Leo N.Tolstoi
Krieg und Frieden
Leo N.Tolstoi

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An diesem Abend fuhren Rostows zur Oper. Natalie fuhr ungern dahin. »Mein Gott, wenn er doch hier wäre! Wie würde ich ihn umarmen – nicht so, wie früher, mit solcher einfältigen Schüchternheit – und mich an ihn schmiegen!« dachte sie, während sie nach dem Theater fuhren und blickte träumerisch in den trüben Schein der Straßenlaternen. Eilig sprangen Natalie und Sonja vor dem Theater heraus und zogen die Kleider zurecht, dann stieg auch der Graf aus, unterstützt von den Dienern, und zwischen Damen und Herren und Zettelverkäufern hindurch gingen sie in den Logengang. Durch die geschlossenen Türen hörte man schon Musik, der Logendiener öffnete dienstfertig die Loge. Laut ertönte die Musik, die Logenreihen, die entblößten Schultern und Arme der Damen erglänzten in heller Beleuchtung. Das geräuschvolle Parterre war mit glänzenden Uniformen angefüllt. Eine Dame, welche in die Nebenloge trat, musterte Natalie mit forschendem Blick. Der Vorhang war noch nicht aufgezogen, man spielte noch die Ouvertüre. Natalie trat mit Sonja ein, setzte sich und überblickte die erleuchteten Logen gegenüber. Das lange nicht empfundene Gefühl, daß Hunderte von Augen ihre entblößten Schultern und ihren Hals betrachteten, befiel sie plötzlich angenehm und unangenehm, und ein ganzer Schwarm von Erinnerungen, Wünschen und Aufregungen, welche diesem Gefühl entsprachen, erwachte. Die zwei bemerkenswert hübschen Mädchen Natalie und Sonja, und der alte Graf, den man lange in Moskau nicht gesehen hatte, zogen die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Die Verlobung Natalies mit dem Fürsten Andree war allen in unbestimmter Weise bekannt geworden, und man betrachtete neugierig die Braut, welche eine der besten Partien Rußlands machte. Natalie war auf dem Lande noch hübscher geworden, wie ihr alle sagten, und wurde besonders an diesem Abend durch die Aufregung noch verschönert. Ihre schwarzen Augen blickten teilnahmslos in die Menge.

»Himmel, Michail Kirilitsch ist noch dicker geworden!« sagte der alte Graf. »Sieh doch, da ist auch unsere Anna Michailowna! Und Frau Karagin mit Julie und Boris! Man sieht gleich, daß sie Braut und Bräutigam sind!«

»Drubezkoi hat angehalten, denken Sie sich! Heute habe ich es erfahren!« sagte Schinschin, der zu Rostows in die Loge trat.

Natalie sah nach derselben Richtung wie ihr Vater und erblickte Julie, welche mit strahlendem Gesicht neben ihrer Mutter saß, mit einer Perlenschnur um den dicken, roten Hals, der stark gepudert war, wie Natalie wußte. Hinter ihnen stand lächelnd Boris und beugte sich horchend zu Julie herab. Er blickte nach Rostows und sagte einige Worte zu seiner Braut.

»Sie sprechen von uns, von mir mit ihm«, dachte Natalie. »Wahrscheinlich will er die Eifersucht seiner Braut auf mich beruhigen. Das ist überflüssig. Wenn sie nur wüßten, wie wenig mir an ihnen allen gelegen ist!«

Hinter ihnen saß mit gottergebener Miene die Fürstin Drubezkoi. Natalie wandte sich ab, und plötzlich erinnerte sie sich wieder an alles, was erniedrigend in ihrem Morgenbesuch war.

»Wie darf er mir die Aufnahme in seine Verwandtschaft verweigern? Ach, ich will nicht daran denken, bis er kommt«, dachte sie und musterte die bekannten und unbekannten Gesichter im Parterre. In einer der ersten Reihen, in der Mitte, mit dem Rücken an die Rampe gelehnt, stand Dolochow in persischem Kostüm. Obgleich er wußte, daß die Aufmerksamkeit des ganzen Theaters auf ihn gerichtet war, stand er so unbefangen da wie in seinem Zimmer. In seiner Nähe drängte sich die glänzende Jugend Moskaus.

Lachend stieß der Graf die errötende Sonja an und machte sie auf ihren früheren Verehrer aufmerksam. »Hast du ihn erkannt?« fragte er sie. – »Wo ist er nun wieder hergekommen?« fragte er Schinschin, »er war doch eine Zeitlang verschwunden?«

»Ja«, erwiderte Schinschin, »er war im Kaukasus! Dort lief er davon, und man sagt, er sei Minister eines regierenden Fürsten in Persien gewesen, dann habe er den Bruder des Schahs getötet. Und jetzt sind unsere Moskauer Damen ganz vernarrt in ihn. ›Dolochow, der Perser!‹ sonst hört man nichts. Man verehrt ihn, man ruft nach ihm wie nach Sterlet«, sagte Schinschin. »Dolochow und dieser Anatol Kuragin haben allen unsern Damen den Kopf verdreht.«

In die Nebenloge trat eine hochgewachsene, schöne Dame mit einem großen Zopf und sehr tief ausgeschnittenem Kleid, welches ihre vollen Schultern und den weißen Hals sehen ließ, der von einer doppelten Perlenschnur umgeben war. Sie setzte sich mit geräuschvoller Umständlichkeit nieder unter dem Rauschen ihres schweren, seidenen Kleides.

Unwillkürlich bewunderte Natalie die Schönheit dieser Schultern und Perlen. Die Dame wandte sich um, und als sie den Blicken des alten Grafen begegnete, nickte sie ihm lächelnd zu. Das war die Gräfin Besuchow, Peters Frau. Der alte Graf, welcher alle Welt kannte, redete sie sogleich an.

»Sind Sie schon lange hier, Gräfin?« fragte er. »Ich werde kommen und Ihr Händchen küssen! Ich bin in Geschäften hierhergekommen und habe meine Mädchen mitgebracht! Die Semenow spielt unvergleichlich!« schwatzte der alte Graf. »Graf Peter hat uns nicht vergessen! Ist er hier?«

»Ja, er wollte auch kommen«, erwiderte Helene und blickte Natalie forschend an.

Der alte Graf setzte sich wieder auf seinen Platz.

»Hübsch, nicht wahr?« flüsterte er Natalie zu.

»Wunderbar«, erwiderte Natalie, »man könnte sich in sie verlieben.«

Die Ouvertüre ging zu Ende. Der Vorhang erhob sich, in den Logen und im Parterre wurde es still, und alle die alten und jungen Herren in Uniformen und Fräcken, alle die Damen mit Brillanten auf dem nackten Körper blickten gespannt nach der Bühne.


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