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35.

Unmittelbar vom Staatsanwalt begab sich Nechljudow nach dem Untersuchungsgefängnis. Es stellte sich jedoch heraus, daß es dort keine Maslowa gab, und der Inspektor erklärte Nechljudow, daß sie vermutlich in dem alten Gefängnis, in dem die zur Verschickung Verurteilten saßen, untergebracht sei. Der Staatsanwalt hatte übersehen, daß das Untersuchungsgefängnis wenige Monate vorher ganz mit Studenten, Arbeitern, Studentinnen usw. besetzt worden war, die in einen politischen Prozeß verwickelt waren. Nechljudow begab sich nun nach dem alten Gefängnis, und dort fand er in der Tat die Katerina Maslowa vor.

Die Entfernung vom Untersuchungsgefängnis bis zum Gefängnis der zur Verschickung Verurteilten war sehr beträchtlich, und Nechljudow kam erst gegen Abend an Ort und Stelle an. Er wollte sich der Tür des mächtigen, finsteren Gebäudes nähern, aber der Posten vor dem Gebäude ließ ihn nicht hinein, sondern zog nur die Klingel. Auf das Läuten kam ein Aufseher heraus. Nechljudow zeigte seinen Passierschein, doch der Aufseher erklärte, daß er ohne Erlaubnis des Inspektors ihn nicht einlassen dürfe. Nechljudow begab sich nun zum Inspektor. Als er die Treppe hinaufstieg, vernahm er durch die Tür die Töne eines schwierigen Bravourstückes, das jemand auf dem Klavier spielte. Als dann ein Stubenmädchen mit verbundenem Auge ihm ärgerlich die Tür öffnete, strömten diese Töne gleichsam mit Gewalt aus dem Zimmer und schlugen schrill an sein Ohr. Es war die Rhapsodie von Liszt, die er schon zum Überdruß oft gehört hatte; sie wurde gut gespielt, doch immer nur bis zu einer bestimmten Stelle. Sobald das Spiel diese Stelle erreicht hatte, wiederholte sich dieselbe Passage. Nechljudow fragte das Mädchen mit dem verbundenen Auge, ob der Inspektor zu Hause sei.

»Nein, er ist nicht zu Hause,« erklärte das Mädchen.

»Wann wird er nach Hause kommen?«

Die Rhapsodie kam wieder ins Stocken und wiederholte sich dann von neuem mit Verve und Kraft bis zu der verhexten Stelle.

»Ich will mal fragen,« sagte das Stubenmädchen und entfernte sich.

Die Rhapsodie, die eben wieder in Gang gekommen war, wurde plötzlich abgebrochen, ehe die verhexte Stelle erreicht war, und eine Stimme ließ sich vernehmen:

»Sag' ihm, er sei nicht da und werde heute nicht mehr kommen. Er ist eingeladen – was für eine Zudringlichkeit!« ließ eine weibliche Stimme hinter der Tür sich vernehmen. Und von neuem ertönte die Rhapsodie, wurde jedoch sogleich wieder abgebrochen, und man vernahm das Geräusch eines fortgerückten Stuhles. Die erzürnte Pianistin wollte offenbar dem außer der Zeit erschienenen zudringlichen Besucher selbst den Kopf waschen.

»Papa ist nicht zu Hause,« sagte ärgerlich ein blasses junges Mädchen von kränklichem Aussehen, mit hochgekämmtem Haar und dunklen Schatten um die traurig blickenden Augen. Als sie einen jüngeren Herrn in elegantem Paletot erblickte, wurde sie weicher gestimmt. »Treten Sie, bitte, näher ... Was wünschen Sie?«

»Ich möchte eine Gefangene sprechen.«

»Wohl eine politische?«

»Nein, keine politische. Ich habe die Erlaubnis vom Staatsanwalt.«

»Nun, ich weiß nicht ... Papa ist nicht da. Aber bitte, treten Sie doch ein,« sagte sie, ihn zum Eintreten in das kleine Vorzimmer auffordernd. »Vielleicht wenden Sie sich an den Hilfsinspektor, er ist jetzt im Bureau, sprechen Sie mit ihm. Wie ist Ihr Name?«

»Ich danke Ihnen,« sagte Nechljudow, ohne ihre Frage zu beantworten, und ging hinaus.

Kaum war die Tür hinter ihm geschlossen, als sogleich wieder die flotte, fröhliche Weise erklang, die so gar nicht zu der Örtlichkeit paßte, in der sie vorgetragen wurde, noch auch zu dem Gesichte des kränklich aussehenden Mädchens, das sie mit solcher Hartnäckigkeit immer von neuem wiederholte. Auf dem Hofe begegnete Nechljudow einem jungen Offizier mit spitzgedrehtem, gewichstem Schnurrbart, und er erkundigte sich bei ihm nach dem Hilfsinspektor. Der Gefragte war selbst dieser Hilfsinspektor. Er nahm den Passierschein in Empfang, las ihn durch und sagte, daß der Schein nur für das Untersuchungsgefängnis ausgestellt sei und er nicht wisse, ob er ihm auch hier Zutritt gewähren dürfe. Es sei übrigens schon spät, und er solle morgen wiederkommen.

»Morgen um zehn Uhr ist allen der Zutritt gestattet; kommen Sie um diese Zeit, dann wird auch der Inspektor da sein. Sie können dann die Gefangene im Sprechzimmer oder, wenn der Inspektor es gestattet, auch im Bureau sprechen.«

Nechljudow begab sich nach Hause, ohne an diesem Tage noch ans Ziel gekommen zu sein. Aufs lebhafteste mit dem Gedanken des Wiedersehens beschäftigt, durchschritt er die Straßen und dachte nicht mehr an die Szenen im Gericht, sondern nur an seine Gespräche mit dem Staatsanwalt und den Gefängnisbeamten. Die Tatsache, daß er sie zu sehen versucht, daß er seine Absicht dem Staatsanwalt mitgeteilt hatte und in zwei Gefängnissen gewesen war, um sie zu sehen, hatte ihn so erregt, daß er sich lange nicht beruhigen konnte. Sobald er nach Hause gekommen, nahm er sogleich seine lange nicht mehr berührten Tagebücher heraus, las einige Stellen darin und schrieb folgendes nieder: »Zwei Jahre lang habe ich kein Tagebuch mehr geführt und glaubte schon, ich würde diese Kinderei nie wieder aufnehmen. Doch es war keine Kinderei, es war eine Unterhaltung mit mir selbst, mit jenem wahren, göttlichen Ich, das in jedem Menschen wohnt. Die ganze Zeit über hat dieses Ich geschlafen, und ich hatte niemand, mit dem ich mich unterhalten konnte. Es wurde wieder geweckt durch das ungewöhnliche Ereignis vom 28. April, im Gericht, wo ich Geschworener war. Auf der Anklagebank erblickte ich sie, meine Katjuscha, die ich verführt habe, im Arrestantenrock. Infolge eines sonderbaren Mißverständnisses und eines Irrtums von meiner Seite wurde sie zu Zwangsarbeit verurteilt. Ich war soeben beim Staatsanwalt und im Gefängnis. Man hat mich nicht zu ihr gelassen, doch bin ich entschlossen, alles daranzusetzen, um sie zu sehen, um ihre Verzeihung zu erbitten und meine Schuld wieder gutzumachen, sei es auch durch eine Heirat. Hilf mir, o Herr! Mir ist so wohl, so freudig ums Herz.«


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