Graf Alexej N. Tolstoi
Höllenfahrt
Graf Alexej N. Tolstoi

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XX

Am gleichen Abend waren die Offiziere einer der Kompagnien des Ussolskischen Regiments in ihrem Unterstande nicht weit vom Stalle zu einem Liebesmahl versammelt: Hauptmann Tjotjkin hatte die Nachricht von der Geburt eines Sohnes erhalten, und dieses Ereignis wurde gefeiert. Tief unter der Erde im dreifach gedeckten Unterstande, einem niederen Keller, der von vielen in Gläsern steckenden Stearinkerzen erleuchtet war, saßen am Tisch acht Offiziere, der Arzt und drei Schwestern aus dem Feldlazarett.

Man hatte schon viel getrunken. Der glückliche Vater, Hauptmann Tjotjkin, schlief, das Gesicht auf dem Ellenbogen, und seine schmutzige Hand hing über den kahlen Schädel herab. In der von Spiritusdämpfen geschwängerten schwülen Luft, im milden Kerzenscheine erschienen die Schwestern ungewöhnlich hübsch; sie hatten graue Kleider an und ebensolche Kopftücher. Die eine von ihnen, namens Muschka, hatte an jeder Schläfe eine schwarze Locke hängen; sie lachte unaufhörlich, wobei sie den Kopf zurückwarf und ihren zarten weißen Hals zeigte, in den ihre beiden Nachbarn und die beiden ihr gegenüber sitzenden Männer ihre schweren Blicke bohrten. Die andere, Marja Iwanowna, eine volle Person mit einem bis zu den Augenbrauen roten Gesicht, sang mit großer Kunstfertigkeit Zigeunerlieder. Die Zuhörer schlugen ganz außer sich mit den Fäusten auf den Tisch und gröhlten immer wieder: »Teufel! War das ein Leben!« – Die dritte Schwester war Jelisaweta Kijewna. In ihren Augen brachen sich die Kerzenflammen, alle Gesichter erschienen ihr durch den Rauch als leuchtende weiße Flecke, und das Gesicht ihres Tischherrn, des Leutnants Schadow, kam ihr schön und schrecklich vor. Er war breitschultrig, dunkelblond, glattrasiert, hatte helle, durchsichtige Augen, und sein Mund war zu einem schiefen Lächeln verzerrt. Er saß, den Gürtel fest geschnallt, in gerader Haltung da, trank sehr viel und wurde nur immer blasser. Wenn die schwarzhaarige Muschka zu lachen anfing, wenn Marja Iwanowna nach der Gitarre griff, die sie mitgebracht hatte, sich mit dem zusammengeballten Taschentuch übers Gesicht fuhr und, das Doppelkinn vorgestreckt, mit ihrer tiefen Stimme das Lied begann: »Ich bin in Moldaus Steppenland geboren«, – lächelte Schadow langsam mit nur einem Winkel seines geraden und feinen Mundes und schenkte sich ein neues Glas Spiritus ein.

Jelisaweta Kijewna blickte ihm in sein glattes, runzelloses, wie porzellanenes Gesicht und empfand eine brennende Trauer.

Er unterhielt sie mit anständigen und gleichgültigen Gesprächen und erzählte ihr u.a., daß in seinem Regiment ein gewisser Stabshauptmann Martynow diene, von dem behauptet werde, er sei ein Fatalist; wenn er genügend Kognak getrunken habe, pflege er wirklich nachts durch das Drahtverhau dicht vor die feindlichen Schützengräben zu gehen und auf die Deutschen in vier Sprachen zu schimpfen; dieser Tage habe er seinen Ehrgeiz mit einem Bauchschuß bezahlen müssen. Jelisaweta Kijewna seufzte auf und sagte, der Stabshauptmann Martynow sei also ein Held. Schadow lächelte spöttisch.

»Ich bitte um Verzeihung: es gibt ehrgeizige Menschen und dumme Menschen, aber Helden gibt es nicht.«

»Wenn Sie aber zum Angriff vorgehen, ist es dann kein Heldentum?«

»Erstens geht man nicht freiwillig vor, sondern man wird dazu gezwungen, und diejenigen, die gehen, sind Feiglinge. Gewiß gibt es Menschen, die ihr Leben auch ohne Zwang riskieren. Es sind aber diejenigen, die ein organisches Bedürfnis zu töten haben.« Schadow trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Wenn Sie wollen, sind es Menschen, die auf der höchsten Stufe des menschlichen Bewußtseins stehen.«

Er erhob sich leicht von seinem Platz, holte vom andern Ende des Tisches eine große Schachtel mit Fruchtpasten und bot sie Jelisaweta Kijewna an.

»Nein, nein, ich will nicht,« sagte sie und fühlte ihr Herz klopfen und ihren Körper ganz schwach werden. »Nun, sagen Sie: und Sie?«

Schadow runzelte die Stirn, auch sein übriges Gesicht war plötzlich von seinen Runzeln durchfurcht und sah gealtert aus.

»Was – und ich?« entgegnete er scharf. »Gestern habe ich hinter dem Stalle einen Juden niedergeschossen. Wollen Sie wissen, ob es angenehm war oder nicht? Welch ein Unsinn!«

Er steckte sich eine Zigarette in den Mund und rieb ein Streichholz an; seine flachen Finger hielten zwar das Streichholz sicher und fest, aber die Zigarette geriet nicht ins Feuer und wollte nicht brennen.

»Ja, ich bin betrunken und bitte um Entschuldigung,« sagte er, indem er das Streichholz, das bis zu seinen Fingernägeln niedergebrannt war, wegwarf. »Gehen wir doch an die Luft.«

Jelisaweta Kijewna erhob sich wie schlafend von ihrem Platz und folgte ihm durch den schmalen Laufgraben aus dem Unterstande. Hinter ihnen schrien trunkene, lustige Stimmen, und Marja Iwanowna griff in die Saiten und sang: »Die Nacht war voller Leidenschaft und Wollust ...«

Die Frühlingsluft draußen war von einem fauligen Geruche erfüllt, es war dunkel und still. Schadow ging schnell über das nasse Gras, die Hände in die Taschen vergraben. Jelisaweta Kijewna folgte ihm in einiger Entfernung, fühlte sich schwer gekränkt, hörte aber nicht auf zu lächeln. Er blieb plötzlich stehen und fragte kurz: »Nun?«

Ihr glühten die Ohren. Sie unterdrückte den Krampf in der Kehle und antwortete kaum hörbar: »Ich weiß nicht.«

»Kommen Sie.« Er wies mit einer Kopfbewegung auf das Stalldach, das sich dunkel vom Himmel abhob. Nach einigen Schritten blieb er wieder stehen und ergriff mit seiner eiskalten Hand die ihrige.

»Ich bin gebaut wie ein Gott,« sagte er mit unerwartetem Feuer. »Ich reiße Zwanzigkopekenstücke entzwei. Ich durchschaue jeden Menschen, als wäre er aus Glas. ... Ich hasse.« Er stockte, als wäre ihm plötzlich etwas eingefallen, und stampfte mit dem Fuß. »Dieses Kichern, dieses Singen, diese feigen Gespräche sind eine Gemeinheit! Sie sind alle wie Würmer im warmen Mist ... Sie sehen nur meine Füße an. Ich trete sie nieder ... Hören Sie ... Ich liebe Sie nicht, ich kann es nicht! Ich werde Sie nicht lieben ... Machen Sie sich keine Illusionen ... Aber ich brauche Sie ... Dieses Gefühl der Abhängigkeit ist mir fürchterlich ... Sie müssen es verstehen ...« Er schob seine Hände unter ihre Ellenbogen, zog sie mit einem starken Ruck zu sich heran und drückte seine trockenen und glühend heißen Lippen an ihre Schläfe.

Sie versuchte sich loszureißen, aber er drückte sie so fest zusammen, daß ihre Gelenke knackten, sie ließ den Kopf sinken und blieb schwer in seinen Armen hängen.

»Sie sind ganz anders als die andern,« sagte er, »ich werde Sie lehren ...« Er verstummte plötzlich und hob den Kopf. In der Dunkelheit erhob sich ein schneidendes, bohrendes Geräusch.

Gleich darauf krachte es in der Ferne.

»Teufel!« zischte Schadow durch die Zähne.

Eine zweite Granate platzte, ganz in der Nähe, hinter dem Stalle, erhob sich eine Rauch- und Feuersäule, und in die Höhe flogen brennende Strohbündel. Jelisaweta Kijewna fiel zu Boden, riß sich mit großer Mühe in die Höhe und lief betäubt zum Unterstand.

Jenseits des Flusses, weit hinter den Hügeln donnerten die deutschen Batterien. Die Beschießung richtete sich zugleich auf zwei Stellen: sie schossen nach rechts auf die Brücke und nach links auf die Furt zum Meierhof auf dem anderen Ufer, den die sechste Kompagnie des Ussolskischen Regiments vor kurzem besetzt hatte. Ein Teil des Feuers war auf die russischen Batterien gerichtet, die nur sehr schwach erwiderten.

Jelisaweta Kijewna sah, wie Schadow ohne Mütze, die Hände in den Taschen, direkt übers Feld zum Maschinengewehrnest ging. Und plötzlich wuchs an der Stelle, wo sich seine große Gestalt befunden hatte, ein dichter Busch aus Rauch und Feuer. Jelisaweta Kijewna schloß die Augen. Als sie sie wieder öffnete, ging Schadow etwas mehr links, die Ellenbogen immer noch gespreizt. Hauptmann Tjotjkin, der mit dem Feldstecher in der Hand neben Jelisaweta Kijewna stand, rief ihr wütend zu: »Ich hab doch immer gefragt, wozu wir diesen Meierhof, hol ihn der Teufel, brauchen! Schauen Sie bitte: jetzt haben sie uns die ganze Furt zerstört. Diese Hunde!« Er blickte wieder in den Feldstecher. »Diese Hunde, sie feuern direkt auf den Meierhof. Die sechste Kompagnie ist verloren. Ach!« Er wandte sich weg und kratzte sich den kahlen Nacken. »Schljapkin!«

»Hier!« antwortete ein kleiner Mann mit großer Nase und einer zottigen Fellmütze auf dem Kopfe.

»Haben Sie mit dem Meierhof gesprochen?!«

»Die Verbindung ist unterbrochen.«

»Telephonieren Sie der achten Kompagnie, man solle zum Meierhof Verstärkung schicken.«

»Zu Befehl,« antwortete Schljapkin, die Hand mit scharfem Rucke vom Mützenrand losreißend. Er ging zwei Schritte zurück und blieb stehen.

»Leutnant Schljapkin!« rief der Hauptmann wieder mit wilder Stimme.

»Hier.«

»Wollen Sie den Befehl ausführen.«

»Zu Befehl.« Schljapkin trat noch etwas zurück, senkte den Kopf und begann mit seinem Stock in der Erde zu stochern.

»Leutnant Schljapkin!«

»Hier.«

»Verstehen Sie, was man Ihnen sagt, oder nicht?«

»Zu Befehl, ja.«

»Geben Sie den Befehl an die achte Kompagnie weiter. Fügen Sie aber von sich aus hinzu, daß man ihn nicht ausführen soll. Sie sind auch selbst keine solchen Idioten, daß sie Menschen hinschicken. Sollen sie nur an die fünfzehn Mann zur Furt schicken, damit sie das Feuer erwidern. Der Division melden Sie aber sofort, daß die achte Kompagnie mit einem kühnen Handstreich die Furt forciere. Die Verluste wollen wir später von der sechsten Kompagnie angeben. Gehen Sie. Scheren Sie sich doch von hier, Fräulein!« wandte er sich an Jelisaweta Kijewna. »Scheren Sie sich zum Teufel, gleich beginnt die Beschießung.«

In diesem Augenblick flog zischend, ganz tief, ein Geschoß vorbei und schlug etwa zwanzig Schritt hinter ihnen in einen Baum.


 << zurück weiter >>