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Am nächsten Tage begab sich Nechljudow zum Advokaten und trug ihm die Angelegenheit der Menjschows vor, deren Verteidigung er ihn zu übernehmen bat. Der Advokat hörte ihn an und sagte, er wolle die Akten einsehen, und wenn alles sich so verhalte, wie Nechljudow es ihm gesagt, werde er die Verteidigung ohne jedes Honorar übernehmen. Weiterhin erzählte Nechljudow dem Advokaten auch von den hundertunddreißig Menschen, die auf Grund eines Mißverständnisses im Gefängnis festgehalten würden, und fragte ihn, wer denn darüber zu entscheiden habe, und wer der Schuldige sei. Der Advokat schwieg ein Weilchen – offenbar wollte er seiner Antwort eine recht präzise Form geben.
»Wer der Schuldige ist? Niemand!« sagte er dann in bestimmtem Tone. »Reden Sie mit dem Staatsanwalt, dann sagt er Ihnen, der Gouverneur sei schuld – und reden Sie mit dem Gouverneur, dann sagt der, es liege am Staatsanwalt. Niemand ist eben schuld.«
»Ich fahre jetzt gleich zu Maslennikow und rede mit ihm darüber.«
»Nun, das wird kaum etwas nützen,« versetzte der Advokat lächelnd. »Das ist solch ein – er ist doch nicht etwa Ihr Verwandter oder Freund? – solch ein, mit Erlaubnis zu sagen, Tölpel, und dabei ein ganz durchtriebener Fuchs.«
Nechljudow erinnerte sich der Äußerung, die Maslennikow über den Advokaten getan hatte, und sagte nichts auf dessen letzte Bemerkung. Er verabschiedete sich und begab sich zu Maslennikow.
Zwei Bitten hatte Nechljudow dem Vizegouverneur vorzutragen: erstens, daß die Maslowa ins Krankenhaus übergeführt werden möchte, und zweitens, daß die unglücklichen hundertunddreißig Paßlosen – wenn möglich – entlassen würden. So schwer es ihm auch fiel, einen Menschen, den er nicht achtete, um etwas zu bitten, so war dies doch die einzige Möglichkeit, zum Ziele zu gelangen, und er mußte sich schon zu dem Schritte bequemen.
Als Nechljudow bei Maslennikow vorfuhr, sah er vor dem Hause eine ganze Anzahl von Equipagen – Droschken, Kaleschen und Kutschen – und er erinnerte sich, daß heute zufällig auch der Empfangstag der Frau Vize-Gouverneurin war, zu dem ihn Maslennikow ausdrücklich eingeladen hatte. Als Nechljudow bei dem Hause vorfuhr, stand an der Auffahrt gerade eine Kutsche, und ein Lakai in einem Hute mit Kokarde und einer Pelerine half eben einer Dame von der Rampe in die Kutsche. Die Dame hatte ihre Schleppe hochgenommen, und man konnte ihre schlanken Knöchel in den schwarzseidenen Strümpfen und den ausgeschnittenen Schuhen sehen. Unter den Equipagen bemerkte er auch den geschlossenen Landauer der Kortschagins. Der grauhaarige Kutscher mit den roten Backen zog ehrerbietig den Hut vor ihm als einem Herrn, den er persönlich näher kannte. Noch hatte Nechljudow keine Zeit gefunden, den Schweizer zu fragen, wo Michail Iwanowitsch – so hieß Maslennikow mit Vor- und Vatersnamen – sich befinde, als der Vizegouverneur selbst auf der teppichbelegten Treppe erschien. Er begleitete einen vornehmen Gast »erster Klasse,« einen von jenen, die er nicht nur bis zum ersten Treppenabsatz, sondern bis ganz hinunter zu begleiten pflegte. Dieser sehr vornehme, in einer Militäruniform steckende Gast sprach, während er mit dem Vizegouverneur die Treppe hinabstieg, von einem bevorstehenden Wohltätigkeitsball zum Besten der wohltätigen Anstalten der Stadt und äußerte dabei die Meinung, das sei eine sehr nützliche Beschäftigung für die Damen – erstens mache es ihnen Vergnügen, und zweitens komme dabei Geld ein, sagte er.
»Mögen sie sich amüsieren, wenn's nur etwas abwirft. Ah, Nechljudow, guten Tag – warum hat man Sie die ganze Zeit hindurch nicht gesehen?« begrüßte der Militär den eben erschienenen Nechljudow. »Eilen Sie, all den schönen Damen Ihre Aufwartung zu machen! Auch Kortschagins sind da, und auch Nadine Bukshevden. Alle unsere Schönheiten!« sagte er, während er die epaulettgeschmückten Schultern seinem pompösen, über und über mit Goldtressen geschmückten Lakaien hinhielt, der ihm den Mantel umhing. – »Au revoir, mon cher.« Er schüttelte Maslennikow nochmals zum Abschied die Hand.
»Nun jetzt wollen wir hinaufgehen – wie freue ich mich, daß du gekommen bist!« sagte Maslennikow höchst aufgeräumt, während er Nechljudows Arm nahm und trotz seiner Korpulenz ihn rasch nach oben zog. Maslennikow befand sich in einer ganz besonders freudigen Stimmung, deren Ursache die Aufmerksamkeit war, die ihm von dem vornehmen Gast erwiesen worden war. Jede Aufmerksamkeit dieser Art versetzte Maslennikow in die gleiche frohe Stimmung – er glich dann ganz einem Schoßhündchen, das vor Entzücken außer sich gerät, wenn sein Herr es streichelt, oder zärtlich klopft, oder ihm die Ohren kraut. Es wedelt mit dem Schwanze, windet und schlängelt sich, zieht die Ohren an und jagt wie wahnsinnig im Kreise herum. Ganz dasselbe hätte am liebsten auch Maslennikow getan. Er bemerkte nicht den ernsten Ausdruck in Nechljudows Gesichte, hörte nicht, was er sprach, und zog ihn nur unaufhaltsam nach dem Salon hinauf. Unmöglich konnte Nechljudow es ablehnen, jetzt dort zu erscheinen, und so ging er mit hinauf.
»Von geschäftlichen Dingen reden wir später – ich tu' alles, was du verlangst,« sagte Maslennikow, als er mit Nechljudow durch den Saal schritt. »Melden Sie der Generalin den Fürsten Nechljudow,« sagte er im Vorbeigehen zum Lakaien, der im Paßgange an ihnen vorüberschritt und sie überholte. »Du brauchst nur zu befehlen. Aber zuerst mußt du meine Frau begrüßen, sie hat mir schon das letzte Mal den Kopf gewaschen, weil ich dich nicht mitbrachte.«
Der Lakai hatte Nechljudow bereits angemeldet, als sie eintraten, und Anna Ignatjewna, die Vizegouverneurin oder »Generalin«, wie sie sich selbst nannte, nickte ihm bereits von ihrem Diwanplatz aus mit strahlendem Lächeln über die sie umringenden Köpfe und Hüte hinweg zu. Am andern Ende des Salons saß um den Teetisch eine weitere Gruppe von Damen, während Herren in Militär- und Ziviluniformen sich stehend um sie gruppierten und ein unaufhörliches Geplapper von männlichen und weiblichen Stimmen sich vernehmen ließ.
»Endlich! Warum wollen Sie denn nichts von uns wissen? Was haben wir Ihnen getan?« – mit diesen Worten, die auf eine nie vorhanden gewesene Intimität zwischen ihr und Nechljudow hindeuten sollten, begrüßte sie den Eintretenden.
»Sie kennen sich schon? Hier – Madame Bjelawskaja, Michail Iwanowitsch Tschernow. Nehmen Sie Platz – hier, näher bei mir. Missi, kommen Sie doch an unsern Tisch, man wird Ihnen den Tee hierher bringen ... Und Sie ...« wandte sie sich an einen Offizier, der mit Missi sprach, und dessen Namen sie anscheinend vergessen hatte – »bitte, kommen auch Sie her! Befehlen Sie Tee, Fürst?«
»Um keinen Preis, um keinen Preis gebe ich das zu; sie liebte ihn einfach nicht,« ließ eine weibliche Stimme sich vernehmen.
»Wohl aber liebte sie Pasteten ...«
»Immer diese dummen Witze,« warf lachend eine andere Dame ein, die einen hohen Hut trug und von Seide, Gold und Edelgestein schimmerte.
»Ausgezeichnet – diese kleinen Waffeln, und so bekömmlich! Geben Sie noch welche her!«
»Nun, reisen Sie bald ab?«
»Ja, heute sind wir den letzten Tag hier, darum sind wir auch hergekommen.«
»Ein so herrlicher Frühling, wie schön muß es jetzt auf dem Lande sein!«
Missi, im Hut und in einem dunkelgestreiften Kleide, das ganz faltenlos ihre schlanke Taille umschloß, als sei sie in diesem Kleide zur Welt gekommen, sah heute sehr vorteilhaft aus. Sie errötete, als sie Nechljudow erblickte.
»Ich dachte, Sie seien verreist,« sagte sie zu ihm.
»Ich bin so gut wie verreist,« sagte Nechljudow. »Geschäfte nehmen mich in Anspruch – auch hier bin ich eigentlich nur in Geschäften.«
»Besuchen Sie doch Mama, sie möchte Sie gar zu gern wieder sehen,« sagte sie und errötete noch mehr, da sie wußte, daß sie log, und sich sagen mußte, daß er dies erriet.
»Ich werde kaum Zeit dazu finden,« antwortete Nechljudow düster, indem er sich stellte, als bemerke er ihr Erröten nicht.
Missi zog ärgerlich die Brauen zusammen, zuckte die Achseln und wandte sich dem eleganten Offizier zu, der die leere Tasse aus ihren Händen nahm und, mit dem klirrenden Säbel gegen die Stühle schlagend, sie voll Todesverachtung nach einem andern Tische trug.
»Sie müssen auch etwas für das Asyl spenden!«
»Gewiß, ich weigere mich nicht, doch spare ich meine ganze Freigebigkeit bis zu dem Wohltätigkeitsball auf. Dort werde ich mich in vollem Glanz präsentieren.«
»Nun, wie Sie wollen,« ließ sich unter offenbar erheucheltem Lachen eine Stimme vernehmen.
Der Empfangstag war glänzend, und Anna Ignatjewna war entzückt.
»Mika sagte mir, Sie beschäftigten sich jetzt mit dem Gefängniswesen, was ich sehr begreiflich finde,« sagte sie zu Nechljudow. »Mika« – so nannte sie ihren dicken Mann, Maslennikow – »kann vielleicht manchen andern Fehler haben, aber ein gutes Herz hat er jedenfalls, das wissen Sie. Diese unglücklichen Gefangenen sind seine Kinder, nicht anders betrachtet er sie. Er ist ein so herzensguter Mensch ...«
Sie fand nicht Worte genug, um die Herzensgüte ihres Gatten zu schildern, und wandte sich gleich darauf lächelnd zu einer runzeligen alten Dame mit lila Bändern, die soeben eintrat. Nachdem Nechljudow so viel geredet hatte, wie gerade notwendig war, und auch so inhaltlos, wie eben notwendig war, damit er den Anstand nicht verletzte, stand er auf und ging zu Maslennikow hinüber.
»Also, bitte, kannst du mich jetzt anhören?«
»Ach ja! Nun, also was gibt's denn? Vielleicht gehen wir da hinein?«
Sie gingen in ein kleines japanisches Kabinett und nahmen dort am Fenster Platz.