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31.

Die Maslowa holte ihr gleichfalls in dem Weizenbrot verborgenes Geld hervor und gab der Korablewa den Kupon. Die Korablewa nahm den Kupon, beguckte ihn und ließ sich, da sie selbst des Lesens unkundig war, durch Schönlieschen, die als allwissend galt, bestätigen, daß das Papierchen einen Wert von zwei Rubeln und fünfzig Kopeken habe. Dann ging sie nach dem Abzugsloch des Ofens und holte die dort versteckte Branntweinflasche hervor. Als die Frauen, die nicht ihre Pritschennachbarinnen waren, dies sahen, gingen sie an ihre Plätze. Die Maslowa schüttelte inzwischen den Staub von ihrem Rocke und dem Kopftuch, kroch auf die Pritsche und begann die Weizenbrötchen zu verzehren.

»Ich habe dir Tee aufgehoben, doch er wird kalt geworden sein,« sprach Fedoßja zu ihr und holte von dem Wandbrett eine mit Fußlappen umwickelte Blechkanne und einen Trinkbecher herunter.

Das Getränk war ganz kalt und schmeckte mehr nach dem Blech als nach Tee, aber die Maslowa goß sich den Becher voll und trank ihn zu ihrem Weißbrot aus.

»Da, nimm, Finaschka,« sagte sie und gab dem kleinen Bürschchen, das dastand und ihr in den Mund sah, ein Stück von dem Brote.

Die Korablewa reichte ihr inzwischen die Flasche mit dem Branntwein und dem Becher. Die Maslowa bot der Korablewa und Schönlieschen von dem Branntwein an. Diese drei Arrestantinnen bildeten die Aristokratie der Zelle, weil sie Geld hatten und auch den andern von dem, was sie besaßen, abgaben.

Einige Minuten darauf war die Maslowa munter geworden und erzählte nun flott von der Gerichtsverhandlung, wobei sie den Staatsanwalt nachäffte und das, was ihr besonders aufgefallen war, hervorhob. Vor allem war ihr aufgefallen, daß die Männer ihr überall nachliefen, wo sie sich nur zeigte. So wenigstens schien es ihr: im Verhandlungssaal hatten alle nur für sie Augen, erzählte sie, und jeden Augenblick kamen sie in das Arrestantenzimmer, um sie anzusehen.

»Auch der Eskortesoldat meinte: ›Sie alle wollen dich sehen‹. Kommt so einer und fragt: ›Wo ist denn das und das Aktenstück?‹ oder sonst etwas, und ich sehe, daß er gar kein Aktenstück braucht, sondern nur nach mir guckt und mich mit den Augen verschlingt,« sagte sie lächelnd und schüttelte wie verwundert den Kopf. »Das sind mir Artisten!«

»Ja, so ist's mal,« fiel die Bahnwärterin ein, und sogleich floß ihr klingender Redestrom weiter. »Wie die Fliegen auf den Zucker stürzen sie drauf los. Für etwas anderes sind sie nicht zu haben, damit aber kann man sie fangen! Trocken Brot ist nichts für die Brüder ...«

»Und hier war dieselbe Geschichte,« unterbrach sie die Maslowa. »Auch hier bin ich gleich an die Rechten geraten. Wie man mich zurückbrachte, kam gerade eine Arrestantenabteilung vom Bahnhof. Die Kerle kamen mir gleich auf den Hals – ich wußte gar nicht, wie ich sie loswerden sollte. Ein Glück noch, daß der Hilfsinspektor sie fortgetrieben hat. Einer setzte mir so zu, daß ich ihn nur mit Gewalt loswerden konnte.«

»Was für einer war's denn?« fragte Schönlieschen.

»So ein Schwarzer mit einem Schnurrbart.«

»Das war er ganz gewiß ...«

»Wer denn?«

»Na, der Schtscheglow. Derselbe, der eben hier vorüberging.«

»Was für ein Schtscheglow ist das?«

»Die kennt nicht einmal den Schtscheglow! Schtscheglow ist zweimal aus der Zwangsarbeit entflohen. Jetzt haben sie ihn gekriegt, aber er wird schon wieder ausreißen. Selbst die Aufseher fürchten sich vor ihm,« sagte Schönlieschen, die den Arrestanten heimlich Zettel zuzustecken pflegte und alles wußte, was im Gefängnis vorging. »Ganz sicher wird er ausreißen!«

»Was nützt uns das, wenn er uns nicht mitnimmt!« versetzte die Korablewa. »Sag' lieber,« wandte sie sich an die Maslowa, »was dir der Ablakat von wegen der Bittschrift gesagt hat! Die muß doch jetzt eingereicht werden!«

Die Maslowa sagte, sie wisse von nichts.

In diesem Augenblick kam die Rothaarige, mit den sommersprossigen Händen in dem zerzausten, dichten Haar wühlend und mit den Nägeln ihre Kopfhaut bearbeitend, auf die Branntwein trinkenden Aristokratinnen zu.

»Ich will dir alles sagen, Katerina, wie man's macht,« begann sie. »Zuerst mußt du aufschreiben, daß du mit dem Gericht unzufrieden bist, und dann mußt du es dem Staatsanwalt melden.«

»Was willst du denn hier?« wandte sich die Korablewa mit ihrer knurrigen Baßstimme an sie. »Hast wohl den Branntwein gewittert? Brauchst uns nichts vorzumachen, wir wissen auch ohne dich, was zu tun ist, wir brauchen dich nicht.«

»Ich rede doch nicht mit dir, was zerreißt du dir das Maul?«

»Ein Schnäpschen möchtest du haben, darum schlängelst du dich so heran!«

»So biet ihr doch ein Gläschen an!« sagte die Maslowa, die gern allen von dem, was sie hatte, etwas abgab.

»Etwas ganz anderes werde ich ihr anbieten!«

»Na, komm nur an!« rief die Rothaarige und drang auf die Korablewa ein. »Ich hab' keine Angst vor dir!«

»Alte Zuchthausvettel!«

»Was mir schon so eine sagt!«

»Ekelhafter Fettwanst! Fettwanst!«

»Was sagst du – Fettwanst? Du Zuchthäuslerin! Du Seelenverderberin!« schrie die Rothaarige.

»Geh, sag' ich dir!« versetzte die Korablewa finster.

Aber die Rothaarige rückte immer dichter heran, und die Korablewa stiess sie gegen die entblösste, fette Brust. Das schien die Rothaarige nur erwartet zu haben, denn mit einer raschen Bewegung griff sie plötzlich mit der einen Hand in das Haar der Korablewa, während sie ihr mit der andern Hand einen Schlag ins Gesicht zu versetzen suchte, den die Korablewa jedoch abwehrte, indem sie den Arm der Rothaarigen festhielt. Die Maslowa und Schönlieschen packten nun die Rothaarige bei den Armen und suchten sie von der Korablewa wegzuzerren, aber die Hand der Roten hatte sich in dem Haar der andern ganz festgekrampft und ließ nicht los. Für einen Augenblick lockerte sie dann den Griff, jedoch nur, um das Haar desto straffer um die Faust zu wickeln. Die Korablewa, deren Kopf ganz zur Seite gekrümmt war, schlug mit der einen Hand die Rote gegen den Leib, während sie mit den Zähnen nach ihren Armen schnappte. Die übrigen Frauen drängten sich schreiend um die Kämpfenden und suchten sie auseinander zu bringen. Selbst die Schwindsüchtige war herangekommen und sah hustend auf die kämpfenden Weiber. Die Kinder schmiegten sich aneinander und weinten. Auf den Lärm kam die Aufseherin mit dem Aufseher herein. Die Streitenden wurden getrennt; die Korablewa löste ihren grauen Zopf auf und entfernte daraus die ausgerissenen Haare, während die Rothaarige dastand und vergeblich das zerfetzte Hemd über der gelben Brust zusammenzuhalten suchte; beide schrien, beschwerten sich übereinander und erzählten den Vorfall auf ihre Weise.

»Ich weiß schon, der Branntwein war's wieder einmal – morgen sag' ich's dem Inspektor, der wird's euch schon anstreichen! Wie das hier riecht – ihr habt wieder getrunken,« sagte die Aufseherin. »Seht nur zu, dass alles wegkommt, sonst geht es euch schlecht. Zu großen Untersuchungen ist keine Zeit, marsch auf eure Plätze, und den Mund gehalten!«

Aber es dauerte noch eine ganze Weile, bis es ganz still ward. Lange noch zankten sich die Frauen und erzählten einander, wie es angefangen habe, und wer schuld sei. Endlich entfernten sich der Aufseher und die Aufseherin, und die Frauen verstummten nach und nach und legten sich nieder. Die Alte trat vor das Heiligenbild und begann zu beten.

»Zwei Zuchthäuslerinnen haben sich zusammengefunden!« ließ sich plötzlich vom andern Ende der Pritschenreihe die heisere Stimme der Rothaarigen vernehmen, und eine Flut von ausgesucht gemeinen Schimpfworten folgte der Bemerkung.

»Nimm dich in acht, dass du nicht noch was abkriegst,« erwiderte die Korablewa prompt und sparte gleichfalls die Schimpfreden nicht. Beide wurden dann still.

»Wenn sie mich nur nicht festgehalten hätten – ich hätte ihr das Weiße aus den Augen ausgekratzt!« begann die Rote nach einem Weilchen von neuem, und die Korablewa ließ nicht lange mit der Antwort auf sich warten.

Wieder kam eine, diesmal schon längere Pause, und wieder folgten die gegenseitigen Scheltreden. Immer länger und länger wurden die Pausen, bis endlich alles ruhig geworden war.

Alle lagen auf ihren Pritschen, und einige schnarchten schon; nur die Alte, die stets sehr lange zu beten pflegte, machte immer noch ihre Verbeugungen vor dem Heiligenbild, während die Küsterstochter, sobald die Aufseherin sich entfernt hatte, von neuem ihre Wanderung durch die Zelle aufnahm.

Die Maslowa schlief nicht und dachte nur immer daran, dass sie jetzt zu Zwangsarbeit verurteilt, dass sie eine Zuchthäuslerin sei. Zweimal schon war sie so genannt worden, zuerst von der Botschkowa und dann von der Rothaarigen – sie konnte sich gar nicht an den Gedanken gewöhnen.

Die Korablewa, die ihr bisher den Rücken zugekehrt hatte, wandte sich jetzt nach ihr um.

»Nie hätte ich mir das träumen lassen,« sagte die Maslowa leise. »Was haben andere nicht so manchmal begangen, und es ist ihnen nichts passiert! Und ich soll um nichts und wieder nichts leiden!«

»Gräm' dich nicht, Mädel. Auch in Sibirien gibt's Menschen. Auch dort wirst du nicht umkommen,« versuchte die Korablewa sie zu trösten.

»Ich weiss, dass ich nicht umkommen werde, aber es ist doch so kränkend. Ein ganz anderes Schicksal müsst' ich haben, so wie ich ans gute Leben gewöhnt bin!«

»Gegen Gott kannst du nicht streiten,« sagte die Korablewa mit einem Seufzer. »Gegen Ihn kommst du nicht auf.«

»Ich weiss es, Tantchen, aber es fällt einem doch schwer.« Sie schwiegen ein Weilchen.

»Hörst du? Jetzt flennt sie!« sagte die Korablewa zur Maslowa, an deren Ohr vom andern Ende der Pritschenreihe seltsame Laute drangen.

Es war das unterdrückte Schluchzen der Rothaarigen, das zu ihnen drang. Sie weinte, dass man sie ausgescholten und geschlagen und ihr keinen Branntwein gegeben hatte, von dem sie gar so gern getrunken hätte. Sie weinte auch darüber, dass sie ihr ganzes Leben lang nichts kennen gelernt hatte als nur Scheltworte, Spottreden, Beleidigungen und Schläge. Um sich ein klein wenig zu trösten, dachte sie an ihre erste Liebe zu dem Fabrikarbeiter Fedjka Molodenjkow, aber da mußte sie auch gleich daran denken, wie diese Liebe geendet hatte. Sie hatte damit geendet, daß eben dieser Molodenjkow sie in betrunkenem Zustande zum Scherz an der empfindlichsten Körperstelle mit Schwefelsäure begossen und mit den Kameraden laut über sie gelacht hatte, als er sah, wie sie sich vor Schmerzen krümmte und wand. Daran erinnerte sie sich jetzt, und sie fühlte tiefes Mitleid mit sich selbst, und weil sie dachte, daß niemand sie höre, begann sie ganz laut zu weinen, in der Art, wie die Kinder weinen: stöhnend, und mit der Nase schnaubend, und die salzigen Tränen hinunterschluckend.

»Sie kann einem doch leid tun,« sagte die Maslowa.

»Gewiss kann sie das – aber warum fängt sie an?«


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