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»Nun, Fürst, hat die Familie Bonaparte auch Genua und Lucca in Besitz genommen? Ich sage Ihnen, Sie sind nicht mehr mein Freund, mein getreuer Sklave, wie Sie sagen, wenn Sie noch ferner die Notwendigkeit des Krieges leugnen und noch länger die Greuel verteidigen wollen, welche dieser Antichrist begeht, denn es ist der Antichrist selbst, davon bin ich überzeugt. Setzen Sie sich hierher und erzählen Sie.«
Es war im Juni 1805, als Anna Pawlowna Scherer diese Worte sprach. Sie war Hofdame der Kaiserin Maria Feodorowna und gehörte sogar zu dem vertrauten Kreis Ihrer Majestät. Sie sprach mit dem Fürsten Wassil, welcher zuerst zu ihrer Abendgesellschaft eingetroffen war.
Ein Diener in roter, kaiserlicher Livree hatte am Morgen in der ganzen Stadt Einladungsbriefe zu dieser Abendgesellschaft umhergetragen.
»O Himmel, welch heftiger Überfall!« erwiderte der Fürst, ohne durch diesen Empfang in Aufregung zu geraten. Der Fürst trug die goldgestickte Uniform des Hofes mit Ordenssternen, seidene Strümpfe und Schnallenschuhe. Sein Gesicht zeigte beständig ein liebenswürdiges Lächeln. Er sprach Französisch, jenes gewählte Französisch, in dem unsere Großväter nicht nur sprachen, sondern auch dachten, und in dem gemessenen, herablassenden Ton eines einflußreichen Würdenträgers, der am Hofe alt geworden ist. Er näherte sich Anna Pawlowna, küßte ihr die Hand, indem er sein kahles, parfümiertes Haupt neigte, und ließ sich dann bequem auf einem Sofa nieder.
»Vor allem, verehrte Freundin, beruhigen Sie mich über den Zustand Ihrer Gesundheit«, fuhr er in galantem Tone fort, der aber nicht frei von Spott war.
»Wie könnte ich mich wohl befinden bei solchen Aufregungen? Sie bleiben den ganzen Abend, hoffe ich?«
»Nein, heute nicht. Der englische Gesandte gibt ein großes Fest, auf dem ich erscheinen muß; meine Tochter wird mich abholen.«
»Ich glaubte, das Fest sei verschoben worden, und ich gestehe Ihnen sogar, daß alle diese Festlichkeiten mich nachgerade schrecklich langweilen.«
»Hätte man Ihren Wunsch ahnen können, so hätte man sie gewiß verlegt«, erwiderte der Fürst maschinenmäßig, wie eine gut gehaltene Uhr, ohne den geringsten Anspruch darauf, daß man seine Worte ernst nehme.
»Spotten Sie nicht, und nun, da Sie alles wissen, sagen Sie mir, was ist beschlossen worden über die Depesche von Nowosilzow?«
»Was soll ich Ihnen sagen?« erwiderte der Fürst mit dem Ausdruck der Langenweile. »Sie wollen wissen, was man beschlossen hat? Nun, man hat entschieden, daß Bonaparte seine Schiffe hinter sich verbrannt habe, und es scheint, daß wir im Begriff sind, dasselbe zu tun.«
Der Fürst Wassil sprach immer mit einer gewissen Nachlässigkeit, wie ein Schauspieler, der eine alte Rolle spielt. Fräulein Scherer dagegen zeigte trotz ihrer vierzig Jahre eine große Lebhaftigkeit. Ihre soziale Stellung beruhte darauf, für eine enthusiastische Dame zu gelten. Das politische Gespräch, das sich entwickelte, brachte sie nach und nach in Aufregung.
»Ach, sprechen Sie mir nicht von diesem Österreich! Es ist möglich, daß ich nicht alles richtig verstehe, aber nach meiner Ansicht will es nicht den Krieg und hat ihn nie gewollt. Es verrät uns. Rußland allein muß Europa befreien. Unser Herr und Wohltäter ist durchdrungen von seiner hohen Mission und wird sich ihr gewachsen zeigen. Gott wird ihn nicht verlassen, er wird seine Aufgabe erfüllen und die Hydra der Revolution zerschmettern. Aber wem können wir vertrauen, frage ich Sie! England hat zu viel Krämergeist, um den hohen Flug der Seele des Kaisers Alexander zu begreifen, es weigert sich, Malta zu räumen, es wartet und argwöhnt Hintergedanken bei uns. Was haben die Engländer zu Nowosilzow gesagt? Nichts, denn sie begreifen nicht die Selbstverleugnung unseres Kaisers, welcher nichts für sich selbst, sondern nur das allgemeine Wohl will. Was haben sie versprochen? Nichts. Und Preußen? Hat es nicht erklärt, Bonaparte sei unüberwindlich und England ohnmächtig, ihn zu bekämpfen? Ich glaube nicht an Hardenberg, noch an Haugwitz, diese berühmte preußische Neutralität ist nur eine Schlinge! Aber ich glaube an Gott und an die höchste Bestimmung unseres Kaisers.« Sie schloß mit einem Lächeln über ihren eigenen Enthusiasmus.
»Wie schade, daß Sie nicht an der Stelle unseres liebenswürdigen Winzingerode stehen. Sie hätten den König von Preußen im Sturm erobert. Aber werden Sie mir Tee reichen lassen?«
»Sogleich! . . . Apropos«, fügte sie ruhiger hinzu, »ich erwarte heute abend zwei sehr interessante Herren, den Grafen Mortemart, einen der Emigranten, und den Abbé Morio, diesen eminenten Geist. Sie wissen ja, daß er vom Kaiser empfangen wurde. Aber sprechen wir ein wenig von den Ihrigen. Wissen Sie, daß die ganze Gesellschaft über Ihre Tochter entzückt ist seit ihrem Erscheinen in der Welt? Man findet sie schön wie der Tag!«
Der Fürst verbeugte sich.
»Wie oft habe ich daran gedacht, wie ungleich die Glücksgüter in unserem Leben verteilt sind! Warum hat das Schicksal Ihnen so reizende Kinder gegeben, mit Ausnahme von Anatol, Ihrem Jüngsten, den ich nicht liebe«, fügte sie mit der Bestimmtheit eines unerbittlichen Urteils hinzu, indem sie die Augenbrauen in die Höhe zog. »Sie wissen Ihr Glück nicht zu schätzen, also verdienen Sie es auch nicht.«
Sie begleitete diese Worte mit einem enthusiastischen Lächeln.
»Was wollen Sie?« erwiderte der Fürst. »Lavater hätte wahrscheinlich entdeckt, daß auf meinem Schädel der Höcker, der die Liebe zu den Kindern andeutet, fehlt.«
»Hören Sie auf zu scherzen. Ich muß ernsthaft mit Ihnen sprechen. Ich bin sehr unzufrieden über Ihren Jüngsten! Unter uns gesagt, man hat bei Seiner Majestät über ihn gesprochen, und man bedauert Sie!« Bei diesen Worten nahm sie eine betrübte Miene an.
»Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll«, erwiderte der Fürst entmutigt. »Ich habe als Vater für ihre Erziehung alles getan, was ich konnte, und doch ist aus beiden nichts geworden. Hippolyt ist wenigstens ein friedlicher Dummkopf, während Anatol ein Tollkopf ist. Das ist der einzige Unterschied zwischen ihnen.« Es lag ein unangenehmer Ausdruck in den Winkeln seines faltigen Mundes, während er lächelte.
»Leute wie Sie sollten gar keine Kinder haben! Wenn Sie nicht Vater wären, so hätte ich Ihnen gar nichts vorzuwerfen«, bemerkte Fräulein Scherer nachdenklich.
»Ich bin Ihr treuer Sklave, wie Sie wissen, und Ihnen allein kann ich mich anvertrauen. Meine Kinder sind für mich nur eine schwere Last, aber was ist zu machen?« Er schwieg und drückte durch eine Gebärde seine Unterwerfung unter das Schicksal aus.
Fräulein Scherer schien nachzudenken. »Haben Sie nie daran gedacht, Ihren verschwenderischen Sohn Anatol zu verheiraten? Alte Jungfern, sagt man, haben die Manie, Heiraten zu stiften, ich glaube mich frei von dieser Schwachheit, aber dennoch habe ich ein junges Mädchen für ihn in Aussicht, eine Verwandte von uns, die Fürstin Bolkonska, welche bei ihrem Vater sehr unglücklich ist.«
Der Fürst Wassil gab keine Antwort, aber eine leichte Bewegung seines Kopfes zeigte an, daß er diese Mitteilungen zu schätzen wisse. »Wissen Sie, daß dieser Anatol mich jährlich vierzigtausend Rubel kostet?« seufzte er. »Was soll das in fünf Jahren werden, wenn es so fort geht? Sehen Sie, was für ein Glück es ist, Papa zu sein! Ist sie reich, die junge Fürstin?«
»Ihr Vater ist sehr reich und sehr geizig und lebt immer zu Hause, auf dem Lande. Es ist dieser berühmte Fürst Bolkonsky, welcher noch bei Lebzeiten des verstorbenen Kaisers veranlaßt worden war, den Dienst zu verlassen und welchem man den Beinamen ›der König von Preußen‹ gab. Er ist sehr interessant, sehr originell und es ist schrecklich schwer, mit ihm auszukommen. Die arme Kleine ist schrecklich unglücklich. Sie hat nur einen Bruder, welcher vor kurzem Lisa Meynen heiratete und welcher Adjutant bei Kutusow ist. Sie werden ihn heute abend sehen.«
»Ich bitte Sie, teuerste Anna Pawlowna«, sagte der Fürst, indem er plötzlich die Hand des Fräulein Scherer ergriff, »bringen Sie mir diese Sache zustande und ich will für ewig der treueste Ihrer Sklaven sein! Sie ist von guter Familie und reich, das ist alles, was ich wünsche.«
»Gut, gut«, erwiderte Anna Pawlowna, »ich werde noch diesen Abend mit Lisa Bolkonska sprechen. Vielleicht läßt sich die Sache machen. Ich werde im Interesse Ihrer Familie mein Probestück als alte Jungfer machen.«