Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Wie in jeder wirklichen Familie, so lebten auch in Lysy Gory mehrere ganz verschiedene Welten nebeneinander, welche, einander entgegenkommend, ein harmonisches Ganzes bildeten. Jedes Ereignis im Hause war gleich wichtig, gleich freudig oder traurig für alle diese Welten, aber jede derselben hatte ihre ganz besondere Veranlassung, sich über ein Ereignis zu freuen oder zu grämen.
So war auch die Ankunft Peters ein wichtiges, freudiges Ereignis für alle. Die Dienerschaft, die besten Richter der Herrschaft, weil sie nicht nach Gesprächen und Gefühlsausdrücken urteilt, sondern nach den Handlungen und der Lebensweise, war erfreut über Peters Ankunft, weil sie wußte, daß der Graf nun nicht mehr so oft in die Wirtschaft gehen, aber heiterer und nachsichtiger sein werde, und außerdem, weil sie alle auf reiche Geschenke rechneten. Die Kinder und die Gouvernanten freuten sich über seine Ankunft, weil sie wußten, daß niemand sie so in das allgemeine Leben einführte wie Peter. Er allein verstand auf dem Klavier jene Ecossaise, sein einziges Stück, zu spielen, nach welcher man, wie er sagte, alle möglichen Tänze tanzen könne. Auch sie wußten, daß er Geschenke für alle mitbringe.
Der kleine Nikolai Bolkonsky, der jetzt ein fünfzehnjähriger Knabe mit flatternden, blondlockigen Haaren und schönen Augen war, freute sich, weil Onkel Peter der Gegenstand seiner Verehrung und leidenschaftlichen Liebe war. Seine Tante gab sich alle Mühe, Nikolai Liebe zu ihrem Manne einzuflößen, und Nikolai liebte auch seinen Onkel, aber mit einem kaum merklichen Anflug von Geringschätzung, Peter aber vergötterte er. Er wollte weder Husar noch Georgenritter sein wie Onkel Nikolai, sondern gelehrt, klug und gut wie Peter. In Gegenwart Peters strahlte sein Gesicht und er errötete, wenn Peter ihn anredete. Er verlor kein Wort von dem, was Peter sagte, und sprach dann mit Desalles über die Bedeutung jedes seiner Worte.
Aus einzelnen Reden über seinen Vater und Natalie, aus der Erregung, mit der Peter von dem Verstorbenen sprach, aus der ehrfurchtsvollen Zärtlichkeit, mit der Natalie von ihm sprach, hatte der Knabe, der eben erst das Wesen der Liebe zu ahnen begann, sich die Vorstellung gebildet, daß sein Vater Natalie geliebt und vor seinem Tode sie seinem Freunde vermacht habe. Dieser Vater, dessen der Knabe sich nicht erinnern konnte, war für ihn eine Gottheit, die man sich nicht vorstellen kann und an die er nicht anders dachte als mit tiefer Ehrfurcht und mit Tränen des Kummers und Entzückens. Darum war auch der kleine Nikolai glücklich über die Ankunft Peters. Die Gäste und die erwachsenen Hausgenossen freuten sich in Erwartung des heiteren, ruhigen Tones, den Peter in das häusliche Leben mitbringen werde. Peter verstand diese verschiedenen Standpunkte und beeilte sich, jedem das Erwartete zu übergeben. Peter, dieser zerstreute, vergeßliche Mensch, hatte jetzt nach einem Verzeichnis von der Hand seiner Frau alles eingekauft und nichts vergessen. Bei seiner ersten Reise, die er nach der Hochzeit gemacht hatte, war er erstaunt gewesen über das Verlangen seiner Frau, alles zu besorgen und nichts zu vergessen, was sie ihm auftrug, sowie über ihren ernsten Verdruß, als er alles vergessen hatte. Aber später gewöhnte er sich daran und verdiente von Natalie nur dafür Vorwürfe, daß er Überflüssiges und zu teuer einkaufte. Zu allen ihren Mängeln, nach Meinung der Mehrheit, und ihren Vorzügen, nach der Meinung Peters, fügte Natalie noch übertriebene Sparsamkeit hinzu. Obgleich Peter ein großes Haus führte und die Familie große Ausgaben erforderte, bemerkte er zu seinem Erstaunen, daß er gegen früher nur die Hälfte ausgab und daß seine zerrütteten Umstände sich zu bessern begannen. Mit heiterem, lächelndem Gesicht packte Peter seine Einkäufe aus wie ein Verkäufer auf dem Jahrmarkt.
»Wie gefällt dir das?« fragte er, einen Kleiderstoff entfaltend.
»Das ist für die alte Bjelow? Vorzüglich!« Sie befühlte den Stoff. »Wahrscheinlich zu einem Rubel die Elle?«
Peter nannte den Preis.
»Das ist zu teuer«, sagte Natalie.
»Wie die Kinder sich freuen werden, Mama!«
»Aber es ist überflüssig, daß du mir das gekauft hast«, fügte sie hinzu, indem sie mit Wohlgefallen einen goldenen Kamm mit Perlen betrachtete, wie sie damals in Mode kamen.
»Adele bestand darauf, ich solle es durchaus kaufen.«
»Dann werde ich den Kamm tragen.« Sie steckte ihn in ihren Zopf.
»Nun komm!« Sie nahmen die Geschenke zusammen und gingen zuerst ins Kinderzimmer, dann zur alten Gräfin. Diese saß wie gewöhnlich mit der Bjelow bei einer Patience, als Natalie und Peter mit den Paketen unter den Armen eintraten. Die Gräfin war schon sechzig Jahre alt und ganz grau, sie trug ein Häubchen, das ihr Gesicht mit einer Rüsche einfaßte. Es war ganz faltig, die Oberlippe fast verschwunden und die Augen trübe. Nach den so rasch aufeinander folgenden Todesfällen des Sohnes und ihres Mannes fühlte sie sich als ein Wesen, das weder Zweck noch Sinn hatte. Sie aß, trank und schlief, aber das war kein Leben. Das Leben gab ihr keine Eindrücke mehr und sie erwartete nichts mehr von ihm als Ruhe, die sie aber erst im Tode finden konnte. Was man bei sehr kleinen Kindern und sehr alten Leuten beobachten kann, das zeigte sich im höchsten Grade auch bei ihr. Ihr Leben hatte keinen äußeren Zweck mehr und augenscheinlich bestand es nur in dem Bedürfnis, ihre verschiedenen Neigungen und Fähigkeiten in Tätigkeit zu setzen. Sie mußte essen, schlafen, nachdenken, sprechen, weinen, sich ärgern und so weiter, weil sie einen Magen, Gehirn, Muskeln, Nerven hatte. Das alles tat sie infolge innerer Notwendigkeit. Sie sprach nur, weil sie physisch das Bedürfnis hatte, ihre Lungen und Zunge in Bewegung zu setzen. Das, was für Menschen von voller Lebenskraft Zweck ist, war für sie nur Vorwand. So äußerte sich bei ihr morgens, besonders wenn sie am vorhergehenden Tag etwas Fleischiges gegessen hatte, das Bedürfnis, sich zu ärgern, und dazu wählte sie den nächsten Vorwand, die Taubheit der alten Bjelow. »Heute scheint es etwas wärmer geworden zu sein, meine Liebe«, flüsterte sie am anderen Ende des Zimmers, und wenn ihre alte Genossin erwiderte: »Nun ja, er ist angekommen!« knurrte sie zornig: »Mein Gott, wie taub und dumm!« Ein anderer Vorwand war der Schnupftabak, welcher bald zu trocken, bald zu feucht war. Nach diesen Erregungen floß ihr die Galle ins Gesicht, und ihre Zofe wußte an sicheren Anzeichen, wann wieder die alte Bjelow taub und wann der Tabak wieder feucht sein werde, und wann ihr Gesicht wieder gelb werden würde. In gleicher Weise mußte sie auch zuweilen die ihr noch verbliebene Fähigkeit, zu denken, in Tätigkeit setzen, und dazu diente die Patience. Wenn sie weinen mußte, so war ihr Vorwand der verstorbene Graf, wenn sie das Bedürfnis nach Besorgnissen empfand, so lieferte Nikolai und seine Gesundheit den Vorwand, wenn sie giftige Reden ausstoßen wollte, so war die Gräfin Marie der Vorwand, wenn sie die Organe der Stimme üben mußte, wie gewöhnlich gegen sieben Uhr im dunklen Zimmer nach der Verdauung, so lieferten ihr immer dieselben Geschichten den Stoff, die sie immer denselben Zuhörern erzählte.
Diesen Zustand der Alten begriffen alle Hausgenossen, obgleich niemand darüber sprach, und alle bemühten sich, diese Bedürfnisse zu befriedigen. Nur zuweilen sagte ein flüchtiger Blick und ein betrübtes Lächeln zwischen Peter, Nikolai, Natalie und Marie, daß sie ihren Zustand verstanden, daß sie ihre Aufgabe im Leben erfüllt habe, daß das, was jetzt noch an ihr sichtbar, nicht ihr ganzes Wesen sei, und daß sie alle einst ebenso sein werden wie dieses klägliche Geschöpf, das einst ebenso lebensfroh gewesen war wie sie. »Memento mori!« sagten diese Blicke.
Nur ganz böse und dumme Menschen sowie kleine Kinder begriffen das nicht und hielten sich von ihr fern.