Graf Alexej N. Tolstoi
Höllenfahrt
Graf Alexej N. Tolstoi

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XXIV

Moskau war im Laufe dieses Sommers merklich leerer geworden: der Krieg hatte wie eine Pumpe die ganze männliche Bevölkerung herausgesogen. Nikolai Iwanowitsch hatte sich noch im Frühjahr an die Front, nach Minsk begeben. Dascha und Katja lebten in der Stadt still und zurückgezogen, – es gab viel Arbeit. Manchmal kamen kurze und traurige Briefe von Teljegin: er hatte einen Fluchtversuch aus der Gefangenschaft unternommen, war aber aufgegriffen und in eine Festung verbracht worden.

Eine Zeitlang verkehrte bei den Schwestern ein sehr netter junger Mensch, Roschtschin, der soeben die Fähnrichschule absolviert hatte. Er stammte aus einer guten Professorenfamilie und kannte die Smokownikows noch aus Petersburg.

Täglich in der Abenddämmerung erklang die Türglocke. Jekaterina Dmitrijewna seufzte dann leise auf und ging zum Büffet, um Marmelade in die Schale zu tun oder Zitrone zum Tee aufzuschneiden. Dascha hatte bemerkt, daß wenn nach dem Läuten im Eßzimmer Roschtschin erschien, Katja ihm ihr Gesicht nicht sofort zuwandte, sondern erst eine Minute verstreichen ließ; dann zeigte sich auf ihren Lippen das gewohnte zärtliche und etwas traurige Lächeln. Roschtschin verbeugte sich stumm. Er war groß gewachsen, hatte kräftige Hände und bewegte sich langsam. Er setzte sich gemächlich an den Tisch und berichtete mit ruhiger, leiser Stimme über die neuesten Kriegsereignisse. Katja saß still hinter dem Samowar, blickte ihm ins Gesicht, und ihren dunkeln Augen mit den großen Pupillen konnte man ansehen, daß sie seine Worte gar nicht hörte. Wenn Roschtschins Blicke die ihrigen trafen, neigte er gleich sein breites, glattrasiertes Gesicht über das Teeglas, und über seine Backenknochen ging ein Zucken, als rollte unter der Haut eine kleine Kugel. Zuweilen trat am Teetisch ein langes Schweigen ein, und Katja seufzte plötzlich auf. Sie errötete dann und lächelte wie schuldbewußt. Gegen elf Uhr brach Roschtschin gewöhnlich auf, küßte Katja respektvoll und Dascha zerstreut die Hand und ging, wobei er immer mit der Schulter an den Türpfosten stieß. Man hörte seine Schritte lange noch durch die leere Gasse hallen. Katja spülte die Tassen, schloß das Büfett ab, ging, immer noch schweigend, auf ihr Zimmer und riegelte hinter sich zu.

Dascha saß einmal beim Sonnenuntergang am offenen Fenster. Hoch über der Straße flatterten Schwalben. Dascha lauschte ihren feinen, gläsernen Stimmen und dachte sich, daß morgen ein heißer und heiterer Tag sein würde, da die Schwalben so hoch flögen; die Schwalben wüßten nichts vom Kriege, die glücklichen Vögel!

Die Sonne war untergegangen, über der Stadt schwebte eine goldene Staubwolke, und in ihr leuchtete immer heller die schmale Mondsichel. Menschen saßen in der Dämmerung vor den Haustüren und Toren. Es war so furchtbar traurig. Dascha wartete, und da klangen schon irgendwo in der Nähe die von ewiger, spießbürgerlicher abendlicher Langweile erfüllten Töne eines Leierkastens. Eine hohe, bis zu den Dachböden reichende Frauenstimme sang: »Ich lebte von trockenem Brote und kaltem Wasser allein ...«

Katja trat von rückwärts an Daschas Stuhl und lauschte gleichfalls, ohne sich zu regen. »Katjuscha, wie schön sie singt!«

»Weshalb?« sagte Katja plötzlich mit tiefer, veränderter Stimme. »Weshalb wurde das über uns verhängt? Was habe ich verbrochen? Wenn das alles einmal zu Ende ist, bin ich schon eine alte Frau, verstehst du es? Ich kann nicht mehr, ich kann nicht, ich kann nicht! ...« Sie stand schwer atmend vor der Portiere, blaß, mit Falten an den Mundwinkeln, und blickte Dascha mit trockenen, dunkel gewordenen Augen an. »Ich kann nicht mehr, ich kann nicht!« wiederholte sie leise und heiser. »Das wird kein Ende nehmen!... Wir sterben ... Wir werden nie mehr eine Freude erleben ... Hörst du, wie sie heult? Sie singt einen bei lebendigem Leibe ins Grab ...«

Dascha umschlang die Schwester mit den Armen, streichelte sie und bemühte sich, sie zu beruhigen. Aber Katja wehrte sich mit den Ellenbogen, rückte von ihr weg und war wie aus Stein.

»Katjuscha, Katjuscha, sag doch, was ist mit dir?... Liebste, beruhige dich doch ...« Dascha fühlte, wie Katja ihre Zähne aufeinanderbiß und eiskalte Hände hatte. »Was ist geschehen? Warum bist du so?«

Im Vorzimmer ging die Klingel. Katja schob die Schwester zur Seite und blickte auf die Tür. Herein trat Roschtschin, mit kurzgeschorenem Haar. Er begrüßte mit einem schiefen Lächeln Dascha, reichte Katja die Hand, sah sie plötzlich erstaunt an und runzelte die Stirn. Dascha zog sich sogleich ins Eßzimmer zurück. Während sie die Teetassen auf den Tisch stellte, hörte sie, wie Katja anscheinend ruhig, aber mit der gleichen tiefen und heiseren Stimme fragte: »Sie müssen fort?«

Roschtschin hüstelte und sagte trocken: »Ja.«

»Morgen?«

»Ja, morgen früh.«

»Wohin?«

»Zur Dritten Armee.« Nach einem kurzen Schweigen fuhr er fort: »Die Sache ist nämlich die, Jekaterina Dmitrijewna: wir sehen uns offenbar zum letztenmal, und so entschloß ich mich, Ihnen zu sagen ...«

Katja unterbrach ihn hastig: »Nein, nein ... Ich weiß alles ... Und auch Sie wissen, daß ich ...«

»Jekaterina Dmitrijewna, Sie? ...«

Katja schrie verzweifelt auf: »Ja, Sie. sehen es selbst! ... Ich flehe Sie an, gehen Sie ...«

Die Schale mit Marmelade zitterte in Daschas Händen. Im Salon herrschte Schweigen. Katja sagte endlich sehr leise: »Gott wird Sie schützen ... Gehen Sie, Wadim Petrowitsch ...«

»Leben Sie wohl.«

Er seufzte kurz auf. Seine Schritte verklangen im Vorzimmer, und die Wohnungstüre fiel ins Schloß. Katja kam ins Eßzimmer, setzte sich an den Tisch, bedeckte das Gesicht mit den Händen, und zwischen ihren Fingern drangen Tränen hervor.

Von dieser Stunde an erwähnte sie Roschtschin mit keinem Worte mehr, sie hatte ja auch nichts zu sagen, – wenn sie nur Kraft genug hatte, um sich diese überflüssige, in der Abenddämmerung von ihrem zu unrechter Zeit sich nach Liebe sehnenden Herzen erzeugte Qual aus der Brust zu reißen.

Katja ertrug den Schmerz mit großem Mut, wenn sie auch jeden Morgen mit roten Augen und geschwollenen Lippen aufstand. Roschtschin schickte von unterwegs eine Postkarte mit einem Gruß an beide Schwestern; man legte sie auf den Kamin, wo die Fliegen sie beschmutzten.

* * *

Die Schwestern gingen nun jeden Abend auf den Twerskoi-Boulevard zur Musik; sie saßen auf einer Bank und sahen sich das Publikum an: unter den Bäumen spazierten junge Mädchen und Backfische in weißen und rosafarbenen Kleidern, sehr viele Frauen und Kinder; ab und zu kam auch ein Soldat mit verbundenem Arm oder ein Invalide auf Krücken vorbei. Die Militärmusik spielte den Walzer ›Auf den Hügeln der Mandschurei‹. – Tu, tu, tu, sang die Trompete, und die Töne stiegen traurig in den Abendhimmel. Dascha ergriff Katjas schwache, magere Hand und küßte sie zärtlich.

»Katjuscha, Katjuscha,« sagte sie und blickte auf das zwischen den Bäumen leuchtende Abendrot, »erinnerst du dich noch an die Verse:

Meine arme Liebe, tot und hoffnungslos.
Du erkaltest, meines Herzens Zärtlichkeit ...

Ich weiß es ganz sicher: wenn wir tapfer sein werden, so erleben wir doch die Zeit, wo man mit geschlossenen Augen lieben kann, ohne nachzudenken, ohne sich zu quälen ... Jetzt wissen wir ja, daß es in der Welt nichts Größeres gibt als die Liebe. Manchmal denke ich mir: wenn Iwan Iljitsch aus der Gefangenschaft zurückkehrt, wird er mir ganz fremd und neu sein. Jetzt liebe ich ihn einsam, irgendwie unkörperlich, doch sehr, sehr treu. Unser Wiedersehen wird aber so sein, als hätten wir einander in irgendeinem anderen Leben geliebt; jetzt sind wir uns nahe und zugleich fremd, es ist etwas unheimlich ... Was wird sein, was wird sein? ... Manchmal habe ich das Gefühl, als sei mein Herz durchsichtig geworden.«

Jekaterina Dmitrijewna schmiegte ihre Wange an Daschas Schulter und sagte: »Dascha, in meinem Herzen ist solche Bitterkeit, solche Finsternis, als wäre es ganz alt geworden. Du wirst die guten Zeiten noch erleben, ich aber nicht, – ich verblühe fruchtlos.«

»Katjuscha, schäme dich doch, so zu sprechen.«

»Ja, Kind, man muß tapfer sein.«

An einem solchen Abende setzte sich ans andere Ende ihrer Bank ein Mann in Uniform. Das Orchester spielte den alten Walzer. Hinter den Bäumen leuchteten matt die Laternen. Der Mann auf der Bank sah sie so durchdringend an, daß Dascha ein Unbehagen am Halse verspürte. Sie wandte sich um und rief plötzlich erschrocken und leise: »Nein!«

Neben ihr saß Bessonow, mager, heruntergekommen, in einer viel zu weiten Feldbluse und einer Soldatenmütze mit rotem Kreuz. Er erhob sich und begrüßte stumm die Schwestern. Dascha sagte ›Guten Tag‹, und preßte die Lippen zusammen. Jekaterina Dmitrijewna lehnte sich in den Schatten von Daschas Hut zurück und schloß die Augen. Bessonow blickte auf den Sand zu seinen Füßen und schien verstaubt, ungewaschen und grau.

»Ich sah Sie hier auf dem Boulevard auch gestern und vorgestern«, sagte er und zog die Brauen hoch. »Ich wagte nicht, an Sie heranzugehn ... Ich muß in den Krieg, kämpfen. Wie Sie sehen, bin auch ich darangekommen.«

»Was wollen Sie kämpfen, Sie sind ja beim Roten Kreuz!« versetzte Dascha plötzlich gereizt.

»Die Gefahr ist wohl verhältnismäßig geringer. Es ist mir übrigens vollkommen gleich, ob man mich töten wird oder nicht. ... Es ist so langweilig, so langweilig, Darja Dmitrijewna!« Er hob den Kopf und richtete einen trüben Blick auf ihre Lippen. »So langweilig: alle diese Leichen, Leichen, Leichen ...«

Katja fragte, ohne die Augen zu öffnen: »Ist Ihnen das alles langweilig?«

»Ja, furchtbar langweilig, Jekaterina Dmitrijewna. Ich hatte noch eine kleine Hoffnung ... Aber nach allen diesen Leichen ging alles zum Teufel. ... Es war irgendeine Kultur im Entstehen, – Blödsinn, Fieberwahn. ... Die Wirklichkeit ist – Leichen und Blut, – Chaos. Also ... Darja Dmitrijewna, eigentlich habe ich mich zu Ihnen gesetzt, um Sie zu bitten, mir eine halbe Stunde Ihrer Zeit zu schenken.«

»Wozu?« Dascha blickte in sein fremdes, ungesundes Gesicht mit dem unangenehmen Mund, und plötzlich hatte sie das Gefühl, als sähe sie diesen Menschen überhaupt zum erstenmal; dieses Gefühl war so stark, daß ihr der Kopf schwindelte. »Ich habe viel darüber nachgedacht, was zwischen uns in der Krim vorgefallen ist,« sagte Bessonow, »und möchte mit Ihnen darüber sprechen.« Er holte aus der Brusttasche seiner Feldbluse langsam das Zigarettenetui. »Ich möchte einen gewissen unangenehmen Eindruck zerstreuen ...«

Dascha kniff die Augen zusammen: in diesem widerlichen Gesicht war keine Spur mehr vom einstigen Zauber. Einfach einer vom Boulevard. Und sie erwiderte sehr fest: »Mir scheint, Sie haben mit mir über nichts zu sprechen.« Sie wandte sich weg. Katjas Hand zitterte in ihrem Rücken. Dascha errötete und runzelte die Stirn. »Leben Sie wohl, Alexej Alexejewitsch.«

Bessonow verzog seine tabakgelben, verwitterten Lippen zu einem Lächeln, lüftete die Mütze und ging. Dascha blickte auf seinen schwachen Rücken, auf seine viel zu weite Hose, die aussah, als wollte sie hinunterrutschen, und seine schweren, verstaubten Stiefel, – war es denn wirklich jener Bessonow, der Dämon ihrer Mädchennächte? Und sie fühlte plötzlich durchdringendes Mitleid mit ihm.

»Katjuscha, ich komme gleich wieder,« sagte sie hastig und lief Bessonow nach. Er ging in eine Seitenallee. Dascha holte ihn schwer atmend ein und packte ihn am Ärmel. Er blieb stehen, wandte sich um und preßte die Lippen zusammen.

»Alexej Alexejewitsch, seien Sie mir nicht böse.«

»Ich bin Ihnen nicht böse, Sie selbst haben mit mir nicht sprechen wollen.«

»Nein, nein ... Sie haben mich mißverstanden– Ich bin Ihnen sehr, sehr gut, ich wünsche Ihnen alles Beste ... Aber daran, was einmal zwischen uns war, wollen wir nicht mehr denken, vom Einstigen ist nichts mehr geblieben. ... Ich fühle mich aber schuldig, und Sie tun mir leid ...«

Er hob die Schultern und blickte lächelnd an Dascha vorbei auf die Spaziergänger. »Ich danke für das Mitleid.«

Dascha seufzte, – wenn Bessonow ein kleiner Junge wäre, so würde sie ihn mitnehmen, mit warmem Wasser waschen, mit Bonbons traktieren und sich mit ihm so lange abgeben, bis in seinen Augen Freude aufleuchtete. Was soll sie aber jetzt mit ihm machen, – er hat sich selbst diese Qual ersonnen, er quält sich, ist böse und gekränkt.

»Alexej Alexejewitsch, wenn Sie wollen, schreiben Sie mir jeden Tag, ich werde Ihnen pünktlich antworten,« sagte Dascha und sah ihm mit dem gütigsten Ausdruck ins Gesicht.

Er warf den Kopf zurück und lachte hölzern und böse: »Danke. ... Ich habe aber schon seit mehr als einem Jahr Ekel vor Papier und Tinte ...« Er biß die Zähne zusammen und verzog das Gesicht, als hätte er etwas Saures gekostet. »Darja Dmitrijewna. Sie sind entweder eine Heilige oder eine dumme Gans ... Nehmen Sie es mir nicht übel. ... Sie sind die Höllenpein, zu der ich bei Lebzeiten verurteilt bin, verstehen Sie es? ... Seit zwei Jahren lebe ich wie ein Mönch. ... Da haben Sie es! ...«

Er machte eine Anstrengung, von ihr fortzugehen, konnte aber die Füße nicht vom Boden losreißen. Dascha stand mit gesenktem Kopf, – sie hatte alles verstanden, es war ihr traurig zumute, und ihr Herz war rein. Bessonow sah auf ihren gebeugten Hals, auf die unberührte, zarte Brust, die im Ausschnitt des weißen Kleides leuchtete, und dachte sich natürlich, daß es sein Tod sei.

»Haben Sie Erbarmen,« sagte er mit einfacher, stiller, menschlicher Stimme. Sie antwortete, ohne den Kopf zu heben: »Ja, ja.« Und sie entfernte sich von ihm zwischen den Bäumen. Bessonow erkannte noch zum letztenmal mit durchdringendem Blick ihren blonden Kopf in der Menge, – sie wandte sich nicht um. Er legte die Hand auf einen Baumstamm, klammerte sich mit den Fingern an die grüne Rinde: die Erde, die letzte Zuflucht, entschwand unter seinen Füßen.


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