Leo N.Tolstoi
Krieg und Frieden
Leo N.Tolstoi

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227

In der Nacht vom 6. auf den 7. Oktober begann die Bewegung der abmarschierenden Franzosen. Küchen und Baracken wurden abgebrochen. Fuhren wurden beladen, Truppen und Wagen setzten sich in Bewegung. Um sieben Uhr morgens erschien eine Abteilung Infanterie in Feldausrüstung, mit Tschako, Gewehren, Tornistern und großen Brotbeuteln vor der Baracke, und durch die ganze Linie lief ein lebhaftes, geräuschvolles französisches Schwatzen, mit Schimpfworten untermischt.

In der Baracke waren alle bereit und angekleidet und erwarteten nur den Befehl, hinauszugehen. Der kranke Soldat Sokolow, mit bleichem, hagerem Gesicht und blauen Ringen um die Augen, lag allein noch unangekleidet auf seiner Stelle und blickte mit starren Augen fragend nach den Genossen, die sich nicht um ihn kümmerten. Er stöhnte leise, augenscheinlich weniger aus Schmerz – er litt am Blutsturz – als aus Angst, allein zurückzubleiben.

Peter trug Schuhe, die ihm Karatajew verfertigt hatte, und war mit einem Strick umgürtet. Er setzte sich neben den Kranken.

»Nun, Sokolow, sie werden wohl nicht ganz und gar abziehen. Sie haben da ein Hospital, vielleicht ist es noch besser als die unsrigen«, sagte Peter.

»O, das ist mein Tod«, stöhnte der Soldat.

»Ich werde mich erkundigen«, sagte Peter und ging zur Tür. In demselben Augenblick trat der Korporal, der Peter die Pfeife angeboten hatte, mit zwei Soldaten ein; er hatte Befehl, die Tür zu schließen und die Gefangenen abzuzählen.

»Korporal, was wird mit diesem Kranken geschehen?« begann Peter, aber in demselben Augenblick ertönte von zwei Seiten Trommelwirbel. Der Korporal stieß mit finsterer Miene einige Schimpfworte aus und schlug die Tür zu. In der Baracke wurde es halb dunkel.

»Da ist es wieder«, dachte Peter. In dem veränderten Benehmen des Korporals, in dem betäubenden Trommelwirbel hatte Peter jene geheimnisvolle, teilnahmlose Gewalt erkannt, welche die Menschen veranlaßte, gegen ihren Willen ihresgleichen zu töten. Es war jetzt nichts zu machen, als geduldig zu warten. Peter ging nicht mehr zu dem Kranken und blickte ihn auch nicht mehr an, sondern blieb schweigend und mit finsterer Miene an der Tür stehen.

Als die Tür geöffnet wurde, drängte sich Peter durch die Gefangenen hinaus und ging auf den Kapitän zu, der nach der Versicherung des Korporals bereit war, für Peter alles zu tun. Auch der Kapitän trug Feldausrüstung, und aus seinem kalten Gesicht blickte auch jenes »Etwas« hervor, das Peter in den Worten des Korporals und in dem Trommelwirbel erkannt hatte.

»Schert euch hinaus«, sagte der Kapitän, mit finsterer Miene nach den sich herausdrängenden Gefangenen blickend. Peter wußte, daß sein Versuch vergeblich sein werde, aber er trat dennoch auf den Kapitän zu.

»Nun, was gibt's?« fragte der Offizier. Peter sprach von dem Kranken.

»Er geht mit! Zum Teufel!« sagte der Kapitän.

»Aber er ist am Sterben«, begann Peter.

»Marsch! Zum Teufel!« schrie der Kapitän zornig. Tram–da–da–dam–dam! wirbelten die Trommeln, und Peter begriff, daß jene geheimnisvolle Kraft die Menschen vollständig beherrschte und daß jetzt alle Worte nutzlos seien.

Die gefangenen Offiziere wurden von den Soldaten getrennt. Es waren etwa dreißig Offiziere und dreihundert Soldaten.

Die gefangenen Offiziere, die aus anderen Baracken kamen, waren Peter alle fremd und viel besser gekleidet als er, und blickten ihn mißtrauisch und kühl an. Nicht weit von Peter ging ein dicker Major in einem Schlafrock, der mit einem Leintuch festgehalten wurde, mit einem dicken, gelben, bösen Gesicht, der beständig keuchte und zornig brummte. Ein anderer Offizier sprach seine Vermutungen aus, wohin sie jetzt geführt und wie weit sie heute noch kommen werden. Ein Intendanturbeamter lief nach verschiedenen Seiten, betrachtete das abgebrannte Moskau und äußerte laut seine Beobachtungen.

»Nun, ihr wißt, daß es abgebrannt ist, was ist da zu reden?« knurrte der Major.

Als der Zug durch einen der wenigen nicht abgebrannten Stadtteile Moskaus kam, drängte sich die ganze Menge der Gefangenen plötzlich nach einer Seite, und man hörte Ausrufe des Entsetzens. Die Leiche eines Mannes stand aufrecht an einer Kirchenmauer, das Gesicht war mit Kienruß beschmiert.

»Vorwärts, zum Teufel!« schrien die französischen Soldaten und trieben die Gefangenen mit den Säbeln auseinander.


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