Leo N.Tolstoi
Krieg und Frieden
Leo N.Tolstoi

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Fürstin Marie schob ihre Abreise auf. Drei Wochen lang wich Natalie nicht von der Seite ihrer Mutter, schlief auf einem Lehnstuhl bei ihr im Zimmer, pflegte sie und sprach unaufhörlich, weil nur ihre milde, freundliche Stimme die Gräfin beruhigen konnte. Aber die Wunde, welche die Gräfin beinahe tötete, diese neue Wunde rief Natalie zum Leben zurück. Sie hatte geglaubt, ihr Leben sei zu Ende, aber da zeigte ihr die Liebe zu ihrer Mutter, daß das Wesen ihres Lebens, die Liebe, in ihr noch lebendig war. Als die Liebe erwachte, erwachte auch das Leben wieder.

Die letzten Tage des Fürsten Andree hatten Natalie mit Marie eng verbunden, und das neue Unglück brachte sie einander noch näher. Es entstand jene leidenschaftliche, zärtliche Freundschaft, wie sie nur zwischen weiblichen Wesen vorkommt. Sie küßten sich beständig, redeten einander mit zärtlichen Worten an und brachten den größten Teil ihrer Zeit beisammen zu. Es war sogar noch ein stärkeres Gefühl als Freundschaft, es war das Gefühl, daß kein anderes Leben für sie möglich sei als in enger Gemeinschaft.

Zuweilen schwiegen sie ganze Stunden, zuweilen begannen sie, im Bett liegend, zu sprechen und sprachen bis zum Morgen, und meist von längst Vergangenem. Die Fürstin Marie erzählte von ihrer Kindheit, von ihrer Mutter, ihrem Vater und ihren Träumen. Natalie, die sich früher mit ruhiger Verständnislosigkeit von diesem Leben der Hingebung und des Gehorsams, von der Poesie christlicher Selbstaufopferung abgewendet hatte, begriff jetzt Maries früheres Leben, und die Fürstin Marie erkannte jetzt erst, wenn sie den Erzählungen Natalies aus ihrer Jugend zuhörte, die früher ihr unverständliche Seite des Lebens, den Glauben an das Leben und die Freude des Lebens.

Im Januar fuhr die Fürstin Marie nach Moskau, und der Graf bestand darauf, daß Natalie mit ihr fahren sollte, um sich mit den Ärzten in Moskau zu beraten.


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