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Dieser Raum war ebenso wie das Besuchszimmer der männlichen Gefangenen in drei Abteilungen geteilt, doch war er weit kleiner als dieser, und es waren auch weniger Besucher und Gefangene darin; das Geschrei und Getöse darin war jedoch nicht geringer als in dem Zimmer der Männer. Auch hier schritt, wie drüben, die hohe Obrigkeit zwischen den beiden Netzen auf und ab. Sie war hier durch die Person einer Aufseherin vertreten, die eine Uniform mit Tressen an den Ärmeln, blauen Vorstößen und einem ebensolchen Gürtel trug, wie ihn die Aufseher hatten. Wie in dem männlichen Besuchszimmer, so preßten auch hier die Menschen in den beiden abgeteilten Räumen ihre Gesichter gegen die Drahtnetze: auf der einen Seite sah man die Besucher in ihrer mannigfaltigen bürgerlichen Kleidung, auf der andern Seite die Gefangenen, die einen in der weißen Gefängnistracht, die andern in eigenen Kleidern. Beide Netze waren von Menschen besetzt. Die einen stellten sich auf die Fußspitzen, um über die Köpfe der andern hinweg gehört zu werden, andere saßen auf dem Fußboden und sprachen so miteinander.
Am meisten fiel unter den weiblichen Gefangenen infolge ihres lauten Schreiens wie infolge ihres Aussehens eine zerlumpte, magere Zigeunerin auf, der das Kopftuch von dem krausen Haar herabgeglitten war. Sie stand neben einem Pfeiler inmitten des für die Gefangenen bestimmten Raumes und schrie unter lebhaften Gesten einem Zigeuner im blauen Rocke irgendetwas zu. Neben dem Zigeuner hockte auf dem Fußboden ein Soldat, der mit einer Arrestantin sprach, ferner stand da, das Gesicht an das Drahtnetz pressend, ein junger Bauer in Bastschuhen, mit hellblondem, kurzem Kinnbart und gerötetem Gesichte, der offenbar nur mit Mühe die Tränen zurückhielt. Eine anmutige blonde Arrestantin mit leuchtenden blauen Augen sah ihn von drüben an und unterhielt sich mit ihm. Es war Fedoßja, und der Mann mit dem Kinnbart war ihr Gatte. Neben ihnen stand ein zerlumpter Mensch, der mit einer zerzausten Frau mit breitem Gesichte sprach; dann folgten zwei Frauen, dann ein Mann und wieder eine Frau, und jeder Person stand eine Arrestantin gegenüber. Die Maslowa war nicht mit darunter.
Hinter den Arrestantinnen aber, auf der andern Seite, stand noch eine Frau, und Nechljudow begriff sogleich, daß sie es war. Er fühlte, daß sein Herz plötzlich heftiger schlug, und daß sein Atem stockte. Der entscheidende Augenblick war da. Er trat an das Drahtnetz heran und erkannte Katjuscha. Sie stand hinter der blauäugigen Fedoßja und hörte lächelnd an, was diese sprach. Sie trug nicht den Schlafrock, den sie während der Verhandlung angehabt hatte, sondern eine Jacke, die durch einen Gürtel dicht zusammengehalten wurde und ihre Büste hervortreten ließ. Unter dem Kopftuch quoll, wie im Gesicht, das krause schwarze Haar hervor.
»Jetzt wird es sich gleich entscheiden,« dachte er. »Wie soll ich sie nur anrufen? Doch vielleicht kommt sie von selbst heran.«
Aber sie kam nicht heran. Sie erwartete ihre Freundin Klara und hatte keine Ahnung davon, daß dieser Mann da zu ihr wollte.
»Wen wollen Sie sprechen?« fragte die zwischen den beiden Netzen auf und ab schreitende Aufseherin, indem sie an Nechljudow herantrat.
»Die Katerina Maslowa,« brachte Nechljudow nur mit Mühe hervor.
»Maslowa, hierher – es will dich jemand sprechen!« schrie die Aufseherin.
Die Maslowa sah sich um, warf den Kopf empor und kam, die Brust vorschiebend, mit dem ihm bekannten Ausdrucke der Bereitwilligkeit an das Netz heran, wobei sie sich zwischen zwei anderen Gefangenen hindurchzwängen mußte. Verwundert und fragend zugleich sah sie Nechljudow an, den sie nicht erkannte. Nach der Kleidung jedoch sah sie, daß sie es mit einem Manne aus wohlhabenden Kreisen zu tun hatte, und sie lächelte.
»Was ist Ihnen gefällig?« fragte sie, ihr lächelndes Gesicht mit den ein wenig schielenden Augen dem Drahtnetz nähernd.
»Ich wollte ...« Nechljudow wußte nicht, ob er sie mit »Du« oder mit »Sie« anreden sollte, und er entschied sich für das letztere. Lauter als vorher begann er nochmals: »Ich wollte Sie sehen ... ich ...«
»Mach' keine Redensarten,« schrie ein zerlumpter Mensch neben ihm eine Gefangene an – »sag' einfach: hast du es genommen oder nicht?«
»Sie ist so schwach, sie wird sicher sterben,« rief eine laute Stimme auf der andern Seite.
Die Maslowa konnte nicht verstehen, was Nechljudow sprach, aber der Ausdruck, den sein Gesicht zeigte, als er sie anredete, weckte plötzlich in ihr die Erinnerung an das, woran sie nicht erinnert sein wollte. Das Lächeln verschwand aus ihren Zügen, und auf ihrer Stirn bildete sich eine Falte, die von tiefem Leid sprach.
»Man hört hier nicht, was Sie sagen,« schrie sie, mit den Augen blinzelnd, während ihre Stirn sich mehr und mehr runzelte.
»Ich bin gekommen ...« Er stockte in seiner Rede.
»Ja, ja, ich handle, wie ich muß!« dachte Nechljudow, sich selbst ermutigend.
Und kaum war ihm dieser Gedanke durch den Kopf gegangen, als die Tränen in seine Augen traten und ihm die Kehle zuschnürten. Seine Finger klammerten sich an dem Drahtnetz fest, und er mußte schweigen und sich mit Gewalt beherrschen, um nicht laut aufzuschluchzen.
»Wenn sie gesund wäre, hätte ich's nicht getan,« schrie jemand zu seiner Rechten.
»Glaube mir, bei Gott: ich weiß nicht das geringste,« schrie eine Gefangene von links herüber.
Die Maslowa sah seine heftige Erregung, die sich ihr sogleich mitteilte: ihre Augen flammten, und rote Flecke traten auf ihre weißen, vollen Wangen; ihre Miene jedoch blieb streng, und ihre schielenden Augen blickten unverwandt nach ihm hin.
»Ähnlichkeit ist da, aber ich kenne Sie nicht!« schrie sie.
»Ich bin gekommen, um dich um Verzeihung zu bitten,« schrie er laut hinüber, ohne Intonation, als hätte er die Worte auswendig gelernt.
Als er diese Worte hinübergerufen hatte, empfand er ein Gefühl von Scham, und er sah sich um. Doch sogleich kam ihm der Gedanke, daß, wenn dieses Gefühl in ihm erwachte, das für ihn nur erfreulich sein konnte, weil es doch eben nur die Folge seines beschämenden Tuns war. Und er fuhr fort, laut hinüberzurufen:
»Ich habe schlecht und schändlich an dir gehandelt, verzeih mir!«
Sie stand unbeweglich und wandte den schielenden Blick nicht von ihm ab.
Er konnte nicht weitersprechen und trat von dem Netze hinweg, immer noch das aufsteigende Schluchzen in sich niederkämpfend.
Der Hilfsinspektor, der Nechljudow in die Frauenabteilung gewiesen hatte, war eben selbst in den Sprechsaal der Frauen eingetreten. Er nahm offenbar Anteil an Nechljudow, und als er sah, daß dieser nicht an dem Netze stand, fragte er ihn, warum er denn mit der Gefangenen, nach der er gefragt, nicht spreche. Nechljudow schneuzte sich, raffte sich zusammen und sagte so ruhig, wie er konnte:
»Ich kann durch das Netz nicht sprechen, man hört nichts.«
Der Inspektor dachte einen Augenblick nach.
»Nun, sie kann für eine Weile hierher kommen. Maria Karlowna!« wandte er sich an die Aufseherin – »führen Sie die Maslowa heraus!«