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Eine Minute darauf trat die Maslowa durch eine Seitentür herein. Mit leisen Schritten kam sie dicht an Nechljudow heran, blieb stehen und sah zu ihm auf. Das schwarze Haar trat, wie vorgestern, in Lockenringeln unter dem Tuch hervor; das volle, weiße Gesicht hatte trotz der ungesunden Farbe doch einen anmutigen Ausdruck und war vollkommen ruhig, nur die leuchtend schwarzen, schielenden Augen strahlten zwischen den leicht angeschwollenen Lidern lebhaft glänzend hervor.
»Hier können Sie mit ihr sprechen,« sagte der Inspektor und trat zur Seite.
Nechljudow ging nach einer Bank, die an der Wand stand.
Die Maslowa sah den Hilfsinspektor an, zuckte dann wie erstaunt die Achseln und folgte Nechljudow nach der Bank.
»Ich weiß, daß es Ihnen nicht leicht wird, mir zu verzeihen,« begann Nechljudow, hielt aber sogleich wieder inne, da er fühlte, daß ihm die Tränen in die Augen stiegen. »Aber wenn ich auch das Geschehene nicht mehr gut machen kann, so will ich wenigstens jetzt alles tun, was ich vermag.«
»Wie haben Sie mich denn gefunden?« fragte sie, ohne auf das, was er sagte, einzugehen, während ihre schielenden Augen ihn ansahen und auch wieder nicht ansahen.
»Hilf mir, o mein Gott! Lehre mich, was ich tun soll!« sprach Nechljudow bei sich, während er ihre stark veränderten Züge betrachtete.
»Ich war vorgestern Geschworener,« sagte er, »als Sie verurteilt wurden. Sie haben mich nicht erkannt?«
»Nein, ich habe Sie nicht erkannt. Ich hatte andere Dinge im Kopfe, und sah auch gar nicht hin,« antwortete sie.
»Es war also ein Kind da?« fragte er und fühlte deutlich, wie sein Gesicht errötete.
»Es ist damals, Gott sei Dank, gestorben,« antwortete sie kurz und abweisend, während sie von ihm wegsah.
»Wie denn? Woran?«
»Ich war selbst sehr krank und bin beinahe gestorben,« sagte sie, ohne wieder aufzuschauen.
»Warum haben die Tanten Sie entlassen?«
»Wer wird ein Stubenmädchen mit einem Kinde behalten? Sobald sie merkten, wie es um mich stand, jagten sie mich fort. Aber was ist da noch groß zu reden – ich weiß nichts mehr, habe alles vergessen. Das alles ist für mich zu Ende.«
»Nein, es ist nicht zu Ende. Ich kann das nicht so lassen. Ich will meine Schuld wenigstens jetzt noch sühnen, soweit das möglich ist.«
»Es ist nichts zu sühnen; was war, das ist gewesen und für immer vorbei,« sagte sie, und plötzlich sah sie ihn mit einem Ausdruck an, den er am wenigsten erwartet hätte: sie lächelte, und es war etwas Klägliches und zugleich unangenehm Lockendes in ihrem Lächeln.
Die Maslowa hätte alles andere eher erwartet, als daß sie ihn wiedersehen würde, zumal jetzt und an diesem Orte, und darum war sie im ersten Augenblick durch sein Erscheinen, das sie an längst vergangene Dinge erinnerte, ganz verblüfft. Sie gedachte im ersten Augenblick unklar der wunderbaren neuen Welt von Gefühlen und Gedanken, die jener herrliche Jüngling, der sie liebte, und der auch von ihr geliebt wurde, vor ihr eröffnet hatte. Und dann gedachte sie seiner unbegreiflichen Herzlosigkeit und der langen Reihe von Demütigungen und Leiden, die auf jenes märchenhafte Glück gefolgt und aus ihm hervorgegangen waren. Und ein schmerzliches Gefühl bemächtigte sich ihrer. Doch fand sie sich noch nicht zurecht in dem Aufruhr der Empfindungen, die auf sie einstürmten, und so verfuhr sie auch jetzt so, wie sie stets verfahren war: sie drängte diese Erinnerungen mit Gewalt in sich zurück und suchte sie durch die nebelhaften Bilder ihres Lasterlebens zu verschleiern. Im ersten Augenblick hatte sie in dem vor ihr sitzenden Manne jenen Jüngling, den sie einstmals liebte, wiedererkannt, dann aber, als sie sah, wie schmerzlich dieses Wiedererkennen für sie war, hörte sie auf, jenen in diesem hier zu sehen. Der fein gekleidete, wohlgepflegte Herr mit dem parfümierten Barte, der vor ihr saß, war für sie nicht jener Nechljudow, den sie geliebt hatte, sondern nur einer von jenen, die je nach ihrem Bedürfnis sich solcher Geschöpfe, wie sie war, bedienten, und von denen solche Geschöpfe, wie sie war, möglichst große Vorteile zu ziehen versuchten. Und darum hatte sie ihn so verlockend angelächelt. Sie schwieg ein Weilchen und überlegte, wie sie ihn am besten ausnützen könnte.
»Das ist ja alles vorüber,« sagte sie. »Jetzt bin ich zu Zwangsarbeit verurteilt.«
Ihre Lippen bebten, als sie dieses schreckliche Wort aussprach.
»Ich wußte, ich war davon überzeugt, daß Sie unschuldig waren,« sagte Nechljudow.
»Gewiß war ich unschuldig. Bin ich vielleicht eine Diebin oder eine Räuberin? Man sagte mir hier, ein Advokat könne das noch gutmachen,« fuhr sie fort. »Ich solle ein Bittgesuch einreichen, riet man mir. Aber das soll viel Geld kosten ...«
»Ja, unbedingt muß das geschehen,« sagte Nechljudow. »Ich habe mich schon an einen Advokaten gewandt.«
»Er muß aber tüchtig sein, aufs Geld darf es nicht ankommen,« meinte sie.
»Ich werde alles tun, was in meinen Kräften steht.«
Sie schwiegen beide ein Weilchen, dann lächelte sie wieder wie vorher.
»Ich möchte Sie auch ... um etwas Geld bitten, wenn's möglich ist. Nicht viel ... zehn Rubel vielleicht,« sagte sie plötzlich.
»Ja, ja,« sagte Nechljudow verwirrt und wollte sein Portefeuille herausnehmen.
Sie warf einen raschen Blick nach dem Hilfsinspektor, der im Zimmer auf und ab schritt.
»Geben Sie es mir so, daß er es nicht sieht, sonst wird es mir abgenommen,« flüsterte sie.
Nechljudow zog, sobald der Beamte sich abgewandt hatte, sein Portefeuille hervor und nahm eine Zehnrubelnote heraus. Kaum hatte er das Portefeuille wieder fortgesteckt, als der Beamte sich nach ihnen umwandte. Nechljudow knüllte den Geldschein zusammen und hielt ihn so in der Hand.
»Aber das ist ja eine Tote!« dachte Nechljudow, als er dieses einstmals so liebe und jetzt so entstellte, aufgeschwemmte Gesicht und darin den bösen Glanz dieser schielenden schwarzen Augen sah, die den Hilfsinspektor und Nechljudows Hand mit dem zerknüllten Geldschein lauernd beobachteten. Und ein Augenblick des Schwankens kam über ihn.
Wiederum ließ der Versucher, der gestern in der Nacht in Nechljudows Seele gesprochen, sich in seinem Innern vernehmen – und wie immer, so suchte er auch diesmal die Frage nach dem, was geschehen müsse, umzukehren in die Frage nach dem, was für Folgen seine Handlungsweise haben könne, und welchen Nutzen sie bringe.
»Du wirst mit dieser Person nichts anfangen können,« sprach diese Stimme – »wirst dir nur einen Stein an den Hals hängen, der dich in die Tiefe hinabziehen und dich hindern wird, deinen Mitmenschen zu nützen. Gib ihr Geld, so viel, wie du da hast, nimm Abschied von ihr und laß sie für immer laufen!« ging's ihm durch den Kopf.
Doch in diesem Augenblick fühlte er, daß gerade jetzt sich in seiner Seele etwas sehr Bedeutsames vollzog, daß sein inneres Leben in diesem Moment gleichsam auf einer schwankenden Wage lag, die bei dem geringsten Druck sich nach der einen oder andern Seite neigen konnte. Und er übte diesen Druck aus, indem er jenen Gott anrief, den er gestern in seiner Seele gefühlt hatte, und dieser Gott ließ sich sogleich in seinem Innern vernehmen. Er beschloß, ihr sogleich alles zu sagen.
»Katjuscha – ich bin gekommen, um dich um Verzeihung zu bitten, und du hast mir nicht geantwortet, ob du mir verziehen hast, ob du mir jemals verzeihen wirst,« sagte er, plötzlich zum »Du« übergehend.
Sie hörte nicht auf seine Worte, sondern sah bald auf seine Hand, bald auf den Inspektor. Als der Inspektor sich abwandte, hielt sie Nechljudow rasch die Hand hin, nahm den Geldschein und steckte ihn hinter ihren Gürtel.
»Sonderbar, was Sie da reden,« sagte sie mit einem, wie ihm schien, geringschätzigen Lächeln.
Nechljudow fühlte, daß in ihrem Wesen etwas lag, das ihm geradezu feindselig gegenüberstand, das sie so zu erhalten suchte, wie sie gerade jetzt war, und ihm den Weg zu ihrem Herzen verlegte.
Seltsamerweise jedoch stieß dieses Etwas ihn nicht nur nicht ab, sondern zog ihn vielmehr mit einer neuen, ganz besonderen Kraft zu ihr hin. Er fühlte, daß er sie geistig erwecken müsse, und daß das sehr schwer sei, aber gerade die Schwierigkeit dieser Aufgabe reizte ihn. Er hatte jetzt ihr gegenüber ein Gefühl, das er früher nie, weder ihr noch sonst jemand gegenüber empfunden hatte – ein Gefühl, in dem nichts Persönliches lag: er wünschte von ihr nichts für sich, sondern wollte nur, daß sie aufhören möchte, so zu sein, wie sie jetzt war, daß sie erwachen und wieder die werden möchte, die sie früher gewesen.
»Katjuscha, warum sprichst du so? Ich kenne dich doch, ich erinnere mich deiner, wie du dort, in Panowo, warst ...«
»Warum diese alten Geschichten aufwärmen?« sagte sie trocken, während ihre Stirn sich wieder in Falten legte.
»Ich rede davon, weil ich meine Sünde wieder gutmachen und alles sühnen will, Katjuscha,« begann er und wollte ihr eben sagen, daß er sie heiraten wolle, doch da begegnete er ihrem Blicke und las darin etwas so erschreckend Grobes und Abstoßendes, daß er nicht zu Ende reden konnte.
In diesem Augenblick begannen die Besucher sich zu entfernen. Der Inspektor kam zu Nechljudow heran und sagte, die Besuchszeit sei zu Ende. Die Masiowa erhob sich und wartete gehorsam, bis man sie entlassen würde.
»Leben Sie wohl ich habe Ihnen noch vieles zu sagen, aber wie Sie sehen, ist das jetzt nicht möglich,« sagte Nechljudow und reichte ihr die Hand. »Ich komme wieder.«
»Ich meine doch, daß Sie mir alles gesagt haben ...«
Sie gab ihm die Hand, drückte jedoch die seinige nicht.
»Nein, ich will zusehen, daß ich Sie noch einmal sprechen kann, an einem Orte, wo wir uns besser aussprechen können. Ich werde Ihnen dann etwas sehr Wichtiges sagen, etwas, das ich Ihnen unbedingt sagen muß,« entgegnete Nechljudow.
»Meinetwegen, kommen Sie,« sagte sie und sah ihn mit jenem Lächeln an, das sie für die Männer bereit hatte, denen sie zu gefallen wünschte.
»Sie stehen meinem Herzen näher als eine Schwester,« sagte Nechljudow.
»Sonderbar,« sagte sie und ging kopfschüttelnd hinter das Drahtnetz zurück.