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Im Sommer erhielt Marie einen Brief von ihrem Bruder aus der Schweiz mit einer unerwarteten Nachricht. Fürst Andree teilte ihr seine Verlobung mit Natalie mit. Sein ganzer Brief atmete Entzücken und Liebe zu seiner Braut und zärtliche Freundschaft und Zutrauen zur Schwester. Er schrieb, er habe nie so geliebt wie jetzt und jetzt erst das Leben verstehen gelernt. Er bat sie um Entschuldigung, daß er bei seiner Abreise von Lysy Gory von seinem Entschluß nichts gesagt habe, obgleich er denselben dem Vater mitteilte, weil Marie sonst den Vater gebeten haben würde, seine Einwilligung zu geben, wodurch sie ihn gereizt und die ganze Last seines Unmuts zu tragen gehabt hätte. »Übrigens«, schrieb er, »war die Sache damals noch nicht entschieden. Damals hat der Vater einen Aufschub von einem Jahr verlangt, jetzt sind sechs Monate verflossen, und ich bin mehr als je fest in meinem Entschluß. Wenn die Ärzte mich hier nicht zurückhalten würden, so wäre ich schon in Rußland. Aber ich muß meine Abreise noch auf drei Monate aufschieben. Du kennst mich und mein Verhältnis zum Vater, ich verlange nichts von ihm, aber wenn ich gegen seinen Willen handeln und seinen Zorn erregen würde, während er vielleicht nur noch kurze Zeit bei uns ist, so wäre mein Glück zur Hälfte vernichtet. Ich schreibe jetzt einen Brief an ihn und bitte Dich, einen günstigen Augenblick zu benutzen, um ihm den Brief zu übergeben. Benachrichtige mich, wie er ihn aufnimmt und ob Hoffnung vorhanden ist, daß er einwilligt, den Termin um drei Monate abzukürzen.«
Nach langem Schwanken übergab Marie den Brief dem Vater. Am andern Tag sagte er ihr ruhig: »Schreibe deinem Bruder, er solle warten, bis ich sterbe, es wird nicht lange dauern.«
Die Fürstin wollte etwas erwidern, aber er ließ sie nicht zu Worte kommen und fuhr immer lauter fort: »Heirate! Heirate doch, mein Täubchen! Schöne Verwandtschaft! Kluge Leute! Wie? Reich! Wie? Dein Nikoluschka wird eine nette Schwiegermutter bekommen! Schreibe ihm, er möge sich meinetwegen morgen verheiraten! Wenn Nikolai eine Stiefmutter bekommt, werde ich die Bourienne heiraten! Hahaha! Er muß auch eine Stiefmutter bekommen! Aber eins sage ich dir, in meinem Hause will ich kein Weibervolk weiter haben, er mag heiraten, aber dann soll er für sich leben! Vielleicht wirst du auch zu ihm ziehen? Meinetwegen! Frostig! Frostig! Frostig!«
Nach diesem Gespräch sprach der Fürst nicht mehr über die Sache, aber der verhaltene Zorn über den Kleinmut des Sohnes äußerte sich in seinen Beziehungen zu seiner Tochter. Zu den früheren Gegenständen des Spottes war jetzt ein neuer gekommen – das Gespräch über die Stiefmutter und die Liebenswürdigkeiten gegen Mademoiselle Bourienne.
»Warum soll ich sie nicht heiraten?« sagte er zu Maria. »Sie wird eine prächtige Fürstin sein!« Und zu ihrem unangenehmen Erstaunen bemerkte Marie in der letzten Zeit, daß der Vater wirklich sich mehr und mehr der Französin näherte. Marie schrieb Andree darüber, wie der Vater seinen Brief aufgenommen habe, suchte ihn aber zu trösten und äußerte Hoffnung, den Vater mit diesem Gedanken zu versöhnen.
Je mehr die Fürstin Marie vom Leben sah, desto mehr war sie verwundert über die Kurzsichtigkeit der Menschen, welche hier auf Erden das Glück und Genüsse suchten, sich abmühten, kämpften und einander Böses zufügten, um dieses unmögliche, nebelhafte und lasterhafte Glück zu erreichen. Fürst Andree liebte seine Frau, sie ist gestorben, und nun will er sein Glück mit einer anderen verbinden. Der Vater will das nicht, weil er für Andree eine vornehmere und reichere Gemahlin wünscht, und so streben und kämpfen sie, quälen sich und verscherzen das Heil ihrer Seelen, um ein vergängliches Glück zu erjagen. Wie kommt es, daß niemand das begreift, niemand außer diesen verachteten Gottesmenschen, die mit dem Bündel auf den Schultern durch die Hintertür zu mir kommen, weil sie sich vor dem Fürsten fürchten, die Familie und Heimat verlassen und alle Sorgen um das irdische Wohl hinter sich lassen, unter fremden Namen in die weite Welt wandern, den Menschen nichts Böses tun, sondern für sie beten, auch für diejenigen, welche sie verfolgen? – Höheres gibt es nicht im Leben.
Eine Pilgerin, Feodosja, eine fünfzigjährige, kleine, stille, pockennarbige Frau, kam schon seit dreißig Jahren barfuß und mit Ketten aufs Schloß. Fürstin Marie liebte sie besonders. Einmal, als sie in einem dunklen Zimmer saßen, das nur von dem Lämpchen vor dem Heiligenbild erleuchtet wurde, erzählte Feodosja von ihrem Leben, und in Marie erwachte mit so überwältigender Kraft der Gedanke, Feodosja allein habe den wahren Lebensweg gefunden, daß sie beschloß, selbst auf die Pilgerfahrt zu ziehen. Sie vertraute ihren Vorsatz nur einem Mönch, dem Vater Akinphy an, der ihn billigte. Unter dem Vorwand, ein Geschenk für eine Pilgerin zu kaufen, verschaffte sich Fürstin Marie ein vollständiges Pilgergewand, ein Hemd, Pilgerschuhe, einen Kaftan und ein schwarzes Tuch. Oft blieb sie unentschlossen vor der Kommode stehen, in der sie alles verwahrte, und fragte sich, ob die Zeit schon gekommen sei, ihr Vorhaben auszuführen.