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45.

Der Aufseher, der die Maslowa hereingeführt hatte, setzte sich in einiger Entfernung vom Tische auf das Fensterbrett. Für Nechljudow war nun der entscheidende Augenblick gekommen. Er hatte sich unaufhörlich Vorwürfe darüber gemacht, weil er ihr nicht sogleich beim ersten Zusammentreffen die Hauptsache gesagt hatte: daß er sie heiraten wolle, und er war fest entschlossen, es ihr jetzt zu sagen. Sie saß an der einen Seite des Tisches, während Nechljudow sich auf der andern Seite ihr gegenübersetzte. Es war hell im Zimmer, und Nechljudow sah zum erstenmal ihr Gesicht ganz deutlich in nächster Nähe, sah die feinen Fältchen um Augen und Lippen und die geschwollenen Augen. Und er empfand noch tieferes Mitleid mit ihr als bisher.

Er stützte den Ellbogen auf den Tisch und setzte sich so, daß der am Fenster sitzende Aufseher, ein Mann von jüdischem Typus und mit ergrauendem Backenbart, ihn nicht hörte, während sie ihn deutlich verstehen konnte.

»Wenn die Eingabe keinen Erfolg hat,« sagte er, »dann reichen wir ein Bittgesuch an Allerhöchster Stelle ein. Jedenfalls wird alles getan werden, was sich tun läßt.«

»Wenn vorher etwas geschehen wäre ... wenn ich einen guten Advokaten gehabt hätte ...« unterbrach sie ihn. »Aber mein Verteidiger war ein so dummes Kerlchen! Er hat mir immer nur Komplimente gesagt,« sprach sie lächelnd. »Wenn die so gewußt hätten, daß Sie ein Bekannter von mir sind, dann wäre alles anders gekommen. Aber so glauben sie eben, daß alles Diebinnen sind.«

»Wie sonderbar sie heute ist,« dachte Nechljudow und wollte ihr soeben etwas erwidern, als sie von neuem begann:

»Hören Sie mal – eins wollt' ich Ihnen noch erzählen: es ist da eine alte Frau bei uns in der Zelle, die haben wir alle so gern. Eine so liebe alte Frau, und die muß um nichts und wieder nichts sitzen, sie sowohl wie ihr Sohn; alle wissen, daß beide unschuldig sind, aber man hat sie eben wegen Brandstiftung angeklagt, und nun sitzen sie. Die Alte hat nun davon gehört, daß ich mit Ihnen bekannt bin,« sagte sie, den Kopf hin und her wendend und ihn ansehend – »und da meinte sie: ›Sag' ihm doch, er soll mal meinen Sohn herausrufen lassen, der wird ihm alles erzählen!‹ Menjschow heißen sie. Wollen Sie es tun? Eine so liebe Alte ist's, man sieht es ihr gleich an, daß sie unschuldig sitzt. Nehmen Sie sich doch der Leute an, mein Lieber!« sagte sie, ihm ins Gesicht sehend, schlug dann die Augen nieder und lächelte.

»Gut, ich will die Sache im Auge behalten,« sagte Nechljudow, der sich mehr und mehr über ihre ungezwungene Art wunderte. »Aber ich wollte mit Ihnen über meine eigene Angelegenheit sprechen. Erinnern Sie sich noch, was ich Ihnen das letztemal sagte«

»Sie haben sehr vieles gesagt. Was meinen Sie denn?« sagte sie, immer noch lächelnd und den Kopf hin und her wendend.

»Ich sagte, daß ich gekommen sei, um Sie um Verzeihung zu bitten,« sagte er.

»Ach was, Verzeihung, Verzeihung – was heißt denn das? ... Sie sollten lieber ...«

»Daß ich meine Schuld sühnen will,« fuhr Nechljudow fort, »und zwar nicht mit Worten, sondern mit der Tat. Ich will Sie heiraten.«

Ihr Gesicht nahm plötzlich einen erschrockenen Ausdruck an. Ihre schielenden Augen waren auf ihn gerichtet und schienen ihn zugleich anzusehen und an ihm vorbeizusehen.

»Was soll das nun wieder heißen?« sagte sie und runzelte finster die Stirn.

»Ich fühle mich vor Gott verpflichtet, es zu tun.«

»Was reden Sie von Gott? Alles Dinge, die nicht zur Sache gehören. Gott! Was für ein Gott? Damals hätten Sie an Gott denken sollen!« sagte sie.

Jetzt erst verspürte Nechljudow den starken Branntweingeruch, der von ihr ausging, und begriff die Ursache ihrer Erregung.

»Beruhigen Sie sich,« sagte er.

»Ich brauche mich nicht zu beruhigen. Du meinst wohl, ich sei betrunken? Gewiß bin ich betrunken, aber ich weiß sehr gut, was ich sage!« rief sie plötzlich laut und hastig und wurde dabei purpurrot im Gesichte. »Ich bin eine Zuchthäuslerin, und Sie sind ein feiner Herr, ein Fürst, und brauchen sich nicht an mir zu beschmutzen. Geh nur zu deinen Fürstinnen, ich bin eine von der Gasse!«

»Wie furchtbar das auch ist, was du sprichst – du kannst mich in meinen Entschließungen nicht erschüttern,« sagte Nechljudow leise, an allen Gliedern zitternd. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie tief ich meine Schuld dir gegenüber empfinde! ...«

»›Meine Schuld empfinde‹ ...« sagte sie, seine Worte höhnisch wiederholend. »Damals hast du nichts empfunden, sondern mir einfach hundert Rubel zugesteckt – da, soviel bist du wert! ...«

»Ich weiß, ich weiß – aber was ist da jetzt noch zu machen?« sagte Nechljudow. »Jetzt bin ich entschlossen, dich nicht im Stich zu lassen,« wiederholte er – »und was ich gesagt habe, dabei bleib' ich.«

»Und ich sage: du wirst es nicht tun!« rief sie laut und lachte hell auf.

»Katjuscha!« begann er.

»Fort von mir! Ich bin eine Zuchthäuslerin, und du bist ein Fürst und hast hier nichts zu suchen,« schrie sie mit von Zorn entstelltem Gesichte und entriß ihm ihre Hand. »Ich soll dir nur helfen, deine Seele zu retten,« fuhr sie fort, offenbar bemüht, alles auszusprechen, was in ihrem Innern gärte. »Du hast hier in diesem Leben an mir deine Lust gehabt, und willst jetzt auch im Jenseits durch mich zum Heil gelangen! Zuwider bist du mir, mit deinen kleinen Augen und deiner fetten, heidnischen Fratze! Geh, sag' ich dir, geh!« schrie sie und sprang mit einer energischen Bewegung vom Stuhl auf.

Der Aufseher trat auf beide zu.

»Was lärmst du hier so laut? Das ist nicht erlaubt ...«

»Lassen Sie sie, bitte,« sagte Nechljudow.

»Daß sie sich nur nicht vergißt!« sagte der Aufseher.

»Warten Sie, bitte, sie wird sich beruhigen,« sagte Nechljudow.

Der Aufseher begab sich nach dem Fenster zurück.

Die Maslowa setzte sich wieder, schlug die Augen nieder und preßte, um sich zu beruhigen, kräftig die Finger ihrer ineinander gekrallten kleinen Hände zusammen.

Nechljudow stand über sie gebeugt da und wußte nicht, was er tun sollte.

»Du glaubst mir nicht?« sagte er.

»Daß Sie mich heiraten werden? Nie wird das geschehen! Lieber hänge ich mich auf! Da haben Sie meine Antwort.«

»Und doch werde ich dir dienen ...«

»Das ist Ihre Sache. Ich will nichts von Ihnen haben, das können Sie mir glauben!« sagte sie. »Ach, warum bin ich damals nicht gestorben!« fügte sie hinzu und brach in klägliches Schluchzen aus.

Nechljudow konnte nicht sprechen: ihre Tränen teilten sich auch ihm mit.

Sie hob die Augen auf, sah ihn erstaunt an und wischte mit dem Zipfel ihres Kopftuches die über ihre Wangen rinnenden Tränen ab.

Der Aufseher trat abermals an sie heran und erinnerte sie, daß es höchste Zeit sei, sich zu trennen. Die Maslowa erhob sich.

»Sie sind jetzt aufgeregt,« sagte Nechljudow. »Wenn ich kann, komme ich morgen wieder her. Überlegen Sie inzwischen.«

Sie gab keine Antwort und ging, ohne ihn anzusehen, hinter dem Aufseher hinaus.

*

»Na, Mädel, nun wirst du's aber gut haben,« sagte die Korablewa zur Maslowa, als diese in die Zelle zurückkehrte. »Er scheint ja mächtig verschossen in dich! Halt dich nur dran, solange er hierher kommt. Er wird dich schon auslösen, reichen Leuten ist alles möglich.«

»Das stimmt wohl,« sagte die Bahnwärterin mit ihrer singenden Stimme. »Ein Armer hat nicht mal in der Nacht für sein Vergnügen Zeit, und ein Reicher braucht nur zu pfeifen, und alles fliegt ihm zu. Bei uns, mein Herzchen, war auch so einer ...«

»Wie ist's denn, hast du ihm von meiner Sache was gesagt?« fragte die Alte.

Doch die Maslowa antwortete den Zellengenossinnen nicht, sondern legte sich auf die Pritsche und blieb so, die schielenden Augen nach der Ecke gerichtet, bis zum Abend liegen. Eine qualvolle Arbeit vollzog sich in ihrem Innern. Das, was ihr Nechljudow gesagt hatte, rief sie in jene Welt zurück, in der sie so schwer gelitten hatte, und aus der sie, von Haß gegen sie erfüllt, entflohen war, ohne sie begriffen zu haben. Es war nun vorbei mit dem Vergessen, in dem sie gelebt hatte, und jetzt weiterzuleben, mit der klaren Erinnerung an alles das, was dereinst gewesen, war doch gar zu schmerzlich. Am Abend kaufte sie wieder Branntwein und betrank sich zusammen mit ihren Freundinnen.


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