte, sagte ihr Schadow: »Es wäre dumm, wenn Sie mich verließen. Wir müssen uns trauen lassen.«

Jelisaweta Kijewna nickte mit dem Kopf. Die Trauung wurde im Lazarett vollzogen. Schadow ließ sich im Dezember nach Moskau überführen, wo er ein zweites Mal operiert wurde, zog im Frühjahre mit Jelisaweta Kijewna nach Anapa und ließ sich im »Chateau Cabernais« nieder. Sie hatten wenig Geld und hielten sich keinen Dienstboten außer einem alten Hausknecht, der die Lebensmittel aus der Stadt holte.

Hier, in diesem leeren, halbzerfallenen und kalten Hause begann ein langes und hoffnungsloses Nichtstun; alle Gesprächsmöglichkeiten waren erschöpft, und in der Zukunft winkte nur Langweile und Armut. Hinter ihnen war gleichsam eine schwere Tür ins Schloß gefallen.

Jelisaweta Kijewna bemühte sich, die Leere dieser qualvoll langen Tage durch sich selbst zu füllen, aber das gelang ihr schlecht, – in ihren Versuchen zu gefallen war sie lächerlich, unordentlich und ungeschickt. Schadow neckte sie immer damit, und sie sah voller Verzweiflung, daß sie, trotz der Schrankenlosigkeit ihrer Gedanken, als Frau doch sehr empfindlich war.

In der letzten Zeit war er sehr grausam gegen sie und schwieg tagelang. Nun erfand sie den Trost, sich auszumalen, wie er sie ermorden und dann in der hoffnungslosen Einsamkeit liebgewinnen würde. Und doch wußte sie, daß sie dieses qualvolle Leben voller Aufregungen und Schmerz, ihre Anbetung des Mannes und die seltenen Augenblicke einer wahnsinnigen Verzückung gegen kein anderes Leben eintauschen würde.

Jelisaweta Kijewna hob den schweren Weinkrug und ging langsam hinauf. Im Zimmer, das immer noch nicht erleuchtet war, saßen auf den Fensterbänken die Gäste: Alexander Iwanowitsch Schirow und Filjka.

Gwosdjow, ein großer Mensch mit schwachem Rücken, ging zwischen Tür und Fenster auf und ab und sprach mit böser Stimme zu Schadow: »Die französische Revolution hat die Persönlichkeit befreit, und im ekelhaften Dunst der romantischen Fieberträume begann die bourgeoise Kultur. Am Ende des Jahrhunderts hatten einige wenige Persönlichkeiten, nämlich die zwei oder drei Dutzend Milliardäre tatsächlich eine vollkommene Befreiung erlangt, dazu mußten sie die ganze Welt zu Sklaven machen. Die Idee der Persönlichkeit, Ihres Königs aller Könige ist wie eine Seifenblase geplatzt. Der Genius hat uns nirgends hingeführt, seine Fackel hat nur die Wände des Kerkers erleuchtet, in dem wir uns selbst Ketten schmiedeten. Diese verdammte Fackel haben wir ihm schon längst aus den Händen geschlagen ... Wir müssen den Instinkt der isolierten Persönlichkeit, den Instinkt dieses ›Ich‹ zerstören. Mag die Menschheit sich in eine Herde verwandeln, gut. Wir werden ihre Führer sein. Wir werden einen jeden vernichten, der auch nur um einen Zoll aus der Herde ragt. Ja, ja, ja!« Er fuchtelte mit seiner knochigen Hand gegen Schadow. »Hier handelt es sich nur gerade um den einen Zoll, wir werden ihn stutzen. In der schrecklichen Dämmerung des Jahrhunderts haben wir unsern Weg begonnen und wurden von der Nacht umfangen. Man inszenierte ein Gemetzel. Man hetzte uns gegeneinander und versuchte noch einmal, das letztemal, einen teuflischen Betrug ... Aber ich sage: wir sind unser Millionen, wir werden dieses Gemetzel überstehen ...« Er beugte sich vor und begann plötzlich trocken zu husten; es klang wie Bellen; dann ließ er sich auf einen Stuhl sinken und schüttelte seinen langbehaarten Kopf, – seine Lunge war von giftigen Gasen verbrannt.

Filjka, der auf der Fensterbank saß, sagte mit feiner, höflicher Stimme: »Bei uns in der Fabrik verstehen nur die ganz Dummen nicht, wofür das Volk sein Blut vergießt und wir mit den Überstunden unsere Gesundheit ruinieren. Ein Abenteuer des internationalen Kapitalismus! Man hat die Völker zur Schlachtbank getrieben, aber die Haupträdelsführer, – der deutsche Kaiser, der englische König, der französische Präsident, der österreichische Franz Joseph und auch unser Dummkopf haben sich miteinander schon längst geeinigt.«

»Unsinn,« versetzte Gwosdjow, schwer atmend, »rede keinen Unsinn. Daß sie aber alle das gleiche Ziel haben, das stimmt.«

»Ich sage doch nichts anderes: sie haben sich geeinigt.«

Gwosdjow stand auf, schenkte sich ein Glas Wein ein, trank es aus und begann wieder mit seinen plumpen Beinen auf und ab zu gehen: »Sie sind als ein ganz fremder Mensch zurückgekehrt, Schadow,« sagte er, »wir verstehen einander nicht mehr. Hören Sie mich mal ruhig an. Ihre Analyse stimmt: erstens mußte der Kapitalismus den Markt vom Warenüberfluß befreien; zweitens mußte er mit einem Schlag die Arbeiterdemokratie zermalmen, die für ihn gefährlich geworden ist. Das erste Ziel haben sie erreicht, in einem Maße sogar, das alle Erwartungen übertrifft: der Warenkonsum des Krieges übersteigt hundertfach die Friedensnorm. In diesen Ofen kann man die Waren waggonweise werfen. Aber bei der zweiten Aufgabe erleben sie einen Durchfall: das Coeur-Aß wird geschlagen werden, nicht das Kapital wird siegen, sondern das Volk, die Masse, der Ameisenhaufen, der Sozialismus. Eine Milliarde Menschen ist an den Kriegshandlungen und der militärischen Sozialisierung der Industrie beteiligt. Fünfzig Millionen Männer im Alter zwischen siebzehn und fünfundvierzig Jahren haben Waffen in die Hand bekommen. Die Spaltung der europäischen Arbeitermassen ist eine künstliche Sache, – alle Arbeiter haben gelernt, Waffen herzustellen und werden auf ein gegebenes Signal einander die Hände über die Schützengräben reichen. Der Krieg wird mit einer Revolution enden, mit einem Weltbrand, die Bajonette werden sich ins Innere der Länder richten... Sie aber machen eine direkt entgegengesetzte, falsche und dumme Schlußfolgerung... Was hat damit die Freiheit der Persönlichkeit zu tun? – Es ist Anarchismus, ein Fieberwahn! Das Pathos der Gleichheit, das ist die Konsequenz des Krieges... Verstehen Sie, was das heißt: Umbau der ganzen Welt, des Staates, der Moral? Man wird die Erdkugel umkehren müssen, um sich auch nur ein wenig der Wahrheit zu nähern, die als blutige Flamme in den Volksmassen aufleuchten wird. – Gerechtigkeit! Den Kaiserthron wird ein Bettler voller Eiterbeulen besteigen und rufen: ›Friede mit allen!‹ Und alle werden sich vor ihm neigen und seine Wunden küssen. Man wird aus einem Keller, aus einer Kloake, ein Wesen ans Licht ziehen, das in der letzten Erniedrigung schmachtet und kaum noch einem Menschen ähnlich sieht, und alles wird dem Stande dieses Wesens angepaßt werden müssen. Was werden Sie dann mit Ihrer ›Persönlichkeit‹, dem ›König aller Könige‹ anfangen? Man wird Ihnen einfach den Kopf abschlagen, damit er nicht zu hoch hinausragt.« Schadow lag, seine langen Beine ausgestreckt, auf dem Sofa und rollte die Zigarette aus dem einen Mundwinkel in den anderen; sie beleuchtete seine spöttischen Lippen und die trockene Nasenspitze. Jelisaweta Kijewna beobachtete ihn aus ihrem dunklen Winkel und dachte sich: wenn du betrunken und müde bist, ziehe ich dich aus und bringe dich zu Bett; nur ich allein kann deine ganze Seele verstehen, und wenn du mich auch hassest, ich bin dir bis in den Tod ergeben. – Sie bekam, indem sie sich das dachte, Herzklopfen.

»Nehmen wir an,« sagte Schadow mit eiskalter, leiser Stimme, »nehmen wir an, daß der krummbeinige Michrjutka mit seiner im Kriege zerschundenen Fratze schließlich die allgemeine Freiheit ausruft, alle Offiziere abschlachtet, die Parlamente und Ministerräte auseinanderjagt, allen Taschentuchbesitzern die Köpfe herunterreißt, bis auf der Erde alles vollkommen gleich wird. Ich will zugeben, daß es so kommen wird. Was werdet aber ihr Führer um diese Zeit machen? Euch dem Niveau des Syphilitikers Michrjutka aus der Kloake anpassen? He?«

Gwosdjow antwortete hastig: »Um vom Kriege zur Meuterei der Truppen zu gelangen, von der Meuterei zur politischen Revolution, und so weiter bis zur sozialen Revolution, muß man den vierten Stand aufmarschieren lassen, das bewaffnete Proletariat; dieses muß die ganze Verantwortung für die Revolution tragen und die Diktatur in seine Hand nehmen.«

»Also nicht mehr die Anpassung an Michrjutka?«

»Während der Revolution gibt es keine Gleichheit, sondern eine Diktatur. Revolutionäre Ideen werden durch Feuer und Blut verbreitet, das hätten Sie wissen sollen.«

»Wenn aber die Revolution zu Ende ist, was wollen Sie dann mit dem revolutionären Proletariat anfangen? Werden Sie diese ganze Klasse dem Michrjutka anpassen, oder werden Sie sie als eine verdiente revolutionäre Aristokratie weiterbestehen lassen?«

Gwosdjow blieb stehen und kratzte sich den Bart.

»Das Proletariat wird in seine Arbeitsstätten zurückkehren. ... Selbstverständlich wird es auch hier eine Kollision mit der menschlichen Natur geben, aber was soll man machen ... Alles, was hinausragt, muß gestutzt werden.«

»Eines schönen Tages wird das revolutionäre Proletariat mit den Genossen Diktatoren an der Spitze die Revolution für beendet erklären und beschließen, sich selbst restlos aufzufressen,« sagte Schadow. »Das hätten Sie mir vorher sagen sollen. Ich aber denke mir folgendes ... Es gibt ein außerordentlich interessantes Naturgesetz: je abstrakter und erhabener eine Idee ist, desto blutiger ist ihre Verwirklichung im Leben; dabei wird sie immer im mathematisch entgegengesetzten Sinne verwirklicht: nach der Kabbalah der Juden ist unsere Welt der umgekehrte Schatten Gottes; dieses Gesetz ist eben uralt. Es ist also, glaub ich, klar, wozu die Ideen der Liebe und der Freiheit geführt haben: wenn man der Menschheit mit einer dieser Ideen nahe kommt, so spritzt einem eine Blutfontäne entgegen. Jetzt ist die Zeit für die dritte Idee, die Gleichheit gekommen. Hier behaupten Sie selbst unumwunden, daß Blut fließen muß. Ich stimme zu und reiche Ihnen in diesem Punkte die Hand. Ich glaube auch daran, daß die Zeit für diese Idee gekommen ist, ich glaube an das Blut und auch an Ihre Diktatur, aber womit das alles enden wird, – darüber wollen wir lieber schweigen. Den krummbeinigen Michrjutka, den Hundesohn und Syphilitiker, hasse und verachte ich ganz offen; ich bin mit Ihnen bereit, ihn nach der Schnur zu stutzen und ihm auf den Schädel zu hauen, wenn er brummt. Ich bin bereit, mit der Revolution schon morgen früh zu beginnen. Aber, mein Bester, nicht im Namen der Gleichheit zwischen mir und Michrjutka, sondern im Namen der Gleichheit Michrjutkas. ... Ich werde ein guter Verwalter sein, das verspreche ich jetzt schon.«

Schadow zog die Beine ein, stand auf, stürzte ein Glas Wein hinunter und begann mit leichten, tänzelnden Schritten auf und abzugehen. Jelisaweta Kijewna beobachtete ihn klopfenden Herzens aus ihrem Winkel: Da ist er, der König der Könige, der große Mann, mein Gatte. –

Der Wind, der mit Anbruch der Nacht stärker geworden war, schüttelte den Fensterladen, blies in alle Ritzen und heulte mit wilden Stimmen auf dem Dachboden. Die Freunde schwiegen. Filjka stieg von der Fensterbank, schenkte sich Wein ein, kehrte mit dem Glas auf seinen Platz zurück und sagte einschmeichelnd: »Solche Menschen wie Sie, Genosse Schadow, müßten wir mehr haben. Gott weiß, wann die Revolution beginnen und wann sie endigen wird, aber wir haben keine Kämpfer. Das Volk ist gar zu dumm. Das einzige ist noch der Haß, aber wenn es zum Handeln kommt, versteckt sich ein jeder hinter dem Rücken des andern. Natürlich sollte man anfangen, aber es ist niemand da, der anfangen wollte.«

»Ja, Teufel, anfangen! ... Mit drei Kopeken anfangen,« versetzte Schadow, sich wieder aufs Sofa werfend; plötzlich fragte er mit ganz anderer Stimme: »Alexander Iwanowitsch, wie ist es nun? ...«

Alle richteten die Blicke auf Alexander Schirow, dessen schmaler Schatten sich vom Fenster abhob. Er machte eine Bewegung. Gwosdjow sagte erregt:

»Genossen, ich habe keine Genehmigung von der Partei und kann mich an der Sache nicht beteiligen.«

»Ich nehme alles auf meine persönliche Verantwortung,« entgegnete Schadow. »Das ist schon beschlossen, die Partei hat damit nichts zu tun. Genügt Ihnen das?«

Gwosdjow schwieg. Filjka versetzte noch einschmeichelnder: »Es ist ja eine gemeinsame Sache, ich bin mit Leib und Seele dabei, aber wegen der Partei habe ich Zweifel.«

Gwosdjow trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »An der Beratung werde ich mich als Privatperson wohl beteiligen, aber was das Unternehmen selbst betrifft, so kann ich, ich wiederhole es, nicht die Verantwortung auf mich nehmen. Macht es ohne mich. Filjka kann tun, was er will.«

»Das Geld werden Sie aber annehmen?« rief Schadow.

»Dann ist es gut. Lisa, bring noch Wein.«

Jelisaweta Kijewna nahm den Krug und ging schnell aus dem Zimmer. Sie wußte, daß sie in ihrer Abwesenheit endgültig die Sache beschließen würden, über die sie sich schon seit fünf Nächten berieten.

Es hatte damit angefangen, daß Alexander Iwanowitsch Schirow von einem neuen Bekannten erzählte, dem Kommandanten der Garnison Anapa, Oberst Bryssow, der aus Wladiwostok stammte und sich als Verehrer der allermodernsten Dichtkunst herausstellte. Einige Tage später fand in einem Zimmer des Griechischen Gasthauses zu Anapa eine Zusammenkunft mit dem Obersten statt, bei der Schadow, Schirow und Jelisaweta Kijewna zugegen waren. Bryssow traktierte sie mit echtem Monopolschnaps, rezitierte futuristische Gedichte und lachte auffallend laut, wobei er seinen graumelierten Bart nach rechts und links strich. Seine Gutmütigkeit und innere Undiszipliniertheit schienen grenzenlos.

»Ich bin der letzte Mohikaner«, schrie Bryssow, sein durchschwitztes Khaki aufknöpfend, »und bewahre die Überlieferungen. Nach dem Japankriege kam der neue Stil in Mode, die Mohikaner sterben aus. In Wladiwostok gab es aber seinerzeit einen Klub. Ich wurde als Leutnant und grüner Junge hingeführt. Auf der Treppe stand auf jeder Stufe ein Glas Schnaps: bemühen Sie sich bitte hinauf. Ha, ha! Es waren aber im ganzen achtunddreißig Stufen.«

Der Oberst schien gar keine Geheimnisse zu haben. Er erzählte über die »phänomenalen Diebereien« in den neu eroberten türkischen Gebieten und über eine Feluke mit gestohlenem Gold, die nächster Tage aus Trapezunt kommen sollte. »Es heißt, die Ladung bestehe aus Reis. Ha, ha. Reis! Sie führen als Privatgut eine Ladung Reis, hol ihn der Teufel. Ha, ha! Warum bekomme ich dann den strengsten Befehl, die Privatbarke mit Reis, die dieser Tage eintreffen soll, von Militärposten bewachen zu lassen? Wie?«

Jelisaweta Kijewna ahnte, daß die nächtlichen Gespräche im »Chateau Cabernais« sich um diese Feluke drehten. Als sie mit dem Weinkruge zurückkam, waren die Gäste schon fort. Schadow stand am Fenster.

»Im Schwatzen sind sie alle Meister«, sagte er mit dumpfer Stimme, ohne sich zu rühren. »Aber mach einmal einen Sprung, von diesen Worten zur Tat ...« Jetzt wandte er sich seiner Frau zu, sein Gesicht war verzerrt. »Es kommt nicht auf die Ideen an, sondern auf den Sprung. Ich werde mir vielleicht den Hals brechen, aber den Sprung machen ... Ich sehe im Sprunge die höchste Heldentat. ... Ja, Ideen, Ideen ... Gwosdjow sagt, ich sei Anarchist ... Unsinn, er ist ein Dummkopf. ... Ich will leben, das ist meine Philosophie ... Und ich halte das für einen genügenden Grund, um auf alle eure göttlichen und menschlichen Gesetze zu spucken ... Was glotzest du mich so an? ... Jawohl, ich bin ein Held, weil ...« Er streckte die Hand aus, um Jelisaweta Kijewna, die ganz nahe herangekommen war, zurückzustoßen. ... Sie ergriff seine eiskalten Finger. Plötzlich ließ er den Kopf sinken. »Nun ja, du siehst es selbst, ich fürchte mich. ... Ja, ich fürchte mich, wie seltsam es auch ist.«

»Was habt ihr beschlossen?« fragte Jelisaweta Kijewna schwer atmend.

»Morgen nacht werden wir die Feluke mit dem Reis plündern.«

Er sagte es noch einmal, ruhiger, mit einem Lächeln und starrte dann lange in das dunkle Fenster. Jelisaweta Kijewna umschlang seine Schultern und schmiegte sich mit der Wange an ihn. Er sagte ganz leise: »Für diesen Raubüberfall gibt es nicht die geringste Rechtfertigung, das ist die Hauptsache. Wenn es dafür eine Rechtfertigung gäbe, würde ich nicht mittun. Das ist eben die Sache, daß es keine Rechtfertigung gibt. Hast du es verstanden?«

»Darf ich morgen mit?«

»Du darfst. Dies soll der Anfang sein, Lisa. Wenn ich mir morgen nicht den Hals breche, so werde ich mich richtig entfalten. ... Ich werde einen Ruf erschallen lassen. Wir werden Genossen finden ... Wir werden die Keller öffnen und den ganzen Haß der Menschheit herauslassen. Nun, gut ... Komm schlafen.«

* * *

Den ganzen Tag blies ein steifer, kalter Wind. Schadow lief einmal in die Stadt und kam gegen Abend erregt und lustig zurück. Als es dämmerte, stieg er mit Jelisaweta Kijewna die Hügel zum trüben, brausenden, verunstalteten Meere hinab. Jelisaweta Kijewna klapperten die Zähne. Der Strand war leer. Es wurde immer dunkler. An der Stelle, wo die Dünen sich dem Wasser näherten, erhoben sich aus dem Gebüsch zwei Gestalten: Filjka und Alexander Schirow. Filjka sagte mit gedämpfter Stimme: »Wir haben das Boot bei den Badehütten zurückgelassen, hier kommt man nicht heran, es ist zu seicht.«

Schadow antwortete nichts und ging über den lockeren, von den Wellen beleckten Sand. Das Gehen war recht schwierig, das Wasser stieg zuweilen bis über die Knie. Jelisaweta Kijewna stolperte über einen von den Wellen an den Strand gespülten Baumstamm und klammerte sich an Schirow; er taumelte erschrocken zurück, sein Gesicht mit den dicken Lippen war kreideblaß.

»Eine wahnsinnige Nacht, wunderbar!« sagte Jelisaweta Kijewna.

»Fürchten Sie sich nicht?« fragte er im Flüsterton.

»Unsinn! Im Gegenteil.«

»Wissen Sie, Filjka hat gedroht, mich zu erstechen.«

»Warum?«

»Wenn ich nicht mitkomme.«

»Er hat auch recht.«

»Na, wissen Sie ...«

Neben der schiefen, nach Fäulnis und Tang riechenden, knarrenden Badehütte lag ein Ruderboot mit steilen Borden. Schadow sprang als erster hinein und setzte sich ans Steuer.

»Schirow, nach vorn! Lisa, Filjka an die Ruder!«

Es war sehr schwer, vom Ufer loszukommen; die Brandung trieb das Boot immer wieder auf den Sand. Alle waren im Nu durchnäßt. Alexander Iwanowitsch Schirow hielt seinen Hut fest, gab leise Schreie von sich und versuchte plötzlich aus dem Boot zu springen. Schadow erhob sich von der Bank und sagte: »Filjka, gib ihm mal eins mit dem Ruder!« Da hockte sich Schirow wieder zitternd vorne im Boote hin.

Jelisaweta Kijewna ruderte, indem sie sich mit aller Kraft gegen den Bord stemmte und bei jedem Ruderschlag den Rücken zurückwarf. Wäre ihr Mann nicht dabei, so würde sie vor Entzücken schreien. Das Boot flog bald die rollenden Wellenkämme hinauf, bald stürzte es zwischen trüben Wassermauern in die Tiefe.

Schadow erhob sich wieder von seiner Bank und blickte nach vorn. Etwa zwanzig Klafter vor ihnen schaukelte die schwarze Silhouette der Feluke mit zwei Masten. Schadow steuerte das Boot von der Leeseite heran und kommandierte Schirow: »Pack das Tau!«

Das Boot legte an die nach Teer riechende Feluke an, die knarrend aus dem Wasser stieg und wieder in die Wellen sank. Im Takelwerke pfiff der Wind. Alexander Schirow klammerte sich mit beiden Händen an das Tau. Filjka fing mit dem Bootshaken die Strickleiter. Schadow kletterte geschickt wie eine Katze hinauf und sprang mit einem Satze auf das Deck. Filjka folgte ihm. Jelisaweta Kijewna ließ die Ruder los und blickte hinauf. Es war nicht mehr als eine Minute vergangen, als drei trockene Schüsse krachten. Alexander Schirow senkte den Kopf und drückte sich an das Tau. Oben erklang eine gedehnte, fremde Stimme: »Ach, ich bin hin ...« Gleich darauf entstand eine Bewegung. An der Reling erschienen drei ringende Gestalten. Eine von ihnen hängte sich über die Reling. Über ihr erhob sich ein Arm und fuhr nieder. Der Körper stürzte über Bord und fiel dicht neben dem Boot ins Wasser. Jelisaweta Kijewna sah und hörte alles wie im Traume. Am Bord erschien Schadow und befahl laut: »Alexander Iwanowitsch, klettere herauf.«

Schirow blieb kraftlos an der Strickleiter hängen. Schadow streckte ihm die Hand entgegen und zog ihn aufs Deck.

»Lisa, paß aufs Boot auf,« sagte er, »wir sind gleich fertig.«

Das Boot stieß nach einer Stunde von der Feluke ab, Filjka allein ruderte. Zu Füßen Jelisawetas Kijewnas stand ein kleines Köfferchen, – man hatte es in einem Sacke mit Reis gefunden. Neben ihm saß auf dem Boden des Bootes, das Gesicht an die Knie gedrückt, Alexander Schirow.

Sie ließen das Boot bei der Badehütte zurück und schlugen zu viert den Weg zum »Chateau Cabernais« ein; sie gingen dicht am Wasser, das die Spuren ihrer Füße wegspülte. Als sie den halben Weg zurückgelegt hatten, zeigten sich auf dem Sande rötliche Schatten, und der Schaum der heranrollenden Wellen wurde rot wie Blut, Jelisaweta Kijewna sah sich um: in der Ferne zwischen den sich ballenden und enteilenden Wolken brannte die Feluke mit gewaltiger, rauchender Flamme. Schadow beugte sich vor und rief: »Laufschritt, Laufschritt! ...«


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