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Ein grauköpfiger Kammerdiener saß im Halbschlummer in dem großen Kabinett und lauschte auf das Schnarchen des Fürsten. Von ferne hörte man eine zwanzigmal wiederholte schwierige Stelle aus einer Sonate von Dussek.
In diesem Augenblick fuhr ein Wagen vor dem Hause vor. Fürst Andree stieg aus und hob seine kleine Frau heraus. Der grauköpfige Tichon kam aus dem Vorsaal heraus, meldete flüsternd, der Fürst sei eingeschlafen und öffnete die Tür. Er wußte, daß auch die Ankunft des Sohnes die Tagesordnung nicht stören durfte. Auch Fürst Andree schien das zu wissen. Er blickte nach der Uhr und überzeugte sich, daß die Lebensgewohnheiten des Vaters sich nicht geändert hatten.
»In zwanzig Minuten steht er auf«, sagte er zu seiner Frau, »wir wollen zur Fürstin Marie gehen.«
»Also das ist das Schloß«, sagte sie zu ihrem Manne, indem sie sich umblickte. Sie lächelte Tichon und dem Diener zu, der ihnen voranging. »Hörst du, wie Marie sich abmüht? Wir wollen leise gehen, um sie nicht zu stören«, sagte der Fürst. Aus dem Zimmer, in welchem das Clavichord ertönte, kam eilig aus einer Seitentür die hübsche Französin, Mademoiselle Bourienne, heraus, wie es schien, im höchsten Entzücken.
»Ach, welche Freude für die Fürstin!« sagte sie endlich, »ich muß sie benachrichtigen.«
»Nein, nein«, erwiderte die Fürstin, indem sie sie küßte. »Sie sind Fräulein Bourienne, ich kenne Sie bereits und weiß, welche Freundschaft meine Schwägerin für Sie hegt.
Sie traten in den Salon, aus welchem immer wieder und wieder jene Stelle ertönte. Fürst Andree blieb stehen und sein Gesicht verfinsterte sich, als ob er etwas Unangenehmes erwartete. Die Fürstin trat ein. Das Clavichordspiel brach in der Mitte ab, man hörte einen Ausruf und die schweren Schritte Maries. Als der Fürst Andree eintrat, hielten sich die beiden Schwägerinnen umfaßt und küßten sich gegenseitig herzlich. Fräulein Bourienne stand bei ihnen und drückte mit entzücktem Lächeln die Hände aufs Herz. Zum Erstaunen des Fürsten Andree brachen beide in Tränen aus und küßten sich wieder. Auch Fräulein Bourienne begann zu weinen, und dem Fürsten Andree wurde es augenscheinlich unbehaglich zumute.
»Ach, meine Liebe! Ach, Marie!« riefen plötzlich beide Damen lachend. »Ich habe dich im Traum gesehen! Ihr habt uns nicht erwartet? Ach, Marie, du bist so abgemagert!«
»Und du bist so voll geworden!«
»Ich hatte keine Ahnung!« rief Marie. »Ach, Andree, wie lange habe ich dich nicht gesehen!« Sie umarmten sich, und sie richtete durch Tränen den liebevollen, innigen, milden Blick ihrer strahlenden Augen auf das Gesicht ihres Bruders. Die Fürstin sprach ohne Aufhören. Sie erzählte einen Zwischenfall, der ihnen unterwegs zugestoßen und in ihrer Lage bedrohlich erschienen war, und gleich darauf erklärte sie, sie habe alle ihre Kleider in Petersburg gelassen, und Gott weiß, in welchem Aufzug sie hier erscheinen werde, und Andree habe sich ganz verändert, und Kitty Odinzow habe einen alten Mann geheiratet, und sie habe einen Bräutigam für Marie, aber davon werde später die Rede sein.
»Und du ziehst wirklich in den Krieg?« fragte Marie seufzend. Sogleich seufzte auch Lisa.
»Schon morgen«, erwiderte der Bruder.
»Er verläßt mich hier, und Gott weiß warum.«
»Ist's wirklich wahr?« fragte Marie.
»Sie hat Erholung nötig«, sagte Fürst Andree, »nicht wahr, Lisa? Führe sie in ihr Zimmer! Ich werde zu Papa gehen. Wie ist er? Wie immer?«
»Wie immer. Ich weiß nicht, wie er dir erscheinen wird«, erwiderte Marie.
»Immer um dieselbe Stunde, und dieselben Spaziergänge in die Alleen, und die Drehbank?« fragte Fürst Andree lächelnd.
»Ja, wie immer, und dazu noch Mathematik und meine Geometriestunden«, erwiderte Fürstin Marie, als ob ihre Geometriestunden die heitersten Augenblicke ihres Lebens wären.
Nach zwanzig Minuten rief Tichon den jungen Fürsten zu seinem Vater. Der Alte machte eine Ausnahme zu Ehren der Ankunft des Sohnes und ließ ihn in seine Gemächer kommen, während er sich zum Diner ankleidete. Als Fürst Andree eintrat, saß der Alte am Toilettentisch auf einem großen Lehnstuhl im Pudermantel, während Tichon ihn frisierte.
»Ah, der Krieger! Bonaparte willst du bekämpfen?« sagte der Alte und nickte mit seinem gepuderten Kopfe, soweit das der Zopf erlaubte, der sich in Tichons Hand befand.
»Nun, halte dich tapfer, sonst wird er uns bald auch noch unterjochen.« Der Alte befand sich in guter Stimmung nach seinem Vormittagsschläfchen. Er sagte, der Schlaf sei nach dem Essen Silber, vor dem Essen Gold. Vergnügt blickten seine Augen unter den dichten, herabhängenden Augenbrauen den Sohn an. Fürst Andree trat auf ihn zu und küßte den Vater auf die Wange.
»Ja, ich bin gekommen, Väterchen, und mit meiner Frau, welche in Umständen ist«, sagte Fürst Andree, indem er mit ehrerbietigem Interesse jede Bewegung der väterlichen Züge beobachtete. »Wie ist Ihre Gesundheit?«
»Nur Dummköpfe und liederliche Menschen werden krank. Du kennst mich, ich bin von früh bis spät beschäftigt und darum gesund.«
»Gott sei Dank«, erwiderte Fürst Andree lachend.
»Nun erzähle, wie haben euch die Deutschen nach ihrer neuen Wissenschaft, der sogenannten Strategie, Napoleon zu bekämpfen gelehrt?«
»Lassen Sie mich erst zu mir selbst kommen, Väterchen!« erwiderte Fürst Andree mit einem Lächeln, das bewies, daß die Schwachheit des Vaters seine Verehrung und Liebe nicht beeinträchtigte.
»Nun, nun«, rief der Alte, indem er am Zopf zog, um sich zu versichern, daß er fest geflochten sei. Dann ergriff er seinen Sohn an der Hand.
»Das Haus ist für deine Frau bereit, Fürstin Marie wird sie einführen und ihr alles zeigen und nach Herzenslust dabei schwatzen, das ist einmal so Weiberart. Ich freue mich, daß sie gekommen ist. Setze dich und erzähle! Was wird die Südarmee machen? Preußen . . . Neutralität . . . Das weiß ich. Aber Österreich? Und was ist's mit Schweden?«
Fürst Andree fügte sich dem Wunsch des Vaters und entwickelte anfangs zögernd, dann aber mit steigender Lebhaftigkeit den Operationsplan des bevorstehenden Feldzuges. Er erzählte, eine Armee von neunzigtausend Mann solle Preußen bedrohen, um es zum Aufgeben seiner Neutralität zu veranlassen. Ein Teil dieser Armee solle sich in Stralsund mit den Schweden vereinigen, zweihundertzwanzigtausend Österreicher sollen zusammen mit hunderttausend Russen in Italien und am Rhein operieren und fünfzigtausend Russen mit fünfzigtausend Engländern Neapel belagern und diese fünfhunderttausend Mann sollen von verschiedenen Seiten die Franzosen angreifen. Der alte Fürst zeigte nicht das geringste Interesse dafür, ging im Zimmer auf und ab, während Tichon ihm nachlief und ihm Kleidungsstücke reichte. Einmal blieb er stehen und rief: »Die weiße! Die weiße!«
Er wollte die weiße Weste haben. Dann blieb er wieder einmal stehen und fragte: »Wird sie bald niederkommen?« Dabei wiegte er vorwurfsvoll den Kopf. »Nun fahre fort!«
»Ich will diesen Plan nicht gutheißen«, sagte der Sohn, »ich beschreibe ihn nur, wie er ist, Napoleon wird auch seine Pläne haben.«
»Nun, Neues hast du mir nicht gesagt. Geh jetzt ins Speisezimmer!«