Leo N.Tolstoi
Krieg und Frieden
Leo N.Tolstoi

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26

Im Oktober 1805 stand das russische Heer in den Städten und Dörfern des Erzherzogtums Österreich. Immer neue Regimenter kamen aus Rußland an und vermehrten die Last der Einwohner. In der kleinen Festung Braunau befand sich das Hauptquartier des Oberkommandeurs Kutusow.

Das Pawlogradsche Husarenregiment lag zwei Meilen von Braunau im Quartier. Die Schwadron, in welcher Graf Nikolai Rostow als Junker diente, war in dem kleinen Dorfe Salzeneck einquartiert. Das beste Quartier im Dorf hatte der Rittmeister Denissow, und der Junker Rostow wohnte mit ihm zusammen, seitdem er das Regiment in Polen eingeholt hatte.

Am 8. Oktober traf im Hauptquartier die Nachricht ein, daß der österreichische General Mack in der Festung Ulm mit dreißigtausend Mann eingeschlossen worden war und sich genötigt gesehen habe, mit seiner ganzen Armee zu kapitulieren. Napoleon befand sich bereits im raschen Vormarsch nach Wien.

In der kleinen Garnison ging jedoch alles wie bisher. Denissow hatte die ganze Nacht Karten gespielt und war noch nicht nach Hause gekommen, als Rostow schon am frühen Morgen vom Fouragieren zurückkam. Er stieg vom Pferde und rief eine Ordonnanz herbei.

»Ah, Bondarenka, mein Freundchen«, sagte er zu dem eilig herbeilaufenden Husaren, »führe das Pferd umher!« Er sagte dies mit der ruhigen Freundlichkeit, in der gutherzige Leute sprechen, wenn sie glücklich sind.

»Zu Befehl, Erlaucht!« erwiderte der Kleinrusse.

»Wo ist dein Herr?« fragte Rostow den Burschen Denissows, Lawruschka.

»Seit gestern abend nicht nach Hause gekommen! Wahrscheinlich hat der Herr verspielt!« erwiderte Lawruschka. »Wenn er gewinnt, so kommt er früh nach Hause und ist vergnügt, aber wenn er bis zum Morgen ausbleibt, so bedeutet das Verlust und dann kommt er zornig nach Hause. Befehlen Sie Kaffee?«

»Ja, ja, gib her!«

Nach zehn Minuten brachte Lawruschka Kaffee.

»Da kommt der Herr«, sagte er, »jetzt wird's schlimm!«

Rostow sah durchs Fenster und erblickte den heimkehrenden Rittmeister. Denissow war ein kleiner Mann mit rotem Gesicht und glänzenden schwarzen Augen. Sein Schnurrbart und seine Haare waren von derselben Farbe. Mit finsterem Gesicht und mit gesenktem Kopf näherte er sich der Haustür. »Lawruschka!« rief er schnarrend und zornig. »Da, nimm, Dummkopf!«

»Und du bist schon aufgestanden?« sagte Denissow, ins Zimmer tretend.

»Schon lange«, erwiderte Rostow. »Ich war schon nach Heu ausgeritten und habe Fräulein Mathilde gesehen!«

»Oho! Und ich habe mich schön hineingeritten gestern abend«, rief Denissow. »So ein Pech! Als du fortgingst, da ging's los. Heda, Tee!« Er fuhr mit beiden Händen in seine dichten, schwarzen Haare.

»Der Teufel hat mich verführt, zu dieser Ratze zu gehen!« – Das war der Beiname eines Offiziers. – »Kannst du dir vorstellen, nicht einen einzigen Stich konnte ich machen!«

Denissow ergriff die ihm gereichte, in Brand gesetzte Pfeife, nahm sie in die Faust und schlug damit auf den Fußboden, daß die Feuerfunken umherflogen. Dann warf er die zerschlagene Pfeife weg und versank in Schweigen. Plötzlich blickte er mit seinen glänzenden Augen Rostow vergnügt an.

»Wenn noch Damen dagewesen wären! Aber nichts als saufen. Lieber möchte ich mich schlagen. – Wer da?« rief er nach der Tür, von woher er schwere, sporenklirrende Schritte vernahm.

»Der Wachtmeister!« sagte Lawruschka. Denissows Miene wurde noch finsterer.

»Das ist dumm«, sagte er und warf den Geldbeutel mit einigen Goldstücken auf den Tisch. »Zähle nach, Rostow, mein Täubchen, wieviel noch übriggeblieben ist, und stecke den Beutel unter das Kopfkissen!« Dann ging er hinaus zum Wachtmeister.

Rostow nahm das Geld, sonderte die alten und die neuen Goldstücke und begann sie zu zählen.

»Ah, Teljanin! Wie geht's? Gestern bin ich nicht übel hineingefallen!« rief Denissow im anderen Zimmer.

»Wo? Bei Bükow, bei der Ratze?« fragte eine andere, dünne Stimme, und gleich darauf trat Teljanin, ein kleiner Offizier derselben Schwadron, ein. Rostow warf den Beutel unter das Kissen und drückte die ihm entgegengestreckte Hand Teljanins. Teljanin war vor dem Feldzug zur Strafe aus der Garde versetzt worden, er führte sich sehr gut im Regiment, war aber nicht beliebt, und besonders Rostow konnte einen unwillkürlichen Widerwillen gegen diesen Offizier weder überwinden noch verbergen.

»Nun, mein junger Kavallerist, was macht Ihr Gratschick?« fragte er. Das war ein Reitpferd, welches Rostow von Teljanin gekauft hatte. Der Leutnant sah niemals jemand ins Gesicht, mit dem er sprach, beständig schweiften seine Augen umher.

»Es ist ein gutes Pferd«, erwiderte Rostow, obgleich das Pferd, das er für siebenhundert Rubel gekauft hatte, nicht die Hälfte wert war. »Es hinkt nur ein bißchen auf dem linken Vorderfuß«, fügte er hinzu.

»Das hat nichts zu bedeuten. Wahrscheinlich hat der Huf einen Riß bekommen. Ich werde Ihnen zeigen, wie man eine Niete anlegt. Sie werden mir noch danken für das Pferd!«

»Gut, ich werde es herführen lassen«, sagte Rostow, um sich Teljanins zu entledigen, und ging hinaus, um das Pferd herbeiführen zu lassen. Draußen saß Denissow vor dem Wachtmeister, welcher ihm eine Meldung machte. Als er Rostow erblickte, verfinsterte sich Denissows Miene. Er zeigte mit dem Finger über die Schulter nach dem Zimmer, in welchem Teljanin saß, und knurrte mit sichtlichem Widerwillen, ohne sich vor dem Wachtmeister zu genieren: »Ich kann den Burschen nicht leiden!« Rostow zuckte mit den Achseln, als ob er sagen wollte: »ich auch nicht«, und kehrte bald darauf wieder ins Zimmer zurück.

Teljanin saß noch immer in derselben nachlässigen Haltung da, in der ihn Rostow verlassen hatte.

»Es gibt oft solche widerlichen Gesichter«, dachte Rostow, als er ins Zimmer trat.

»Haben Sie nach dem Pferd geschickt?« fragte Teljanin, indem er aufstand und sich nachlässig umblickte.

»Ja.«

»Dann wollen wir gehen. Ich bin nur gekommen, um Denissow nach dem gestrigen Befehl zu fragen. Haben Sie ihn erhalten, Denissow?«

»Noch nicht. Aber wohin gehen Sie?«

»Ich will nur dem jungen Mann zeigen, wie man ein Pferd beschlägt«, sagte Teljanin.

Sie gingen hinaus zum Stall, und nachdem der Leutnant Anweisung gegeben hatte, eine Niete einzuschlagen, ging er in sein Quartier.

Als Rostow zurückkehrte, stand auf dem Tische eine Flasche mit Branntwein und daneben lag eine Wurst. Denissow saß am Tisch und kratzte mit der Feder auf dem Papier. Er blickte Rostow finster an.

»Ich schreibe an Sie«, sagte er, »Siehst du, Freundchen, wir schlafen, solange wir nicht lieben; du aber bist rein wie am ersten Tage deiner Erschaffung! . . . Wer ist wieder da? Jage ihn fort, zum Teufel, ich habe keine Zeit!« schrie er Lawruschka an, welcher aber unverzagt nähertrat.

»Was soll ich machen? Sie haben selbst befohlen, der Wachtmeister ist nach Geld gekommen.«

»Dumme Geschichte!« sagte Denissow zu sich selbst. »Wieviel ist dort noch Geld im Beutel?« fragte er Rostow.

»Sieben neue und drei alte.«

»Ach, dumme Geschichte! Nun, was stehst du da, Hanswurst? Schicke den Wachtmeister herein!« schrie er Lawruschka an.

»Höre, Denissow, ich habe Geld, nimm es!« sagte Rostow errötend.

»Ich liebe nicht, meine Freunde anzuborgen«, brummte Denissow.

»Wenn du von mir nicht Geld nimmst als Freund, so beleidigst du mich, ich habe wirklich genug«, wiederholte Rostow.

»Nein, nein!« Und Denissow ging an das Bett, um den Beutel unter dem Kissen hervorzuziehen.

»Wohin hast du den Beutel gelegt, Rostow?«

»Unter das Kissen.«

»Es ist nichts da!« Denissow warf beide Kissen auf den Fußboden, aber der Beutel fand sich nicht. »Merkwürdig!« sagte er.

»Warte, du wirst ihn verschoben haben«, sagte Rostow. »Nimm die Kissen einzeln und schüttele sie.« Er nahm die Decke und schüttelte sie aus, aber der Beutel war nicht da.

»Habe ich es etwa vergessen? Nein, ich habe noch daran gedacht, daß gerade unter dem Kopf eine Falte war, und dahin habe ich den Beutel gelegt. Wo ist er nun?« fragte er Lawruschka.

»Ich bin nicht hereingekommen; wo Sie ihn hingelegt haben, da muß er auch sein«, erwiderte Lawruschka.

»Nein, er ist nicht da.«

»Sie machen es immer so, werfen eine Sache irgendwohin und dann vergessen Sie es! Sehen Sie in den Taschen nach!«

»Nein, wenn ich nicht an die Falte gedacht hätte«, sagte Rostow, »aber daran erinnere ich mich genau, daß ich ihn unter das Kissen gelegt habe.«

Lawruschka durchwühlte das ganze Bett, sah unter den Tisch und unter das Bett, durchstöberte das ganze Zimmer und blieb mitten darin stehen.

Denissow folgte schweigend seinen Bewegungen, und als Lawruschka ratlos die Arme ausbreitete, blickte er Rostow an.

»Rostow, du hast doch keinen Streich gemacht?«

Rostow fühlte Denissows Blick, der auf ihn gerichtet war, erhob die Augen und schlug sie sogleich wieder nieder. Das Blut, das sich in seiner Kehle angesammelt zu haben schien, stieg ihm plötzlich in das Gesicht.

»Und es war doch niemand im Zimmer außer dem Leutnant und Ihnen«, sagte Lawruschka.

»Nun, du Teufelsfratze, rühre dich! Suche!« schrie plötzlich Denissow mit drohender Gebärde dem Burschen zu. »Der Beutel muß her, oder ich lasse alle auspeitschen!« Rostow gürtete den Säbel um und setzte die Mütze auf.

»Ich sage dir, der Beutel muß her!« schrie Denissow.

»Denissow, lasse ihn los! Ich weiß, wer ihn genommen hat«, sagte Rostow und ging zur Tür. Denissow bedachte sich, und als er begriff, was Rostow meinte, faßte er ihn an der Hand.

»Unsinn!« schrie er so heftig, daß die Adern wie Stricke an seinem Hals hervortraten. »Ich sage dir, du bist toll geworden! Aber das erlaube ich nicht. Der Beutel ist hier! Ich ziehe dem Strolch das Fell über die Ohren, er muß gefunden werden!«

»Ich weiß, wer ihn genommen hat«, wiederholte Rostow mit zitternder Stimme und ging zur Tür.

»Ich sage dir, unterstehe dich nicht, das zu tun!« rief Denissow und stürzte auf den Junker zu, um ihn zurückzuhalten. Aber Rostow riß seinen Arm los und blickte Denissow wütend an, als wäre er sein größter Feind.

»Weißt du, was du sagst?« fragte er mit bebender Stimme. »Außer mir war niemand im Zimmer. Also, wenn es nicht so ist, so . . .«

Er konnte nicht zu Ende sprechen und stürzte aus dem Zimmer. »Alle sollen zum Teufel gehen!« waren die letzten Worte, welche Rostow vernahm.

Rostow ging gerade in das Quartier Teljanins.

»Der Herr ist nicht zu Hause, er ist zum Stab geritten«, sagte ihm der Bursche Teljanins. »Oder ist etwas vorgefallen?« fragte er, verwundert über das aufgeregte Gesicht des Junkers.

»Nein, nichts!«

Der Stab befand sich in einem Dorf, drei Kilometer von Salzeneck. Ohne nach Hause zurückzukehren, nahm Rostow ein Pferd und ritt dahin. In dem Dorfe, wo der Stab lag, war ein Wirtshaus, das von den Offizieren besucht wurde. Dort stieg Rostow ab. Vor der Tür sah er Teljanins Pferd. Im zweiten Zimmer saß der Leutnant bei Würstchen und Wein.

»Ah, Sie sind auch gekommen, junger Mann?« fragte er lächelnd.

»Ja«, erwiderte Rostow mit Anstrengung und setzte sich auf den nächsten Stuhl. Beide schwiegen. Im Zimmer saßen zwei Deutsche und ein russischer Offizier. Es herrschte allgemeines Schweigen, das nur von dem Klappern der Messer und Teller unterbrochen wurde. Als Teljanin mit seinem Frühstück fertig war, nahm er aus der Tasche einen Beutel, schob mit seinen kleinen weißen Fingern den einen Ring zurück, nahm ein Goldstück heraus und gab es dem Diener mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Aber schnell!« sagte er.

Es war ein neues Goldstück. Rostow stand auf und ging auf Teljanin zu.

»Erlauben Sie mir, den Geldbeutel zu besichtigen«, sagte er mit kaum hörbarer Stimme.

Als Teljanin ihm den Beutel übergab, schweiften seine Augen umher. »Ja, ein sehr hübscher Geldbeutel!« sagte er. »Ja . . . ja . . . sehen Sie ihn an, jedermann ist entzückt davon, ja . . .«, sagte er, und plötzlich erbleichte er. Rostow betrachtete den Geldbeutel und das Geld, das darin war, dann sah er Teljanin scharf an. Der Leutnant blickte umher und schien plötzlich sehr aufgeräumt zu werden.

»Wenn wir nach Wien kommen, dann werde ich alles dort lassen«, sagte er, »aber in diesen greulichen Nestern weiß man nicht, was man mit Geld anfangen soll. Nun geben Sie her, junger Mann, ich gehe!«

Rostow schwieg.

»Und wonach sind Sie gekommen? Auch um zu frühstücken? Man speist hier ganz anständig«, fuhr Teljanin fort. »Aber geben Sie her!« Er streckte die Hand aus und ergriff den Beutel, den Rostow ihm überließ. Dann steckte er ihn in die Tasche mit einer Miene, als ob er sagen wollte: »Ja, ich stecke den Beutel in die Tasche, das geht niemand etwas an.«

»Nun, was haben Sie noch, junger Mann?« sagte er und blickte Rostow an. Wie ein elektrischer Funke sprühte es aus den Augen Teljanins in die Rostows und wieder hinüber und herüber, alles in einem Augenblick.

»Kommen Sie hierher!« sagte Rostow, indem er Teljanin an der Hand faßte und ihn beinahe mit Gewalt zum Fenster zog.

»Das ist Denissows Geld, Sie haben es genommen!« flüsterte er ihm ins Ohr.

»Wie . . . wie . . . wie wagen Sie es? . . .« rief Teljanin, aber diese Worte klangen kläglich, wie eine verzweifelte Bitte um Vergebung. Als Rostow diese Stimme vernahm, fiel der Stein des Zweifels von seinem Herzen. Er empfand eine Freude und zugleich Mitleid mit dem Unglücklichen, der vor ihm stand, aber er mußte das begonnene Werk zu Ende führen.

»Hier können die Leute Gott weiß was denken«, murmelte Teljanin, »aber wir müssen uns aussprechen!« Er griff nach der Mütze und ging nach einem kleinen leeren Zimmer.

»Ich weiß es und werde es beweisen«, sagte Rostow. In dem bleichen, erschrockenen Gesicht Teljanins zuckten alle Muskeln.

»Graf, stürzen Sie nicht einen jungen Menschen ins Verderben! Hier ist dieses Unglücksgeld, nehmen Sie es!« Er warf es auf den Tisch. »Ich habe einen alten Vater und eine Mutter!«

Rostow nahm das Geld und verließ, ohne ein Wort zu sagen, das Zimmer, aber vor der Tür blieb er stehen und wandte sich wieder um.

»Mein Gott«, sagte er, »wie konnten Sie das tun?«

»Graf«, sagte Teljanin, auf den Junker zutretend.

»Rühren Sie mich nicht an!« rief Rostow zurücktretend. »Wenn Sie in Not sind, so nehmen Sie das Geld!« Er warf ihm den Beutel zu und stürzte aus dem Wirtshause hinaus.


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