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Am 30. August kehrte Peter nach Moskau zurück; Schon an der äußersten Vorstadt begegnete ihm ein Adjutant des Grafen Rostoptschin.
»Wir suchen Sie überall!« sagte der Adjutant. »Der Graf muß Sie durchaus sprechen und bittet Sie, sogleich zu ihm zu fahren, wegen einer wichtigen Angelegenheit.«
Ohne nach Hause zu fahren, nahm Peter eine Droschke und fuhr zum Oberkommandierenden.
Graf Rostoptschin war an diesem Morgen eben in der Stadt angekommen aus seiner Villa vor der Stadt auf den Sperlingsbergen. Das Wohnzimmer des Grafen war voll von Beamten, welche auf sein Verlangen erschienen waren oder Befehle erwarteten. Die Reitergenerale Wassiltschikow und Platow hatten den Grafen schon gesprochen und ihm erklärt, es sei unmöglich, Moskau zu verteidigen, und es werde geräumt werden. Diese Nachricht wurde zwar den Einwohnern verheimlicht, aber die Beamten wußten, daß Moskau in die Hände des Feindes fallen werde, und alle kamen zum Gouverneur, um zu fragen, wie sie sich verhalten sollten. Während Peter in das Empfangszimmer eintrat, kam ein Kurier, der von der Armee gekommen war, vom Grafen heraus und antwortete auf die Fragen, die von allen Seiten an ihn gerichtet wurden, nur mit einem hoffnungslosen Achselzucken.
Peter betrachtete mit müden Augen die verschiedenen alten und jungen, vornehmen und niedrigen Beamten im Vorzimmer. Alle schienen unzufrieden und unruhig zu sein. Sie begrüßten sich mit Peter und sprachen dann weiter unter sich.
»Hier, das schreibt er!« sagte ein Beamter, auf ein bedrucktes Papier deutend, das er in den Händen hielt.
»Das ist etwas anderes, für das Volk ist das notwendig!« erwiderte ein anderer.
»Was ist das?« fragte Peter.
»Eine neue Bekanntmachung!«
Peter nahm sie und las:
»Der Durchlauchtigste Fürst hat Moschaisk passiert, um sich schneller mit den Truppen zu vereinigen, die zu ihm stoßen. Er hat eine starke Stellung, welche der Feind nicht sogleich anzugreifen wagt. Von hier sind ihm achtundvierzig Kanonen mit Munition zugesandt worden, und der Durchlauchtigste sagt, er werde Moskau bis zum letzten Blutstropfen verteidigen und sich noch in den Straßen schlagen. Kümmert euch nicht darum, daß die Behörden ihre Tätigkeit eingestellt haben, wir werden mit den Bösewichtern allein fertig werden. Wenn es dazu kommt, so brauche ich tüchtige, junge Leute. Ich bin jetzt gesund, mir hat ein Auge geschmerzt, aber jetzt sehe ich auf beiden. Es ist gut mit dem Beil, nicht übel ist auch der Spieß, aber das beste ist die dreizinkige Gabel. Ein Franzose ist nicht schwerer als eine Getreidegarbe! Morgen nach der Messe . . .«
»Aber mir hat ein Offizier gesagt«, bemerkte Peter, »daß es ganz unmöglich sei, sich in der Stadt zu schlagen, und daß die Stellung . . .«
»Nun ja, davon sprechen wir eben!« sagte der eine Beamte.
»Aber was bedeutet das: ›Mir hat ein Auge geschmerzt, jetzt aber sehe ich auf beiden?‹«
»Der Graf hatte ein Gerstenkorn am Auge!« erwiderte der Adjutant lachend, »und er wurde sehr unruhig, als man ihm sagte, das Volk sei gekommen, um zu fragen, was mit ihm sei. Nun, wie ist's mit Ihnen, Graf?« fragte plötzlich der Adjutant Peter lächelnd, »wir haben gehört, Sie haben häusliche Sorgen . . . Die Gräfin . . . Ihre Frau Gemahlin . . .«
»Ich habe nichts davon gehört«, bemerkte Peter gleichmütig. »Was haben Sie gehört?«
»Nein, wissen Sie, es wird so viel gelogen! Ich kann nur sagen, was ich gehört habe . . .«
»Nun, was haben Sie denn gehört?«
»Man sagt, die Gräfin habe die Absicht, ins Ausland zu reisen, das ist wahrscheinlich erlogen . . .«
»Vielleicht!« sagte Peter und blickte sich zerstreut um. »Aber wer ist das?« fragte er, auf einen kleinen, alten Mann mit einem großen, schneeweißen Bart deutend.
»Das? Das ist ein Kaufmann, das heißt, er ist der Gastwirt Wereschtschagin. Sie haben vielleicht diese Geschichten von der Proklamation gehört?«
»Ach, das ist also Wereschtschagin?« sagte Peter. Er blickte das feste, ruhige Gesicht des alten Kaufmanns an und suchte darin den Ausdruck des Verräters.
»Das ist er nicht selbst, das ist der Vater dessen, der die Proklamation geschrieben hat!« sagte der Adjutant. »Jener junge Mensch sitzt im Gefängnis und es wird ihm wahrscheinlich schlimm gehen.«
Ein Greis mit einem Stern und ein anderer Beamter, ein Deutscher, mit einem Kreuz um den Hals, näherten sich der Gruppe.
»Sehen Sie«, erzählte der Adjutant, »das ist eine verwirrte Geschichte. Damals erschien diese Proklamation, es sind zwei Monate her. Das wurde dem Grafen gemeldet; er befahl, eine Untersuchung anzustellen. Man entdeckte, daß die Proklamation sich in den Händen von dreiundsechzig Personen befand. Man kam zu dem einen und fragte: ›Von wem haben Sie sie?‹ – ›Von dem und dem.‹ Dann kam man zu dem anderen und fragte: ›Von wem haben Sie sie?‹ und so weiter. So kamen sie bis auf Wereschtschagin, einen ungebildeten Kaufmann. Auch diesen fragten sie: ›Von wem hast du das?‹
»Da wurde er verlegen und sagte: ›Von niemand, ich habe es selbst geschrieben.‹ Man drohte, man bat, aber er blieb dabei, er habe sie selbst geschrieben. Das wurde dem Grafen gemeldet. Der Graf befahl, ihn vorzuführen. ›Von wem hast du die Proklamation?‹ fragte er. – ›Ich habe sie selbst geschrieben!‹ Nun, Sie kennen den Grafen«, sagte der Adjutant lachend, »er fuhr schrecklich auf. Aber bedenken Sie auch solch eine Frechheit, Lüge und Hartnäckigkeit!«
»Ah, der Graf wollte, daß er auf Klutscharew hinweisen sollte, ich verstehe!« sagte Peter.
»Durchaus nicht!« erwiderte der Adjutant erschrocken. »Klutscharew hatte schon genug auf dem Kerbholz und dafür ist er auch nach Sibirien geschickt worden. Aber die Sache war die: der Graf war sehr aufgeregt. ›Wie konntest du das verfassen?‹ sagte der Graf und nahm vom Tisch eine Hamburger Zeitung. ›Da ist's! Du hast sie nicht verfaßt, sondern übersetzt, und schlecht übersetzt, weil du Dummkopf nicht Französisch verstehst!‹ Nun, was denken Sie? – ›Nein‹, sagte er, ›ich habe keine Zeitung gelesen, ich habe es verfaßt!‹ – ›Nun, wenn es so ist, so bist du ein Verräter, und ich werde dich dem Gericht übergeben, man wird dich aufhängen. Sprich, von wem hast du es erhalten?‹
»›Ich habe keine Zeitung gelesen, ich habe es selbst verfaßt.‹ Dabei blieb er. Der Graf hat auch den Vater vorgefordert, aber er blieb dabei. Man stellte ihn vor Gericht und hat ihn verurteilt, ich glaube, zur Zwangsarbeit. Jetzt ist der Vater gekommen, um für ihn zu bitten. Aber der nichtsnutzige Junge! Wissen Sie, so ein Kaufmannssöhnchen, ein Stutzerchen und Taugenichts, glaubt, der Teufel werde ihn nicht holen. Draußen bei der steinernen Brücke ist die Kneipe seines Vaters, und in der Schenkstube, wissen Sie, hing ein großes Bild von Gott dem Allgewaltigen, in einer Hand hielt er ein Zepter und in der anderen den Reichsapfel. Dieses Bild nahm er auf einige Tage nach Hause, und was hat er gemacht? Er fand so einen schuftigen Maler . . .«
Die Erzählung wurde unterbrochen, weil Peter zum Gouverneur gerufen wurde.