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26.

Fürstin Sofia Wassiljewna hatte ihr Mittagsmahl beendet, das überaus schmackhaft und zugleich nahrhaft war, und das sie stets allein einzunehmen pflegte, damit niemand sie bei dieser unpoetischen Verrichtung beobachten könnte. Neben ihrem Ruhebett stand ein Tischchen mit Kaffee, und sie rauchte eine kleine Pachitos. Fürstin Sofia Wassiljewna war eine hagere, schlanke Brünette mit großen schwarzen Augen und langen Zähnen, die noch immer die Jugendliche spielte.

Man sagte ihr nach, sie habe ein Verhältnis mit ihrem Arzte. Nechljudow hatte früher auf dieses Geklätsch nichts gegeben, heute jedoch erinnerte er sich nicht nur der umlaufenden Gerüchte, sondern hatte auch, als er den Arzt mit seinem pomadisierten, glänzenden, nach beiden Seiten auseinandergekämmten Barte neben ihrem Sessel sitzen sah, ein Gefühl der Abneigung und des Widerwillens.

Dicht neben Sofia Wassiljewna saß Kolossow auf einem niedrigen, weichen Sessel an dem Kaffeetischchen und mischte seinen Kaffee. Auf dem Tischchen stand ein mit Likör gefülltes Gläschen.

Missi kam mit Nechljudow zu ihrer Mutter, blieb jedoch nicht im Zimmer.

»Wenn Mama müde wird und Sie fortjagt, dann kommen Sie zu mir,« sagte sie zu Nechljudow in einem Tone, als ob nichts zwischen ihnen vorgefallen wäre, und ging mit heiterem Lächeln, unhörbar über den dicken Teppich dahinschreitend, zur Tür hinaus.

»Nun, seien Sie mir willkommen, mein Freund, setzen Sie sich und erzählen Sie,« sagte die Fürstin mit ihrem geschickt geheuchelten Lächeln, das einem echten Lächeln zum Verwechseln ähnlich war. Sie zeigte dabei ihre schönen, langen Zähne, die so geschickt gemacht waren, daß sie fast wie natürliche Zähne aussahen. »Man hat mir erzählt, daß Sie in einer sehr düsteren Stimmung vom Gericht zurückgekommen sind. Ich glaube, dieses Geschworenenamt muß für Leute von Herz und Gemüt recht schwer sein,« fügte sie auf französisch hinzu.

»Ja, das ist wahr,« sagte Nechljudow – »man fühlt nicht selten seine ... fühlt, daß man kein Recht hat, zu richten ...«

»Ja, in der Tat!« rief sie aus, als sei sie im höchsten Maße betroffen durch die Richtigkeit seiner Bemerkung, wie sie ihrem Partner überhaupt stets etwas Schmeichelhaftes zu erwidern wußte.

»Nun, und was macht Ihr Bild? Ich interessiere mich sehr dafür,« fuhr sie fort. »Wenn ich nicht so leidend wäre, hätte ich mich längst zu einem Besuch bei Ihnen angemeldet.«

»Ich habe nicht mehr daran weitergearbeitet,« antwortete Nechljudow trocken. Die Unaufrichtigkeit ihrer Schmeichelei entging ihm heute so wenig wie ihr Alter, das sie mit allen Mitteln der Toilettekunst zu verheimlichen suchte. Er konnte heute gar nicht die rechte Stimmung finden, um den Liebenswürdigen zu spielen.

»Das war sehr unrecht! Denken Sie sich, daß Rjepin Berühmter russischer Maler. selbst mir gesagt hat, er habe entschieden Talent,« sagte sie zu Kolossow mit einem Kopfnicken nach Nechljudow.

»Daß sie sich nicht schämt, so zu lügen!« dachte Nechljudow stirnrunzelnd.

Als sie die Überzeugung gewonnen hatte, daß Nechljudow nicht bei Laune und keine vernünftige Antwort aus ihm herauszubekommen sei, wandte sich Sofia Wassiljewna an Kolossow mit der Frage, welche Meinung er über das neueste Drama habe, und zwar in einem Tone, als sei die Meinung Kolossows geeignet, alle Zweifel betreffs dieses Dramas zu beseitigen, und als verdiene jedes Wort, das er über dieses Thema sagte, verewigt zu werden. Kolossow tadelte das Drama und äußerte bei dieser Gelegenheit seine Ansichten über die Kunst im allgemeinen. Fürstin Sofia Wassiljewna war durch die Richtigkeit seines Urteils im höchsten Maße frappiert – sie versuchte zwar, den Verfasser des Dramas zu verteidigen, doch erklärte sie sich schließlich für besiegt. Nechljudow sah und hörte wohl zu, doch beschäftigten ihn ganz andere Dinge.

Wenn er so hörte, was Sofia Wassiljewna und Kolossow miteinander sprachen, dann hatte er den Eindruck, daß sie beide nicht das geringste Interesse an dem Drama oder aneinander hatten, und daß, wenn sie jetzt redeten, es einzig darum geschah, weil sie das physiologische Bedürfnis, nach dem Essen die Zungen- und Kehlkopfmuskel zu bewegen, befriedigen wollten. Er sah auch, daß Kolossow, der Branntwein, Wein und Likör getrunken hatte, ein wenig berauscht war, nicht so stark, wie die Bauern es zu sein pflegen, die nur selten trinken, sondern so, wie jene Leute es zumeist sind, denen das Weintrinken zur Gewohnheit geworden ist. Er schwankte nicht, redete auch keine Dummheiten, war jedoch in einem nicht normalen, aufgeregt-selbstzufriedenen Zustande. Endlich sah Nechljudow, daß die Fürstin Sofia Wassiljewna mitten im Gespräch unruhig nach dem Fenster blickte, durch das gerade auf sie ein Sonnenstrahl schräg einfiel, dessen greller Schein nur zu leicht ihre Jahre verraten konnte.

»Wie richtig bemerkt!« sagte sie mit Bezug auf irgendeine Äußerung Kolossows und drückte auf den neben ihrem Ruhebett in der Wand befindlichen Klingelknopf.

In diesem Augenblick erhob sich der Doktor und ging, ohne ein Wort zu sagen, wie jemand, der ständig im Hause verkehrt, aus dem Zimmer. Sofia Wassiljewna folgte ihm mit den Augen, während sie das Gespräch fortsetzte.

»Bitte, lassen Sie doch die Gardine da herunter,« sagte sie, mit den Augen nach der Fenstergardine winkend, als auf ihr Klingeln der schöne Lakai hereinkam.

»Nein, was Sie auch sagen mögen, es ist in ihm etwas Mystisches, und ohne dieses Mystische gibt es keine Poesie,« sagte sie, mit dem einen schwarzen Auge unwillig die Bewegungen des Lakaien verfolgend, der die Gardine herunterließ.

»Mystizismus ohne Poesie ist Aberglaube, und Poesie ohne Mystizismus ist Prosa,« fuhr sie schwermütig lächelnd fort und verwandte keinen Blick von dem Lakaien, der sich immer noch mit der Gardine zu schaffen machte.

»Nicht diese Gardine, Filipp: die am großen Fenster mein' ich,« sagte Sofia Wassiljewna mit der Miene einer Märtyrerin. Sie bedauerte offenbar sich selbst um der Anstrengung willen, die es sie gekostet hatte, diese Worte auszusprechen, und um sich zu beruhigen, führte sie gleich darauf die ringgeschmückte Hand mit der duftenden Pachitos zum Munde.

Der breitschultrige, muskulöse Adonis Filipp verneigte sich leicht, als wollte er sich entschuldigen, schritt mit seinen kräftigen Beinen, an denen die Waden prall hervortraten, leicht über den Teppich, trat in schweigendem Gehorsam an das andere Fenster und begann dort, während er dienstfertig die Fürstin anblickte, die Gardine so anzuordnen, daß nicht ein Strahl es mehr wagen konnte, auf sie zu fallen. Doch auch diesmal hatte er es ihr nicht recht gemacht, und wiederum mußte die arme, geplagte Sofia Wassiljewna ihre Rede über den Mystizismus unterbrechen und den begriffsstutzigen Filipp, der sie so rücksichtslos beunruhigte, zurechtweisen. Für einen Augenblick zuckte in Filipps Augen ein Flämmchen auf.

»Der Teufel soll daraus klug werden, was du willst – so denkt er jedenfalls im stillen,« sagte sich Nechljudow, der dieses ganze Spiel beobachtet hatte. Doch der athletenhafte Adonis Filipp unterdrückte sogleich wieder die aufbegehrende Ungeduld und tat ruhig, was die ausgemergelte, kraftlose, künstlich ausstaffierte Fürstin Sofia Wassiljewna ihm befahl.

»Gewiß, es steckt ein ganzes Teil Wahrheit in der Lehre Darwins,« bemerkte Kolossow, sich in seinem niedrigen Sessel zurücklehnend und mit den verschlafenen Augen die Fürstin Sofia Wassiljewna anschauend – »aber er geht entschieden viel zu weit.«

»Und Sie – glauben Sie an die Vererbung?« fragte die Fürstin Nechljudow, dessen Schweigen ihr lästig zu werden begann.

»An die Vererbung?« versetzte Nechljudow. »Nein, an die glaube ich nicht,« sagte er, ganz von den seltsamen Bildern in Anspruch genommen, die vor seiner Seele aufgetaucht waren. Neben dem kraftvollen, schönen Filipp, den er sich als Künstlermodell vorstellte, sah er da den behäbigen Kolossow in seiner vollen Nacktheit, mit dem melonenartigen Bauche, der großen Glatze und den muskellosen Armen, die an eine Peitsche erinnerten. Auch die jetzt mit Seide und Spitzen bedeckten Schultern der Fürstin tauchten ohne diese Bekleidung unklar in seiner Vorstellung auf – aber diese Vorstellung war denn doch gar zu entsetzlich, und er bemühte sich, sie so rasch wie möglich zu bannen.

Sofia Wassiljewna maß ihn mit ihren Blicken.

»Nun, Missi erwartet Sie,« sagte sie. »Gehen Sie zu ihr, sie wollte Ihnen irgend etwas Neues von Schumann vorspielen ... Sehr interessant!«

»Nichts wollte sie mir vorspielen, immerfort muß sie lügen!« dachte Nechljudow bei sich, erhob sich und drückte die ringgeschmückte, durchsichtige, knochige Hand Sofia Wassiljewnas.

Im Vorzimmer begegnete ihm Jekaterina Alexejewna und begann sogleich auf ihn loszureden:

»Ich sehe, daß die Pflichten eines Geschworenen auf Sie doch recht niederdrückend wirken,« sagte die Slawophilin, wie immer auf französisch.

»Ja, verzeihen Sie, ich bin heute nicht bei Laune und möchte den andern die Stimmung nicht verderben,« antwortete Nechljudow, seinen Hut suchend.

»Warum sind Sie nicht bei Laune?«

»Gestatten Sie mir, darüber zu schweigen,« sagte er.

»Aber wissen Sie nicht mehr, wie Sie selbst einmal sagten, man müsse immer bei der Wahrheit bleiben, und wie Sie damals uns allen so schreckliche Wahrheiten sagten? Warum wollen Sie nun nicht reden? Erinnerst du dich noch, Missi?« wandte sich Jekaterina Alexejewna zu Missi, die eben ins Zimmer trat.

»Das war doch nur im Spiel,« antwortete Nechljudow ernst. »Im Spiel kann man so etwas tun, in der Wirklichkeit aber sind wir so schlecht – das heißt: ich bin so schlecht, daß ich wenigstens die Wahrheit nicht sage.«

»Verbessern Sie sich nicht, sagen Sie lieber, worin wir denn so schlecht sind!« sagte Jekaterina Alexejewna, die sich im Spiel mit Worten gefiel und Nechljudows Ernst nicht zu bemerken schien.

»Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn man bekennen muß, daß man nicht bei Laune ist,« meinte Missi. »Ich gestehe mir das nie ein, und darum bin ich auch stets bei Laune. Nun, kommen Sie mit in mein Zimmer, wir wollen uns bemühen, Ihren schlechten Humor zu zerstreuen.«

Nechljudow hatte die Empfindung, die ein Pferd haben mag, wenn man es streichelt, um ihm den Zaum anzulegen und es vor den Wagen zu spannen. Er hatte jedoch heute weniger denn je die Neigung, das Zugtier zu spielen. Er entschuldigte sich, er müsse nach Hause, und begann sich zu verabschieden. Missi hielt seine Hand länger als sonst fest.

»Vergessen Sie nicht, daß alles, was für Sie von Wichtigkeit ist, es auch für Ihre Freunde ist,« sagte sie. »Werden Sie morgen kommen?«

»Kaum,« sagte Nechljudow und errötete vor Scham – ob um seiner selbst oder um ihretwillen, wußte er nicht zu sagen. Dann ging er rasch hinaus.

»Was ist das? Er gibt uns Rätsel auf!« sagte Jekaterina Alexejewna, als Nechljudow hinausgegangen war. »Doch ich werde es schon herausbekommen. Irgendeine Ehrensache wohl: er ist sehr empfindlich, unser guter Mitja.«

»Es scheint mir vielmehr eine Hetärensache,« wollte Missi sagen, die jetzt mit erloschenem Blick und mit ganz anderer Miene dreinschaute, als jene war, mit der sie vorher Nechljudow angesehen hatte. Sie hatte es vorgezogen, das Wortspiel, das gegen den guten Ton verstoßen hätte, für sich zu behalten und sagte nur:

»Es hat eben jeder von uns seine guten und seine schlechten Tage.«

»Ob auch der mich hinters Licht führen wird?« dachte sie. »Nach allem, was gewesen, wäre das sehr schlecht von ihm.«

Wenn Missi hätte erklären sollen, was sie mit den Worten »nach allem, was gewesen« sagen wollte, dann hätte sie durchaus nichts Bestimmtes sagen können; gleichwohl hatte sie die deutliche Empfindung, daß er nicht nur Hoffnungen in ihr erregt, sondern ihr fast ein Versprechen gegeben hatte. Freilich waren es keine bestimmten Worte gewesen, sondern nur Blicke und Anspielungen, ein häufiges Lächeln, ein Verschweigen. Aber sie betrachtete ihn gleichwohl als den Ihrigen, und es wäre ihr sehr schwer gefallen, ihn zu verlieren.


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