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Diese Frühmesse blieb Nechljudow fürs ganze Leben eine der freudigsten und stärksten Erinnerungen.
Im tiefschwarzen Nachtdunkel, das nur da und dort vom weißschimmernden Schnee erhellt wurde, kam er, durchs Wasser platschend, auf seinem Hengste, der beim Anblick der vielen um die Kirche herum brennenden Festlampen die Ohren spitzte, auf dem Kirchhof an. Der Gottesdienst hatte schon begonnen. Die Bauern erkannten den Neffen Maria Iwanownas, führten ihn nach einem trockenen Plätzchen, wo er absteigen konnte, nahmen sein Pferd in Empfang, banden es an und geleiteten ihn selbst in die Kirche, die von festlich gekleidetem Volk angefüllt war.
Auf der rechten Seite standen die Bauern: die alten im langen, zu Hause angefertigten Kaftan, in Bastschuhen und sauberen weißen Fußlappen, und die jungen in neuen Tuchröcken, mit bunten Leibbinden umgürtet, in hohen Stiefeln. Links standen die Frauen in roten Seidentüchern und Plüschkamisolen mit grellroten Ärmeln, in blauen, grünen oder roten Röcken und Stiefeletten, deren Absätze mit Eisen beschlagen waren. Die alten Mütterchen in ihren weißen Tüchern und grauen Kaftanen, in altertümlichen Wollröcken und groben Lederschuhen oder neuen Bastschuhen, standen bescheiden hinter ihnen. Dazwischen standen die Kinder in festlichen Kleidern, das Haar mit Butter eingefettet. Die Bauern bekreuzten und verneigten sich, das Haar in den Nacken werfend; die Frauen, besonders die alten, hielten die matten Augen auf das eine Heiligenbild, vor dem die Lichter aufgestellt wurden, gerichtet, führten dabei die geschlossenen Finger der Rechten gegen die Stirn, die Schultern und den Magen und neigten sich flüsternd vor oder fielen auf die Knie nieder. Die Kinder beteten, den Großen nachahmend, mit vielem Eifer, sobald man sie ansah. Die goldgeschmückte Heiligenwand strahlte im Glanze der Lichter, die von allen Seiten die riesigen, goldumwundenen Kerzen umgaben. Der Kronleuchter war mit Kerzen besetzt, und vom Chor ließ sich der freudige Ostergesang der Sänger mit den dröhnenden Bässen und den hohen Diskantstimmen vernehmen.
Nechljudow ging durch die Menge hindurch nach vom. Dort stand die Aristokratie der Gegend: ein Gutsbesitzer mit seiner Gemahlin und seinem Sohne, der eine Matrosenjacke trug, der Bezirkskommissar, der Telegraphist, der Krämer in seinen groben Schaftstiefeln, der Dorfälteste mit der Medaille auf der Brust, und weiter rechts von der Lesekanzel, hinter der Gutsbesitzersfrau, stand Matrona Pawlowna in einem schillernden lila Kleide und einem weiß eingesäumten Schal, und Katjuscha im weißen Kleide, mit gefältelter Taille, einem blauen Gürtel und einer roten Schleife in dem schwarzen Haar.
Alles war feierlich, heiter und schön: der Priester in seinem silberglänzenden, mit goldenen Kreuzen verzierten Meßkleide, und der Diakon und Küster in den feiertäglichen, silber- und goldgestickten Gewändern, und die festlich geputzten Sänger mit dem eingefetteten Haar, und die freudig klingenden Ostersänge, und der Ostersegen, den der Priester immer wieder mit den blumengeschmückten Kerzen auf dem dreiarmigen Leuchter dem Volke spendete, und dazu die immer von neuem wiederholten Rufe: »Christ ist erstanden! Christ ist erstanden!« Alles das war so schön, das Schönste aber von allem war Katjuscha in dem weißen Kleide und dem blauen Gürtel, mit der roten Schleife im schwarzen Haar und den begeistert strahlenden Augen.
Nechljudow fühlte, daß sie ihn sah, obschon sie sich nicht nach ihm umschaute. Er hatte das gefühlt, als er, ganz dicht an ihr vorüber, nach dem Altar ging. Er hatte ihr nichts weiter zu sagen, hatte sich jedoch etwas ausgedacht und flüsterte ihr, während er an ihr vorüberschritt, leise zu:
»Tantchen sagte, nach dem Hochamt würde die erste Fleischschüssel Nach der langen Fastenzeit gereicht werden.«
Das junge Blut schoß ihr, wie immer, wenn sie ihn sah, in das anmutige Gesicht, und die lachenden schwarzen Augen blieben, in naiver Freude zu ihm aufblickend, auf seinem Gesichte haften.
»Ich weiß es,« sagte sie lächelnd.
In diesem Augenblick ging der Küster, der sich mit einer kupfernen Kanne durch die Menge drängte, an Katjuscha vorüber und streifte sie, ohne sie anzusehen, mit dem Schoße seines Gewands; er hatte offenbar nichts Böses im Sinne gehabt, sondern wollte nur respektvoll um Nechljudow herumgehen. Nechljudow aber war aufs höchste erstaunt, daß er, dieser Küster, nicht begriff, daß alles, was hier in der Kirche, und überhaupt in der ganzen Welt existierte, nur um Katjuschas willen existierte, und daß alles andere in der Welt geringschätzig behandelt werden könnte, nur nicht sie, die das Zentrum, der Schwerpunkt von allem war. Für sie nur glänzte das Gold der Heiligenwand, brannten alle diese Kerzen an dem Kronleuchter und auf den Standleuchtern, für sie allein klangen diese jauchzenden Weisen: »Ostern ist da, freut euch, ihr Menschenkinder!« Kurz: alles, was es nur irgend Gutes und Schönes in der Welt gab, alles war für sie da. Und Katjuscha begriff es auch, daß alles das nur für sie da war: es schien Nechljudow wenigstens so, als er ihre graziöse Gestalt in dem gefältelten Mieder und ihr in heller Freude erstrahlendes Gesicht sah, dessen Ausdruck ihm zu sagen schien, daß dieselbe Melodie, die in seiner Seele erklang, auch in der ihrigen klinge.
In der Zeit zwischen der Frühmesse und dem Hochamt hatte Nechljudow sich aus der Kirche hinausbegeben. Das Volk machte ihm Platz und grüßte ihn. Etliche erkannten ihn, andere fragten: »Wer ist denn das?« In der Vorhalle blieb er stehen. Die Bettler umringten ihn – er verteilte alles, was er an kleinen Münzen in der Börse hatte, und stieg die Stufen der Treppe hinunter.
Es war schon soweit hell geworden, daß man sehen konnte, doch war die Sonne noch nicht aufgegangen. Das Volk saß auf den Grabhügeln rings um die Kirche. Katjuscha war noch in der Kirche geblieben, und Nechljudow stand da und erwartete sie.
Immer noch kamen Leute aus der Kirche – mit den Nägeln der Stiefel laut auf die Steinfliesen aufklopfend, schritten sie die Stufen hinab und zerstreuten sich auf dem Platze vor der Kirche und auf dem Friedhof.
Ein uraltes Männchen mit wackelndem Kopfe, der Konditor von Maria Iwanowna, hielt Nechljudow an und gab ihm den Osterkuß, und seine Frau, ein altes Mütterchen mit runzligem Halse unter dem seidenen Kopftuch, nahm ein mit Safran gefärbtes Ei aus dem Tuche und reichte es ihm. Im selben Augenblick kam auch ein kräftiger junger Bauer in einem neuen Wams mit grüner Gurtbinde lächelnd auf ihn zu.
»Christ ist erstanden!« sagte er, während seine Augen lachten. Jener besondere, angenehme Geruch, der den Bauern eigen zu sein pflegt, strahlte von ihm aus; er trat ganz dicht an Nechljudow heran und küßte ihn dreimal mit seinen frischen, vollen Lippen mitten auf den Mund, wobei sein krauses Bärtchen Nechljudow kitzelte. In dem Augenblick, als Nechljudow mit dem jungen Bauern den Osterkuß tauschte und von ihm ein dunkelbraun gefärbtes Ei entgegennahm, erschien Matrona Pawlownas schillerndes Kleid und ein liebes schwarzes Köpfchen mit roter Schleife in der Vorhalle der Kirche. Sie hatte ihn sogleich über die Köpfe der vor ihr Herschreitenden hinweg erblickt, und er konnte sehen, wie ihr Gesicht erstrahlte.
Sie stand eine Weile mit Matrona Pawlowna in der Vorhalle und verteilte Almosen unter die Bettler. Ein Bettler, der an Stelle der Nase ein vernarbtes rotes Geschwür hatte, trat an Katjuscha heran. Sie nahm etwas aus dem Tuche und reichte es ihm, dann näherte sie sich ihm, und ohne den geringsten Widerwillen zu zeigen, küßte sie ihn dreimal mit freudig strahlenden Augen. Und in dem Augenblick, als sie den Bettler küßte, begegneten ihre Augen dem Blicke Nechljudows. Es war, als wollte sie fragen: »Ist es recht, was ich da tue?« – »Ja, ja, du Liebe, alles ist recht, alles ist schön, ich liebe dich!«
Sie kamen die Treppe herab, und er ging zu ihr hin. Er wollte nicht den Osterkuß mit ihr tauschen, sondern ihr nur näher sein.
»Christ ist erstanden!« sagte Matrona Pawlowna, neigte den Kopf und lächelte. Sie sagte es in einem Tone, der da ausdrückte, daß heute alle gleich seien, und nachdem sie sich den Mund mit dem zu einem Mäuschen zusammengewickelten Tuche abgewischt hatte, hielt sie ihm die Lippen hin.
»Er ist in Wahrheit erstanden!« antwortete Nechljudow und küßte sie.
Er sah sich nach Katjuscha um. Sie wurde feuerrot und näherte sich ihm in demselben Augenblick.
»Christ ist erstanden, Dmitrij Iwanowitsch!«
»Er ist in Wahrheit erstanden!« sagte er. Sie küßten sich zweimal und schienen dann zu überlegen, ob sie sich noch einmal küssen sollten, und als hätten sie sich dafür entschieden, daß es geschehen müsse, küßten sie sich zum drittenmal und lächelten beide.
»Kommen Sie nicht mit zum Geistlichen?« fragte Nechljudow.
»Nein, wir bleiben noch ein Weilchen hier, Dmitrij Iwanowitsch,« sagte Katjuscha, die wie nach einer freudig getanen Arbeit aus voller Brust aufatmete und ihm dabei mit ihren treuen, jungfräulichen, liebenden, kaum merklich schielenden Augen gerade in die Augen sah.
Es gibt in der Liebe zwischen Mann und Frau stets einen Augenblick, in dem diese Liebe ihren Zenit erreicht und nichts Bewußtes, Verstandesmäßiges noch auch Sinnliches hat. Ein solcher Augenblick war für Nechljudow in dieser heiligen Nacht der Auferstehung Christi gekommen. Wenn er jetzt an Katjuscha dachte, so sah er sie nur so, wie sie in jenem Augenblick gewesen – alle andern Lagen, in denen er sie gesehen, traten in den Hintergrund. Er sah das glänzendschwarze Köpfchen, das weiße Kleid mit den Fältchen, das ihre mädchenhaft schlanke Taille und ihre zarte Brust umhüllte, sah das Rot ihrer Wangen, die sanften, mattglänzenden schwarzen Augen, und vor allem die in ihrem ganzen Wesen ausgeprägten zwei Hauptzüge: die Keuschheit ihrer jungfräulichen Liebe nicht nur zu ihm – von der wußte er schon lange – sondern ihrer Liebe zu allen und allem, nicht nur zu allem Guten und Schönen, das es irgend in der Welt gibt, sondern auch zu jenem Bettler, den sie geküßt hatte.
Er wußte, daß diese Liebe in ihr war, weil er während dieser Nacht und dieses Morgens auch in sich selbst das gleiche Gefühl empfand und sich bewußt war, daß er in dieser Liebe mit ihr in eins zusammenschmolz.
Ach, wenn doch alles dies bei dem Gefühl, das ihn in jener Nacht beseelte, stehen geblieben wäre! »Ja, dieses Furchtbare, Entsetzliche geschah nach jener heiligen Nacht der Auferstehung Christi!« dachte er jetzt, als er am Fenster des Geschworenenzimmers saß.