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Als die Dämmerung anbrach, fing Dascha an, bei jedem Geräusch zusammenzufahren, in den Salon zu laufen und zu horchen. Wiederholt schlug sie ein Buch – eine Beilage zu der »Niwa« – auf, immer an der gleichen Stelle: »... Marußja aß gerne Schokolade, die ihr Mann aus der Konditorei Kraft zu bringen pflegte. ...« Sie legte das Buch weg und trat ans Fenster. In der frostigen Dämmerung leuchteten zwei Fenster im Hause gegenüber auf, wo die Schauspielerin Tscharodejewa wohnte; eine Zofe mit einem Häubchen deckte dort lautlos den Tisch; die Tscharodejewa, mager wie ein Skelett, erschien in einem über die Schultern geworfenen Pelz, setzte sich an den Tisch und gähnte, – wahrscheinlich hatte sie eben auf dem Sofa geschlafen; sie goß sich Suppe ein und wurde plötzlich nachdenklich, die gläsernen Augen auf eine kleine Vase mit einer verwelkten Rose geheftet. »Marußja aß gerne Schokolade,« wiederholte Dascha durch die Zähne. Plötzlich ging die Klingel. Daschas Herz stand still. Es war aber die Abendzeitung. – Er wird nicht kommen, dachte sich Dascha und ging ins Eßzimmer, wo über der weißen Tischdecke eine einzige Glühlampe brannte und die Uhr tickte. Dascha setzte sich an den Tisch. – So geht das Leben mit jeder Sekunde dahin! dachte sie sich.
Wieder ging die Klingel. Dascha sprang atemlos auf und lief ins Vorzimmer. Es war ein Bote aus dem Lazarett, der ein Paket mit Papieren brachte. Dascha ging nun in ihr Zimmer und legte sich aufs Sofa.
Iwan Iljitsch wird natürlich nicht kommen: sie hat auf ihn zwei Jahre gewartet, und als er endlich kam, fand sie kein Wort für ihn. Statt der Liebe ein leerer Fleck.
Dascha zog unter dem seidenen Kissen ihr Taschentuch hervor und begann es an einem Zipfel einzureißen. Sie hatte ja gefühlt und gewußt, daß es gerade so kommen würde. In diesen zwei Jahren hatte sie Iwan Iljitsch vergessen, sie hatte einen eigenen, erdichteten Iwan Iljitsch geliebt, nun war aber ein neuer, fremder, lebendiger gekommen. ... Schrecklich, schrecklich! dachte sich Dascha. Sie legte das Taschentuch weg und ließ die Beine vom Sofa hinunter. – Er darf nichts wissen, und auch du selbst sollst an nichts denken. Liebe ihn. Auch wenn du es nicht kannst, es ist ganz gleich, – liebe ihn. Du hast keinen Willen mehr. Jetzt bist du ganz sein. –
Plötzlich fühlte sie sich beruhigt: Ich will mich fügen, soll er mich so lieben, wie ich bin. – Dascha seufzte auf, erhob sich vom Sofa, setzte sich vor den Spiegel, brachte ihr Haar in Ordnung und puderte sich, damit man ihre Tränen nicht sähe. Aus dem ovalen Rahmen sah auf sie ein sehr hübsches junges Mädchen mit leichten Haaren, einem traurigen Gesichtchen und kindlichen, ein wenig geschwollenen Lippen. Die Nase war fein, die Augen waren groß und heiter. Vielleicht allzu heiter.
Dascha rückte näher zum Spiegel. – Es ist also doch nichts geschehen, alles ist heiter und in bester Ordnung. Ein Engel, ein reiner Engel. ... Ganz unschuldig. ... – Dascha lächelte, auf das Spiegelglas legte sich ein Hauch. – Sie haben nur noch eine Minute zu leben, leben Sie wohl, man wird Sie schon entlarven. ... Die Äuglein werden bald nicht mehr so heiter sein. ...
Dascha fühlte, wie ein langsamer, heißer Strom durch ihren ganzen Körper wogte. Es war ihr heiß und ruhig ums Herz. Sie merkte nicht, wie die Tür leise aufging und die pockennarbige Lisa erschien.
»Gnädiges Fräulein, es ist wer zu Ihnen.«
Dascha holte tief Atem, stand auf – ganz leicht, als berührte sie mit den Füßen nicht den Boden – und ging ins Eßzimmer. Katja erblickte sie zuerst und lächelte ihr zu. Iwan Iljitsch sprang auf, zwinkerte mit den Augen, wie von einem hellen Licht geblendet, und richtete sich auf.
Er hatte eine neue Tuchbluse an mit einer neuen Riemengarnitur und war glatt rasiert und kurz geschoren. Jetzt fiel es besonders auf, wie groß gewachsen, stramm und breitschultrig er war. Der Blick seiner hellen Augen war fest, zu beiden Seiten seines geraden Mundes lagen zwei Falten, – Dascha klopfte das Herz, sie fühlte, daß diese Falten die Spur des Todes, des Schreckens und Leidens waren. Seine Hand war kräftig und kalt wie Eis. Dascha seufzte kurz auf. »Setzen Sie sich, Iwan Iljitsch,« sagte sie, an den Tisch tretend, »erzählen Sie. ...« Sie nahm einen Stuhl und setzte sich neben Teljegin. Er legte beide Hände aufs Tischtuch, drückte sie zusammen und begann, ab und zu auf Dascha blickend, schnell und flüchtig von der Gefangenschaft und der Flucht zu erzählen. Dascha saß ganz dicht neben ihm und sah ihm ins Gesicht, ihr Mund stand offen.
Während Iwan Iljitsch erzählte, fühlte er selbst, daß seine Stimme wie aus der Ferne und fremd klang, daß die Worte sich von selbst zu Sätzen fügten, er aber tief erregt und erschüttert war, weil an seiner Seite, mit dem Kleide sein Knie berührend, ein Wesen saß, das mit keinen Worten zu beschreiben möglich war, – ein liebes, unheimliches, völlig unbegreifliches Mädchen, das nach einer Waldwiese oder nach Blumen duftete, nach etwas Warmem, wovon ihm der Kopf schwindelte.
Iwan Iljitsch erzählte den ganzen Abend. Dascha stellte Fragen, unterbrach ihn, schlug die Hände zusammen und warf ihrer Schwester Blicke zu. »Katjuscha, höre doch, er war schon zum Tode verurteilt, bedenke es nur! ...« Sie wurde ganz bleich und ergriff seine Hand. »Wir lassen Sie nicht mehr fort.«
Teljegin lachte: »Wenn ich wieder einberufen werde, ist nichts zu machen. Ich hoffe nur, daß man mich auf irgendein Munitionswerk kommandieren wird.«
Er drückte ihr vorsichtig die Hand. Dascha blickte ihm aufmerksam in die Augen, ihre Wangen röteten sich leicht, und sie machte ihre Hand los.
»Warum rauchen Sie nicht? Ich bringe Ihnen gleich Streichhölzer.«
Sie ging schnell hinaus, kam sogleich mit einer Streichholzschachtel wieder, blieb vor Iwan Iljitsch stehen und begann die Streichhölzer, die sie am äußersten Endchen hielt, anzureiben; ein Streichholz nach dem andern brach entzwei: »Nette Streichhölzer kauft unsere Lisa!« Endlich ging ein Streichholz an, Dascha führte es vorsichtig an die Zigarette Iwan Iljitschs, und das Flämmchen beleuchtete von unten ihr zartes Kinn. Teljegin schloß die Augen. Er hatte noch nicht gewußt, daß man beim Anzünden einer Zigarette solches Glück empfinden kann.
Teljegin ging um Mitternacht fort. Dascha umarmte und küßte ihre Schwester und schloß sich in ihrem Zimmer ein. Im Bette liegend, die Hände im Nacken verschränkt, dachte sie sich, daß sie nun endlich aus dem schwülen Nebel emporgetaucht sei, – ringsum sei es noch öde und wüst und unheimlich, aber alles sei schon blau, und dieses Blaue sei das Glück.